In Robert Thalheims Film AM ENDE KOMMEN TOURISTEN aus dem Jahr 2007 absolviert der deutsche Abiturient Sven Lehnert seinen Zivildienst in der Mahn- und Gedenkstätte Auschwitz in Oświęcim, einer Kleinstadt in Polen. Der Film eröffnet mit Svens Ankunft in Oświęcim und begleitet ihn bei seinen Aufgaben in der Jugendbegegnungsstätte und bei seinen Aktivitäten außerhalb der Gedenkstätte. Während seines Aufenthalts wird er mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten konfrontiert, die mit Auschwitz und Oświęcim zusammenhängen: mit dem Moralverständnis des deutschen Leiters der Jugendbegegnungsstätte, Klaus Herold, der die Jugendlichen in pädagogischen Gesprächsrunden anleitet; mit den Zukunftsvisionen der in Oświęcim geborenen Ania Lanuszewska, die für das Museum als tourist guide arbeitet, sich aber eine Perspektive außerhalb von Oświęcim wünscht; und mit den Schwierigkeiten ihres Bruder Krysztoff, der in einer örtlichen Heavy Metal Band der Leadsänger ist und kürzlich von den örtlichen Chemiewerken entlassen wurde. Im Mittelpunkt aber steht die Konfrontation mit Stanislaw Krzeminski, einem ehemaligen Häftling von Auschwitz, der auf dem Gelände der Mahn- und Gedenkstätte lebt und arbeitet und dessen Betreuung und Unterstützung zu den Aufgaben von Sven gehört. Um die Beziehung zwischen diesen beiden Figuren geht es mir in meiner nachfolgenden Überlegung zum Thema des Zeugnisses und speziell des Verhältnisses von Zeugnis-Hörendem und Zeugnis-Gebendem.
Koffer ohne Inhalt
Immer wieder tauchen in AM ENDE KOMMEN TOURISTEN Bilder von Koffern auf. Am Anfang sieht man, wie Sven seinen Koffer bei seiner Ankunft aus der Zugtür trägt. Bei seiner Besichtigung der Mahn- und Gedenkstätte betritt er in einer Szene einen Raum voller Koffer. Und Stanislaw Krzeminski arbeitet die meiste Zeit des Tages in seiner Werkstatt an Koffern, von denen man im Laufe des Films erfährt, dass sie den Selektierten in Auschwitz auf der Rampe abgenommen wurden. Mit großer Sorgfalt ersetzt er Scharniere, leimt gebrochene Leisten und kleidet die Koffer innen neu aus. Es gehört zu Svens Aufgaben innerhalb seines Zivildienstes, dass er die Koffer für Krzeminski zwischen seiner Werkstatt und dem Museum, in dem Gegenstände für die Ausstellung vorbereitet werden, hin und her fährt. In Nebensätzen wird deutlich, dass Krzeminski maßgeblich daran beteiligt war, die konservatorische Abteilung in Auschwitz nach dem zweiten Weltkrieg aufzubauen, und dass er die Arbeit an den Koffern als seine Lebensaufgabe betrachtet. Bei einem seiner Transporte bekommt Sven mit, dass die Wissenschaftler der konservatorischen Abteilung mit Krzeminskis Arbeit nicht zufrieden sind. Sie verbieten Sven sogar, weitere Koffer zu Krzeminski zu transportieren, weil dessen Methoden veraltet seien. Anstatt die Koffer technisch anspruchsvoll zu konservieren, um sie vor dem Verfall zu schützen und für die Ausstellung des Museums zu präparieren, versuche Krzeminski, die Beschädigungen der Koffer zu reparieren. „Er war eben nie auf der Universität“, urteilt einer der Wissenschaftler über Krzeminskis Arbeit.[1] Sven versucht, Krzeminski das Verschwinden der Koffer erst unter einem Vorwand zu erklären. Als er seine Enttäuschung bemerkt, bringt er das aber nicht übers Herz und beginnt dann, die Koffer für ihn zu stehlen. Nachdem die Wissenschaftler den Kofferschwund entdeckt und Sven und Krzeminski zur Rede gestellt haben, spricht Krzeminski zum ersten Mal direkt zu Sven über seine Zeit in Auschwitz:
Wir hatten nur eine Stunde, um das Gepäck, die Koffer und Dinge der Häftlinge aus der Rampe wegzubringen. Ich habe versprochen. Diese Leute, die Familien, Kinder. Dass sie die Koffer zurückbekommen.[2]
Giorgio Agamben geht bei seinen Untersuchungen zum Zeugnis in WAS VON AUSCHWITZ BLEIBT von einer Lücke aus. Dem Zeugnis wohnt ein Mangel inne, der nach Agamben mit Levis Paradoxzu erklären ist. Die Überlebenden können Zeugnis ablegen, aber nicht vollständig. Agamben hat aus den Zeugnissen Überlebender unter verschiedenen Bezeichnungen für einen kurz vor dem Tode stehenden Häftling die des „Muselmanns“ ausgewählt und verwendet diese Bezeichnung mit ihrer Spezifik, um die Figur des Zeugen zu erklären. Die wirklichen Zeugen, die den Weg bis in die Gaskammer gegangen sind, die „Muselmänner“[3], können kein Zeugnis mehr ablegen. Überlebende von Auschwitz, die wie Primo Levi Zeugnis ablegen, bezeugen demnach vor allem die Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen. Das Zeugnis der Überlebenden wird gleichzeitig zu einer Unmöglichkeit wie auch zur einzig möglichen Repräsentation, es bezeugt seine eigene Unmöglichkeit. Ihr Zeugnis „[beruht in seiner Gültigkeit] wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt“[4]. Genauer gesagt: Das Zeugnis ist eine Möglichkeit, die durch die Unmöglichkeit der Toten zu sprechen ihre Notwendigkeit begründet, und gleichzeitig eine Unmöglichkeit, die durch die Möglichkeit zu sprechen gesagt wird.[5] Auf diese fundamentale duale Struktur des Zeugnisses kommt es Agamben an. Es besteht immer eine Spaltung, nicht nur im Zeugnis selbst, sondern auch in seinem Subjekt, das erst in dieser „Differenz und Ergänzung einer Unmöglichkeit und einer Möglichkeit zu sagen“[6] konstituiert wird.
Dies bedeutet es, ‚Subjekt einer Entsubjektivierung zu sein’, deswegen ist der Zeuge – das moralische Subjekt – dasjenige Subjekt, das Zeugnis ablegt von einer Entsubjektivierung.[7]
Das Zeugnis entsteht erst durch die „Einheit-Differenz“[8] von Zeuge und Muselmann und basiert deshalb wesentlich auf einer Unzuschreibbarkeit, einer Intimität sowie einer absoluten Teilung: von Mensch – Nicht-Mensch und von Subjektivierung – Entsubjektivierung. Es entsteht eine Lücke, in der etwas übrig bleibt, eine Art Rest zwischen der Sprache und der Nicht-Sprache: „So sind die Zeugen von Auschwitz weder die Toten noch die Überlebenden, […] sondern das, was als Rest zwischen ihnen bleibt.“[9]
Agambens Denkmodell der Einheit-Differenz lässt sich bildhaft auf die Koffer übertragen. Ihnen ist ein doppelter Mangel inhärent, da sie zum einen ihre Funktion als Koffer wegen ihrer Reparaturbedürftigkeit nicht ausüben können, und ihnen zum anderen ein Besitzer fehlt, der sie benutzen kann. Darüber hinaus lässt sich das Paradox der untrennbaren Teilung auch in Krzeminskis Umgang mit den Koffern lesen. Indem er sich immer wieder mit den Koffern auseinandersetzt und sie repariert, verweist er auch immer wieder auf den Mangel, der dieser Arbeit und den Objekten innewohnt: Er kann sein Versprechen, das er den Ankommenden auf der Rampe gab, nicht einhalten, da alle Besitzer der Koffer tot sind. Trotzdem hört er nicht auf, die Koffer mit großer Mühe zu reparieren, im Versuch, das Versprechen doch noch einzuhalten. In seiner Arbeit mit den Koffern scheint sich die Einheit-Differenz von Überlebenden und Toten zu materialisieren. Die nicht zu füllende Leere in den Koffern steht einerseits für das fehlende dazugehörige Leben, andererseits für die trügerische Hoffnung Krzeminskis auf die Wiederkehr desjenigen, dem der Koffer einst gehörte. Die Unmöglichkeit sowie die Notwendigkeit, die die Grundzüge des Zeugnisses ausmachen, lassen sich von seiner Tätigkeit, die ihm das Gefühl gibt, gebraucht zu werden, bildlich ableiten. Der Anstoß für Krzeminski, die Koffer zu reparieren, geht einher mit einem fundamentalen Scheitern. Aber eben dieses Scheitern erhebt den Koffer zum Symbol einer nicht zu schließenden Lücke. Krzeminski stellt diese Lücke immer wieder her.
Eine (Nicht-)Sprache finden
Sven hilft Krzeminski aber nicht nur beim Transport der Koffer, er fährt ihn auch zu seinen Vorträgen. Dort spricht Krzeminski zum Beispiel zu Jugendgruppen oder Auszubildenden im Ort über seine Erfahrungen in Auschwitz. Außerhalb von diesen Vorträgen spricht Krzeminskis aber nicht mit Sven über das, was er in Auschwitz erlebt hat. Ein Austausch über die Vergangenheit geschieht hier eher über Umwege, zum Beispiel, als Sven Krzeminski hilft, eine Glühbirne auszuwechseln und darüber auf Krzeminskis Alter zu sprechen kommt. Der Film zeigt aber, dass es eine Art der Kommunikation gibt, die gerade vermittelt über ein Nicht-Sprechen stattfindet.
Stanislaw Krzeminski wird gebeten bei der Eröffnung des Gedenksteines für die Inhaftierten von Auschwitz-Monowitz als Zeitzeuge zu sprechen. Der Stein wurde von einer deutschen Lehrlingsgruppe des Chemiewerks Rohn Chemie errichtet. Die Szene wird mit einem kurzen Wortwechsel von Sven und Krzeminski eingeleitet, während sie aus dem Auto steigen:
Sven: „Wir sind ein bisschen spät dran. Die anderen warten schon alle.“
Krzeminski: „Sie fangen nicht ohne mich an.“[10]
Krzeminski berichtet in seinem Vortrag von den Selektionen auf dem Appellplatz von Auschwitz-Monowitz, an dessen Stelle die Einweihung stattfindet. Andrea Schneider, ein Vorstandsmitglied des Chemiewerkes, unterbricht ihn plötzlich mitten in einem Satz und fängt an, zu applaudieren. Es folgt eine Naheinstellung auf Krzeminskis Gesicht, sein Mund steht vor Erstaunen oder Fassungslosigkeit etwas offen. Dann sieht man ein kurzes Bild von den applaudierenden Zuhörern, unter ihnen Klaus Herold und Ania, die für die anwesenden Polen übersetzt hat. Darauf eine ähnliche Naheinstellung auf Svens Gesicht, dessen Gesichtsausdruck demjenigen Krzeminskis ähnelt.[11]Würde man diese beiden Einstellungen nebeneinanderlegen, würde es so anmuten, als schauten sich Krzeminski und Sven in diesem Moment an. Beide Gesichter sind in einer Starre gefangen, einer Sprachlosigkeit, der anzumerken ist, dass vor ihr oder nach ihr die Sprache wieder einsetzt. In dieser Starre könnte man einen Ansatz von Bestürzung oder Hilflosigkeit lesen. In ihrem Blick zueinander manifestiert sich die Verbindung des Erzählenden und des Hörenden, des Zeugen und seines Zuhörers. Aber paradoxerweise findet in diesem Moment die Sprache nicht statt. Sie wird vielmehr vermisst.
„Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen […] bedarf es einer zuhörenden Person, die eine Art zweiter Zeugenschaft übernimmt“[12], schreibt Ulrich Baer in seiner Einleitung zu NIEMAND ZEUGT FÜR DEN ZEUGEN. So wie nach Agamben der Zeuge und der Muselmann untrennbar miteinander verbunden sind, bilden auch Zeuge und Zuhörer eine ähnliche Einheit. Nach Dori Laub muss das Zeugnis als Akt begriffen werden, als Wissen, das erst im Prozess von Zuhören und Gehörtwerden hervorgebracht wird.[13] Dabei fungiert der Zuhörer als eine leere Fläche, auf der das Ereignis zum ersten Mal eingeschrieben wird.[14] Somit ist der Zuhörer maßgeblich an dem Hervortreten des Zeugnisses beteiligt. Dadurch, dass das Ereignis in dem Moment zwischen Erzählendem und Hörendem hervorgebracht wird, wird der Erzählende zum Zeugen und der Hörende zum Zeugen des Zeugen. Diese „zweite Zeugenschaft“[15] gibt dem Zuhörer die Gelegenheit
das von anderen erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwartbewusst zu werden.[16]
Dabei kann das Bezeugen des Zeugnisses auch eine Überforderung bedeuten:
[Deswegen] brauchen wir Texte und Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können.[17]
In AM ENDE KOMMEN TOURISTEN mutet Sven oft als Beobachter, Zuschauer oder eben Zuhörer an. Explizit zum Zeugen des Zeugen wird er in wenigen Szenen; zum einen als Teil der zuhörenden Gruppen bei Krzeminskis Zeitzeugengesprächen oder Vorträgen, zum anderen in der Szene, als Krzeminski ihm in Verbindung zu den Koffern von dem Sonderkommando berichtet, dessen Teil er war. Implizit tritt Sven aber die meiste Zeit als der Zeuge des Zeugen auf. Indem er Krzeminski durch seinen Alltag begleitet, wird er zum Zeugen dessen, was in den eindeutig historischen Zeugnissen fehlt: Nämlich der Auseinandersetzung der Überlebenden der Shoah mit ihrer Vergangenheit in der Gegenwart. Sven nimmt Anteil an Krzeminskis Vergangenheit in alltäglichen Situationen: In der Werkstatt erlebt und unterstützt er Krzeminski bei seiner täglichen Arbeit, mit dem Auto fährt er ihn zu seinen Terminen. Gleichzeitig geben die Koffer in der Werkstatt und die Lieder von Schubert, die Krzeminski im Auto hören möchte, Sven eine Ahnung von Krzeminskis Vergangenheit.
„[Der Zuhörer] sucht nach etwas nicht Vorhandenem: Er sucht nach dem Bericht, der erst noch zu geben ist. […] [Der eigentliche Akt] beginnt damit, dass jemand über etwas Abwesendes aussagt.“[18]
In der beschriebenen Szene ist Sven zunächst einer der Zuhörer. Krzeminski wird im Rahmen seines Vortrags zum Zeugen, der über die Erlebnisse in Auschwitz berichtet. Durch die Unterbrechung des Vortrags gerät das Verhältnis von Zuhörer und Erzähler aus dem Gleichgewicht und das Zeugnis bleibt ungehört. Die Einstellung auf die applaudierenden Gäste, gerahmt von den Nahaufnahmen auf Sven und Krzeminski, stellt die Frage auf: Wer kann den Berichten über die Shoah zuhören, wer spricht hier eigentlich zu wem? Die Gäste in der Szene der Einweihung machen dabei eher den Eindruck, als müssten sie zuhören. Sie bilden den Teil der Gesellschaft ab, der sich verpflichtet fühlt zuzuhören, aber nicht wirklich zuhören will. Für Krzeminski hat das Sprechen über Auschwitz immer mit einem Paradox zu tun: er gibt denen eine Stimme, die nicht mehr sprechen können. In dieser Szene kommt hinzu, dass er zu solchen spricht, die nicht zuhören können oder wollen. Er wird nicht nur durch die Toten seiner Autorität beraubt, den Einzigen, die wirklich Zeugnis abgeben könnten, sondern auch durch die Lebenden, die Menschen in der Gegenwart. Andrea Schneiders Eingriff in den Vortrag steht für die abgebrochene Kette des Bezeugens. Dadurch, dass sie Krzeminski das Wort abschneidet, nimmt sie sich die Macht zu entscheiden, wann das Zeugnis aufhört. Sie, die zunächst einmal keine andere Rolle außer dem Zuhören hat, weist dem Zeugnis Krzeminski seinen Platz zu.
Darüber hinaus steht die Szene für das Paradox nach Primo Levi: Wenn man die Situation im Sinne Agambens weiterdenkt, wird deutlich, dass sie vom Akt des Aussagens gleichsam unabtrennbar ist. In den Bildeinstellungen von Sven und Krzeminski wird über die Filmsprache Zeugnis abgelegt von einer Sprachlosigkeit, vom Nicht-Sein-Können der Sprache. Indem es diesen Anblick oder diese Starre gibt, wird etwas gesagt über das Fehlen des Zeugnisses, seine Abwesenheit. Die Sprachlosigkeit spricht, und zwar vom Verlust der Sprache. Und auch das ist ein Teil des Zeugnisses, tritt aus seiner dualen Struktur hervor.
In der Schnittfolge der beiden Einstellungen auf Sven und Krzeminski offenbart sich außerdem bildlich eine Lücke zwischen dem Zuhörenden und dem Erzählenden. Diese Lücke stellt sich in der Filmsprache als eine räumliche dar, in der zwischen den beiden Figuren die Sprachlosigkeit als müder und braver Applaus ertönt. Liest man diese Lücke auf der theoretischen Folie Agambens, wird deutlich, dass sie dem Zeugnisablegen zugehört, sogar ein wesentlicher Teil davon ist. Wie der sprechende Zeuge vom stummen Muselmann durch eine kategorische Grenze geschieden ist, so ist es auch der Zuhörer vom Zeugen. Dies äußert sich in der Notwendigkeit der Anwesenheit des Hörenden für das Hervortreten des Zeugnisses einerseits und der gleichzeitigen Unmöglichkeit, als Hörender das Bezeugte zu teilen. Er war schließlich nicht dabei und kann das auch nicht nachholen. Die beiden Bildeinstellungen, die ein Verhältnis zwischen Sven und Krzeminski in der Situation aufbauen, sind deswegen so aussagestark, weil hier ein Unvermögen dargestellt wird. Dieses Unvermögen birgt zwei Seiten: Einerseits zeigt es die Beschaffenheit des Zeugnisses, von der Unmöglichkeit Zeugnis abzulegen. Andererseits spricht es von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen, aufgrund des Verlusts der Hörenden. Nach Dori Laub ist der Hörende genauso am Akt des Zeugnisablegens beteiligt wie der Sagende. Svens Gesicht vervollständigt somit als Hörender gegenüber Krzeminski die potentielle Möglichkeit des Berichtabgebens und steht gleichzeitig für die Unzulänglichkeit des Hörenden, der niemals nachvollziehen kann, was der andere erlebt hat.
Was am Ende bleibt
Am Ende kommen Touristen: Zunächst steht der Titel des Films für die Szene an seinem Ende. Sven trifft am Bahnhof auf eine desorientierte Schülergruppe, die den Weg zur Jugendbegegnungsstätte sucht. Anstatt wie ursprünglich geplant den nächsten Zug nach Hause zu nehmen, entschließt sich Sven, die Gruppe auf ihrem Weg zur Jugendbegegnungsstätte zu begleiten. Im Bus dorthin hält der Lehrer Sven einen Monolog über dessen „Vorbildlichkeit“[19].
Auf der einen Seite steht also diese Vorbildlichkeit eines jungen Menschen, der seine Arbeitskraft für die Aufgaben der Mahn- und Gedenkstätte Auschwitz zur Verfügung stellt und der durch seine Aufgaben in diesem Rahmen zu einem Begleiter des Zeugen wird und letztendlich auch zu dessen Zuhörer. Auf der anderen Seite steht die Schulklasse stellvertretend für die Touristenmassen, die Tag für Tag durch das Lagertor mit der Aufschrift Arbeit macht frei strömen und Teil eines ‚Gedenkstättentourismus’ werden, innerhalb dessen das jeweilige Anliegen in der Menge nicht mehr auszumachen ist. Der Film vermittelt also das Bild von einem Tourismus, der bestimmten festgelegten Konventionen folgt, in denen die Besucher das Gelände begehen, fotografieren und hinterher in der ‚pädagogischen’ Sitzung mit Klaus Herold über eine Mind Map auch reflektieren können. Demgegenüber steht die individuelle Auseinandersetzung mit Auschwitz als einem Ort der Erinnerung, die bis in die Gegenwart reicht: Das Verhältnis von Sven und Krzeminski steht für eine solche singuläre Auseinandersetzung, in der Sven als Zuhörer und Begleiter in der Gegenwart von Krzeminski mit dessen Vergangenheit und Erinnerungen konfrontiert wird.
Der Titel kann also auch als Frage danach gelesen werden, wie wir uns individuell und gemeinschaftlich heute mit der Shoah auseinandersetzen. Gehören wir zu den ZuhörerInnen oder sind wir Teil der Touristen? Wenn Agamben in seiner Buchüberschrift fragt, was von Auschwitz bleibt, dann lautet Robert Thalheims Antwort zunächst: Am Ende bleiben die Touristen. Und doch kann man die ausschnitthafte Untersuchung des Paradox’ des Zeugnisses anhand der zwei Situationen zwischen Sven und Krzeminski als einen Möglichkeitsraum verstehen, in dem die singuläre Rolle über den Tourismus hinaus begriffen werden kann: als eine des Zuhörens und Gewahrwerdens. Die zu hörende Lücke im Zeugnis bezeichnet nicht nur die Nicht-Sprache in der Sprache, sondern auch die Vergangenheit in der Gegenwart. Die Vergangenheit von Auschwitz reicht dabei nicht nur in die Gegenwart von Auschwitz/Oświęcim, die Vergangenheit von Krzeminski nicht nur in die Gegenwart von Krzeminski und Sven hinein; sie reichen in alle Gegenwarten hinein. Die Shoah kann nicht als ein einzigartiger und einmaliger Fehler in der Vergangenheit betrachtet werden, die Ereignisse in Auschwitz müssen vielmehr auch als Zäsur in der Geschichte gesehen werden, von der aus alle weiteren Diskurse zu denken sind, sei es politisch, ethisch, oder auf der Ebene der Repräsentation.
Was zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.[20]
- Thalheim, Robert: Am Ende kommen Touristen, Deutschland 2007 (im Nachfolgenden: AEkT), 00:48:54.↵
- AEkT: 01:11:57.↵
- Die Figur des Muselmanns als Paradigma für den lebenden Toten und den wahren Zeugen zu wählen, ist bei genauerer Betrachtung nicht unproblematisch, wie Agamben auch am Ende des Buchs eingesteht: Es existieren viele Zeugnisse von Überlebenden, die selber während ihrer Inhaftierung physisch und psychisch im Zustand eines Muselmanns waren. Es geht mir hier aber vor allem um die Denkfigur, die Agamben als Levis Paradox bezeichnet.↵
- Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003, S. 30.↵
- Vgl. ebd., S. 127.↵
- Ebd., S. 131.↵
- Ebd., S. 132.↵
- Ebd., S. 131.↵
- Ebd., S. 143.↵
- AEkT: 00:56:10.↵
- AEkT: 00:59:32 – 00:59:40.↵
- Baer, Ulrich: „Einleitung“, in: ders. (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M. 2003, S. 15.↵
- Laub, Dori: „Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit zuzuhören“, in: Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen, S. 68.↵
- Ebd., S. 68.↵
- Baer: „Einleitung“, S. 15.↵
- Ebd., S. 18.↵
- Ebd., S. 26.↵
- Laub: „Zeugnis ablegen“, S. 68.↵
- AEkT: 01:17:40.↵
- Baer: „Einleitung“, S. 26.↵