Müllers Handschriften lesen. Ein Werkstattbericht

Die Manuskripte Heiner Müllers gleichen einem riesigem Rhizom, das zunächst unübersehbar scheint. Diese Netzwerkstruktur ist zum einen dadurch charakterisiert, dass sie weder einen „zentralen“ Zugang aufweist noch eine eindeutige Chronologie zulässt.

Zum anderen hält dieses Netzwerk gerade aus diesem Grund an jeder Stelle mannigfaltige Zugangsmöglichkeiten bereit – so zum Beispiel über ein thematisches oder sprachliches Motiv, eine Textzeile, eine Figur, den Verweis auf einen anderen Text, die Zeit der Publikation, eine Reise Müllers, einen Arbeitszusammenhang, eine Inszenierung usw. Schon an einem vergleichsweise kleinen Konvolut von Blättern, wie dem von uns exemplarisch untersuchten zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Müllers 1977 publizierten Theatertext Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei [1], wird diese rhizomatische Struktur der Manuskripte deutlich. So reichen die intertextuellen und interdisziplinären Verweise der Texte und Textentwürfe weit über das Konzentrat der Druckfassung hinaus, die in der Auseinandersetzung mit Müllers langjähriger Arbeit am Gundling-Stoff weniger als „Endfassung“ erscheint, denn vielmehr als eine mögliche Variante des Textes. In der intensiven Beschäftigung mit den Manuskripten, die insbesondere auch die Arbeit des Transkribierens erfordert, wurde außerdem deutlich, dass Müllers Handschriften neben ihrer inhaltlichen Aussagekraft auch eine hohe grafische Qualität eigen ist. Diese zeugt nicht zuletzt von der Räumlichkeit des Schreibprozesses, die wiederum mit Müllers szenischem Denken in einen höchst spannenden, produktiven Dialog zu treten scheint. Bevor ich näher auf die Eigenart der Manuskripte, die Problematik der Transkription[2] sowie auf die inhaltliche Dimension des Umgangs mit den Handschriften zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Leben Gundlings eingehe, seien zunächst Art und Umfang dieses riesigen, rhizomatisch verzweigten Konvoluts kurz umrissen.

1) Zu Art und Umfang der Manuskripte

Die gesamte Anzahl der nachgelassenen Manuskripte von eigener Hand, die im Heiner Müller-Archiv der Akademie der Künste Berlin vorliegen, beträgt nach vorsichtiger Schätzung zwischen 50.000 und 80.000 Blatt. [3] Allein zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“[4] aus Leben Gundlings finden sich 104 Blatt von unterschiedlichstem Format, darunter 75 Blatt, die unter dem Stichwort „Leben Gundlings“ katalogisiert sind, sowie 29 Blatt unter dem Stichwort „Werknotizen“.[5] Die Manuskripte zur „Lessing-Szene“ umfassen rein handschriftliche Manuskripte, reine Typoskripte sowie Typoskripte mit handschriftlicher Bearbeitung. Die Materialträger lassen sich zumeist als Papier unterschiedlichen Formats (hauptsächlich Din A4 und Din A5) sowie verschiedener Sorten kennzeichnen. So gibt es etwa karierte Blätter, grobfaseriges Papier (wie Löschpapier) und sehr dünnes, teilweise durchscheinendes Papier, das oft beidseitig beschrieben ist, wodurch die Lesbarkeit erheblich erschwert wird, besonders bei der häufig vorkommenden Benutzung von Bleistift. Weitere Materialträger sind zum Beispiel Rechnungen, Servietten, Zigarettenschachteln oder Briefe eigener und fremder Hand. Das Schreibwerkzeug variiert zwischen Schreibmaschine, Bleistift, Kugelschreiber, Füllfederhalter und Filzstift verschiedener Farben und Stärken, die teilweise neben- und übereinander gesetzt sind, so zum Beispiel auf dem Blatt „Autofriedhof“[6]. Aufgrund der beschriebenen teilweise sehr dünnen Papiersorten und des Alters der Blätter sind die Materialträger zum Teil sehr angegriffen, das Papier ist oft brüchig oder eingerissen, die Schrift verwischt oder verwischbar. Es stellt sich also nicht nur die Frage der Lesbarkeit dieser Dokumente, sondern langfristig auch der weiteren Konservierung.

2) Zur Topografie und Struktur der Manuskripte

Was beim Umgang mit den Manuskripten Müllers besonders ins Auge fällt, ist die starke grafische Gestaltung der einzelnen Blätter. Das betrifft zunächst die Textverteilung. So bestehen die Manuskripte eher selten aus einem fortlaufenden, das gesamte Blatt füllenden Text, sondern vielmehr aus verschieden großen Textblöcken oder -spalten, die in unterschiedlicher Schreibrichtung und Anordnung auf dem einzelnen Blatt verteilt sind. Dazu kommen Hinzufügungen, Streichungen, Verweise und Überarbeitungsschichten‚ die man mit einem Begriff Müllers als „Übermalungen“ bezeichnen könnte.[7] Neben den Textblöcken oder -spalten finden sich häufig kleine Zeichnungen und Anmerkungen. Schon die grafische Gestaltung und Anordnung des Textes auf dem Blatt zeigt also, dass der Vorgang des Schreibens alles andere als linear verläuft, Schreiben erscheint hier vielmehr als gedanklich weiträumiger und verzweigter Prozess. Auch stellt sich die Frage, wie Müllers grafische Auffassung der Schrift, die in seinen Manuskripten sichtbar wird, mit seinem szenischen Denken und dem Vorgang des Schreibens selbst zusammenhängt. Neben der Anordnung des Textes auf dem Blatt sind auf den Manuskripten ebenso die sprachlich nicht transkribierbaren Zeichnungen und Zeichen wie Muster, Pfeile und Korrekturzeichen zu sehen, die in jeder Druckfassung üblicher Weise getilgt sind. Diese nicht-sprachlichen Zeichen scheinen aber für die Auseinandersetzung mit Müllers Schreiben, genauso wichtig wie die semantische Information selbst. Sie lassen Umstellungen, Bezüge und die Entwicklung von Ideen, Motiven und Figuren hervortreten und zeugen häufig vom theatralen Charakter der Manuskripte. Des Weiteren ist in den handschriftlichen Manuskripten die Schreibweise der Zeichen (Striche, Pfeile und Buchstaben), der Zeichnungen und der Linienführung sichtbar: Ist etwas gleichmäßig, gerade, oder ist es ungleichmäßig, vermutlich schnell geschrieben, etwa als Notiz während einer Zugfahrt, wie zum Beispiel: „Blick aus dem DZug Dresden“[8]. Sowohl Notizen zu Reisen als auch ein bestimmtes Papier, etwa mit dem Wasserzeichen eines Hotels, aber auch Notizen auf Briefen oder Rechnungen geben Hinweise auf die mögliche Entstehungszeit eines Blattes. Die Frage der Datierbarkeit muss jedoch generell offen bleiben. Denn da die einzelnen Manuskriptblätter zumeist nicht datiert sind, ist ihre Entstehung zeitlich nicht festlegbar. Aus diesem Grund sowie der motivischen Vernetzung der einzelnen Blätter miteinander ist also auch inhaltlich keine Chronologie der Manuskripte konstruierbar. Insgesamt zeichnen sich die Manuskripte Müllers durch ihre Netzwerkstruktur aus. So wenig im allgemeinen eine Datierung der einzelnen Blätter möglich ist, so unmöglich ist es, die einzelnen Blätter einem veröffentlichten Text zuzuordnen. Vielmehr kann ein Blatt oder ein Konvolut von Blättern, das zu einem großen Teil Notizen, Szenen und Szenenentwürfe zu Leben Gundlings enthält, ebenso Notizen zu anderen Texten Müllers enthalten,etwa zu Die Hamletmaschine, Anatomie Titus Fall of Rome, Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, Der Horatier und Quartett. Zu finden sind daneben Verweise auf Texte anderer Autoren und auf unterschiedlichste Künstler (so unter anderem auf Brecht, Poussin, Max Ernst, Michelangelo, Rubens, Rembrandt, Godard, Billy Wilder, Fritz Lang), Themen, Zusammenhänge und Inszenierungen. Eine lineare Abfolge der Blätter zur „Lessing-Szene“ im Sinne einer chronologischen Re-Konstruktion der Textgenese ist auch aufgrund der Gleichzeitigkeit der disparaten Zitate, Verweise und Bezüge auf den Manuskriptblättern nicht herzustellen.

3) Zur inhaltlichen Dimension: Was erfährt man aus den Manuskripten?

Neben der grafischen Auffassung von Schrift, die in der Topografie von Müllers Handschriften zu Tage tritt, und dem prozessualen Charakter des Schreibens selbst, bleibt in den Manuskripten sichtbar und lesbar, was in der Druckfassung eines Stücks notwendig verschwunden ist. Dafür seien im Folgenden, zunächst summarisch, einige Beispiele genannt. So geben die Manuskripte zur „Lessing-Szene“ aus Leben Gundlings etwa zu lesen: „Nathan in Auschwitz“[9], Charles Manson als Präsident im Gefängnis[10], Charles Manson und Kingkong auf dem elektrischen Stuhl[11], King Kong als „letzte[r] Präsident der USA“[12], „Blumenkinder[] mit Maschinenpistolen und Wolfsmasken“ als Hofstaat und Mörder von Emilia Galotti und Lessing[13] sowie Lessing an einem Fallschirm im Kontext eines „flying nazicamp“[14]. All diese hier genannten expliziten Bezüge geben nur die Manuskripte zu lesen, nicht aber der publizierte Stücktext. Vergleicht man die Druckfassung der „Lessing-Szene“ mit den Manuskripten, lassen sich bezüglich der inhaltlichen Verschiebungen unterschiedliche Bewegungen ausmachen: Im Vergleich zu den Textfassungen der Manuskripte stellt die Druckfassung oft eine wesentliche Verdichtung und Abstraktion des Textes dar. So sind zum Beispiel im Fall des Blatts „Autofriedhof“[15] die Platzierung des Textes, die diversen Einfügungen, Streichungen, Umstellungen und Überschreibungen, mithin die Arbeits- oder Textschichten in der Druckfassung des Stücktextes nicht mehr sichtbar. Des Weiteren lassen sich Bewegungen der Dekontextualisierung feststellen. So sind Kontexte, die in den Manuskripten vorhanden sind, im gedruckten Text verschwunden. Als Beispiel ist der explizite Zusammenhang von Krieg und Nationalsozialismus mit der „Lessing“-Figur auf dem bereits genannten Blatt „Autofriedhof“ zu nennen. Ein weiterer Punkt, der die Bewegung von Manuskripttexten zum Drucktext häufig kennzeichnet, ist die Anonymisierung. So wird aus „King Kong“ oder „Ch. Manson“ im Gefängnis beziehungsweise auf dem elektrischen Stuhl in der Druckfassung der „Lessing-Szene“ nur mehr anonym der „LETZTE[] PRÄSIDENT[] DER USA“. Auf dem elektrischen Stuhl sitzt hier „ein Roboter ohne Gesicht“.[16] Nicht zuletzt zeigen die Manuskripte natürlich auch, was die Druckfassung unsichtbar macht: das Verhältnis von Hand und Schrift, Körper und Schrift – die Körperlichkeit der Schrift, das Schreiben als ‚Handarbeit’. Ohne an dieser Stelle schnelle Schlussfolgerungen formulieren oder Bewertungen vornehmen zu wollen, seien nachfolgend einige Beispiele für Erfahrungen im Umgang mit den Manuskripten zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Leben Gundlings skizziert.

a) Schichten, Verdichtung, Dekontextualisierung Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394)

Bei dem bereits zitierten Blatt „Autofriedhof“ aus Signatur 3394 handelt es sich um ein handschriftliches Manuskript auf einem einseitig, mit verschiedenen Stiften beschriebenen Din A4-Blatt. Die Manuskriptseite steht in direktem Bezug zum 2. Abschnitt der Druckfassung der „Lessing-Szene“ aus Leben Gundlings. Der Wortlaut des abschließenden Textblocks lautet dort:

STIMME (+ PROJEKTION) STUNDE DER WEISSGLUT TOTE BÜFFEL AUS DEN CANONS GESCHWADER VON HAIEN ZÄHNE AUS SCHWARZEM LICHT DIE ALLIGA- TOREN MEINE FREUNDE GRAMMATIK DER ERDBEBEN HOCHZEIT VON FEUER UND WAS- SER MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH LAU- TREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLAN- TIS SOHN DER TOTEN[17]

Alle Motive dieser acht Zeilen der Druckfassung sind auch auf dem Manuskriptblatt vorhanden. Zudem sind dort jedoch mehrere Bearbeitungsschichten sichtbar, deutlich durch die Benutzung verschiedener Stifte, die Platzierung des Textes (so z.B. der Schrift am linken Rand von „morning red“ bis „der brennt“), Einfügungs- und Korrekturzeichen, Umstellungen (durch Nummerierung) oder Überschreiben von Text (wie rechts: „Die Sümpfe / ersteigen die / Highways“, was mit Filzstift über „ways sind / für euch“ geschrieben ist). Die Benutzung unterschiedlicher Stifte verweist auch auf die Zeitschichten der Arbeit am Text. Im Verhältnis zur Druckfassung werden die genannten Motive auf dem Manuskriptblatt zusätzlich kontextualisiert – so zum Beispiel mit der Assoziation von Krieg und Nationalsozialismus („flying nazicamp“), was ein anderes Licht auf den in der Druckfassung wesentlich abstrakteren Textabschnitt wirft. Des Weiteren gibt es Zusammenziehungen: „Maldoror / Lautr. Fürst v. Atlantis Sohn der Toten“ in der Manuskriptfassung wird zu: „LAU- / TREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLAN- / TIS SOHN DER TOTEN“[18] in der Druckfassung. Der Text erfährt insgesamt in seiner Genese eine extreme Verdichtung und teilweise Dekontextualisierung. Mit Blick aufs Theater stellt sich hier auch die Frage nach dem Status des Textes, dessen Blockform und der Anonymität der Stimme, vor allem im Vergleich mit den in der Druckfassung der Szene vorausgehenden Zitaten aus Lessings Stücken Emilia Galotti und Nathan der Weise – zitiert werden ausschnittweise die letzte Rede Emilias sowie der „Schluß der Ringparabel“, die „gleichzeitig“ von „NATHAN rezitiert“[19] werden soll.

b) Abstraktion und Anonymisierung Blatt „Freunde reden lautlos“ (3393) im Vergleich mit Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394)

Vergleicht man das vorgenannte Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394) mit dem ebenfalls handschriftlichen, beidseitig beschriebenen Manuskriptblatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393), ergibt sich eine Verschiebung von Textstatus und Figurenauftritt. Der in der Druckfassung extrem verdichtete Text – „STUNDE DER WEISSGLUT […]“[20] – ist hier parallel gesetzt zum Text der ‚Lessing’-Rede aus dieser Szene21 und tritt somit zu dieser in einen direkten Bezug. Auf dem Manuskriptblatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393) wird der vorzitierte Text – „STUNDE DER WEISSGLUT […]“[21] – mit einer Szene kontextualisiert, in der eine Figur namens „Lessing“ versucht, „Freunde“ abzuwehren, die „lautlos“ auf ihn einreden, ihn geradezu interviewen zu wollen scheinen: „Herr L. was halten Sie von / Lessing, was ist Ihre Meinung zu / halten Sie für repräsentativ“. Links von diesem Text, das Blatt ist in zwei Spalten eingeteilt, wie als Reaktion auf die Fragen der „lautlos[en]“ Redner: „Ich habe nichts zu schaffen mit / eurem Paradies für Dauerredner“. Unter dieser Szene beginnt der Text der apokalyptischen Szenerie, die Müller auch auf dem Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394) malt. Hier jedoch in direktem Kontekt mit der „Lessing“-Figur, so dass der Text sich als Rede dieser Figur liest:

Die Alligatoren, m. Fr[eunde?]
Geschwader v. Haien (mit)
Zähnen aus weißem (Stahl)
(Licht)
tote Büffel aus den Canons
Grammatik der Erdbeben
das Schweigen der Tornados
Hurrikans[22]

Die Druckfassung hingegen scheint den Text wesentlich von einem figuralen Sprecher zu abstrahieren, wenn sie ihn gleichsam anonym mit „STIMME (+ PROJEKTION)“[23] überschreibt.

c) Abstraktion und Problematik des Namens bzw. Sprechens im Namen von… Blatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393)

Auf die Problematik des Namens oder des Sprechens im Namen von wird auf dem Blatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393) auch noch in einem weiteren Kontext verwiesen. Auf dem Manuskriptblatt heißt es:

Kellner stellen Büsten auf (Homer.
→ Brecht —————————-

Im Zusammenhang dieser Herrichtung der Bühne zu Beginn der ‚Lessing-Szene’ werden an anderer Stelle noch weitere Namen genannt: „Büsten (Aristot. Homer Horaz Shakesp.)“[24]. In der Druckfassung der Szene fällt in diesem Zusammenhang jede Namensnennung weg. Stattdessen heißt es dort, weniger konkret: „während Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen.“[25] Die Büsten bleiben anonym. Namentlich erwähnt werden hier nur „Leisewitz“ (als Autor eines Zitats über Lessing), Friedrich II. (als Benennung eines Zeitalters), Lessings dramatische Figuren „Emilia“ und „Nathan“, die auch als Sprecher auftreten sowie eine Figur namens „Lessing“, die, so der szenische Nebentext, von Kellnern in Schutzhelmen eine „Lessingbüste“ aufgesetzt bekommt.[26] Als Sprecher tritt dieser „Lessing“ jedoch nicht in Erscheinung. Vielmehr wird er durch die Rede eines „SCHAUSPIELER[S]“ figuriert, der die Rede ‚Lessings’ zu übernehmen scheint. Diese Rede wird jedoch gleichzeitig wieder als Zitat ausgewiesen, denn der „SCHAUSPIELER liest“ das Sprechen im Namen von „Lessing“: „Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing.“ [27] Dadurch ist das Sprechen im Namen von… (einer anderen Person, einer historischen Person, einer fiktiven Figur) in doppelter Weise als fiktionaler Vorgang ausgestellt: Zum einen wird das Sprechen im Namen von „Lessing“ durch den Schauspieler als entwendete Rede markiert, indem er, der offenbar nicht Lessing ist – was durch den vorangehenden Vorgang des Schminkens und Kostümanlegens („Lessingmaske“[28]) markiert ist –, vorgibt, den Namen „Gotthold Ephraim Lessing[s]“[29] zu tragen. Zum anderen wird das Sprechen des „SCHAUSPIELER[S]“ explizit als Lesen eines Textes ausgewiesen, wodurch der Vorgang des Sprechens ausdrücklich keine ‚authentische’ Rede vortäuscht. Inwiefern der hier genannte „SCHAUSPIELER“ wiederum kein Schauspieler, sondern im Kontext des Stücks selbst eine fiktive Figur ist, wäre weiter zu fragen. Der Vorgang der Abstraktion, der sich im Wegfall von Namen kennzeichnet und im Kontext der „Lessing-Szene“ auf diesen Manuskriptblättern auf die Problematik des Namens beziehungsweise des Sprechens im Namen von… verweist, erscheint bei der Beschäftigung mit den Manuskripten Müllers zu Leben Gundlings beinahe als typischer Vorgang der Genese des Stücks. Durch die Fokussierung auf die – in mannigfachen Weisen auftretende – „Lessing“-Figur, der jedoch selbst keine explizite Rede zuzukommen scheint (so die Druckfassung der Szene), fragt das Stück nicht nur nach der Möglichkeit des theatralen Sprechens, sondern auch nach den historischen Schichten der Figuration („Lessings“) und damit auch nach der Gegenwart des Theaters. „Lessing“ spricht nicht (mehr).

d) Abstraktion und Figurenstatus Blatt „APOTHEOSE SPARTALUS EIN FRAGMENT“ (Sign. 3395)

Unter der Signatur 3395 findet sich ein Typoskript-Blatt mit handschriftlicher Bearbeitung im Format Din A4, das im Vergleich zur Druckfassung ebenfalls auf einen Vorgang der Abstraktion im Verlauf der Stückentwicklung verweist. Die Druckfassung des entsprechenden Textes lautet:

PROJEKTION
APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT
Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt.
Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind,
schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen,
während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von
Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im
Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun
in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste,
die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien,
macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu be-
frein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei.
Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbe-
suchern)[30]

Im Vergleich zur Druckfassung der Szene gibt das Typoskript zu lesen, dass „Theaterbesucher in Ges.[ellschafts]anzügen“ die Stelle der „Bühnenarbeiter“ einnehmen und die Arbeit verrichten. Die handschriftliche Überarbeitung zeigt hier die Entwicklung der Idee, dass „Bühnenarbeiter“ „als Th[eater]b[esucher] kostümiert“ sind (handschriftlich auf dem Manuskript links, während „Bühnenarbeiter“ handschriftlich durchgestrichen ist).[31] Der Schluss des Typoskripts lautet: „Applaus von (Theaterbesuchern) und Kellnern“, während über „Theaterbesuchern“ handschriftlich „Bühnenarb.“ geschrieben steht. Was sich hier alternativ liest, verschiebt seinen Sinn, wenn es in der Druckfassung heißt: „Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern)“ (S. 37). Aus der Entwicklung von Alternativen wird vielmehr eine Aufzählung, wodurch der Status der Figur(en) mehr und mehr unklar oder unsicher wird und der Text zusätzlich eine Abstraktion erfährt.

e) Kontextualisierung, Zitation, Intertextualität und Hinweis auf mögliche Entstehungszeit Blatt „Schauspieler wird geschminkt (Lessingmaske)“ (Sign. 3394)

Das Din A4-formatige Typoskript mit handschriftlicher Bearbeitung zeigt, wie durch Korrektur ein Zitat beziehungsweise ein direkter Verweis auf einen anderen Text Müllers entsteht, der ungefähr zur selben Zeit geschrieben wurde wie Leben Gundlings: Die Hamletmaschine[32]. Zunächst heißt es im Typoskript:

[…] Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen
Pulsadern Die Frau mit der Überdosis weißer Schaum auf den
zersprungenen Lippen Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.

Dann wird „weißer Schaum“ gestrichen und handschriftlich korrigiert zu „Schnee“. Das Wort „zersprungenen“ wird getilgt, genauso wie die handschriftlich darüber notierte Alternative „bissenen“, so dass es nun heißt:

[…] Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen
Pulsadern Die Frau mit der Überdosis Schnee auf den
Lippen Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.

In der Druckfassung der „Lessing-Szene“ in Leben Gundlings lautet diese Passage: Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.[33] Der Text wird hier dem „SCHAUSPIELER“ zugeschrieben, der den Text liest, der vorgibt, im Namen von „Gotthold Ephraim Lessing“[34] zu sprechen. Die wortgleiche Formulierung findet sich im zweiten Abschnitt der Hamletmaschine („DAS EUROPA DER FRAU“). Im Verlauf des Schreibprozesses von Leben Gundlings entsteht also ein direkter Verweis der beiden Texte aufeinander. Hier wird der Text einer Sprechfigur namens „OPHELIA (CHOR/HAMLET)“ zugeschrieben, die wiederum vorgibt, im Namen der fiktiven Figur „Ophelia“ zu sprechen:

OPHELIA (CHOR / HAMLET) Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.[35]

Die zitierten Passagen verweisen ebenso auf Müllers Text Todesanzeige[36], indem sie die dortige Aufzählung der Todesarten und das Motiv des Suizids aufgreifen und sprachlich bearbeiten.

Transkription – und kein Ende…

Transkribieren von Manuskripten heißt eine Handschrift zu entziffern und lesbar werden zu lassen. Dies wiederum bedeutet, den Prozess des Schreibens als solchen sichtbar zu machen – der sich im Fall von Leben Gundlings über lange Jahre erstreckt, wie aus dem Konvolut der Manuskripte hervorgeht.[37] Im Verlauf der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Müllers Handschriften stellte sich heraus, dass vor allem eine große Sensibilität im Umgang mit unsicheren Textstellen erforderlich ist, um nicht zu vorschnellen Ergänzungen im Sinne der Herstellung eines ‚vollständigen’ Transkriptionstextes zu kommen. Eine solche scheint mir, auch im Hinblick auf das teilweise sehr angegriffene Material beziehungsweise die erschwerte Lesbarkeit ganzer Blätter (etwa durch den Durchschlag einer Schrift auf beidseitig beschriebenem extrem dünnem oder porösem Papier oder die Benutzung von Bleistift auf durchscheinendem Untergrund), unmöglich und auch nicht erstrebenswert. Vielmehr geht es bei der Transkription der Manuskripte Müllers um einen möglichst genauen Lesevorgang und ein immer-wieder-von-neuem-Lesen, was insbesondere durch einen gemeinsamen Lektüreprozess befördert werden kann.
Als sinnvoll für ein Prinzip der Transkription haben sich drei Kriterien erwiesen: 1) die Buchstäblichkeit der Transkription, 2) die Vermeidung von vorschnellem oder interpretatorischem Ergänzen von Auslassungen oder Abkürzungen Müllers – wie „F2“ = Friedrich II., oder „MK“ = Michael Kohlhaas – und 3) das durchgängige Markieren von unsicheren oder unlesbaren Stellen. Aufgrund all dieser genannten Umstände ist die Beschäftigung mit Müllers Manuskripten und deren Transkription ein unabschließbarer Prozess, bei dem, genau wie in den Manuskripttexten selbst, stets neue Motive heraustreten, sich übereinander schieben und wieder verschwinden, ein Prozess also, der mit einem ständigen Perspektivwechsel der Lektüre konfrontiert, in dem sich immer wieder neue Fragen stellen, vor allem die für Heiner Müller so wichtigen nach dem Status des Textes und der Figur.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen. Erstveröffentlichung: Berlin: Henschel Verlag (Reihe dialog), 1977; UA: Schauspiel Frankfurt/M., 1979.
  2. Die im Kontext unserer Diskussion angefertigten Transkriptionen beanspruchen keineswegs Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit, sondern geben einen vorläufigen Arbeitsstand wieder.
  3. Für diese und viele weitere kenntnisreiche Auskünfte sowie die gemeinsame Lektüre geht mein herzlicher Dank an Julia Bernhard, an deren Methode der Transkription meine Arbeit anschließt. Vgl. die zweisprachige Publikation: Heiner Müller, Manuscrits de „Hamlet­Machine“. Transcription de Julia Bernhard. Traduit de l’allemand par Jean Jourdheuil et Heinz Schwarzinger. Paris: Les Éditions de Minuit, 2003.
  4. Im Folgenden kurz: „Lessing­Szene“. Die Druckfassung des Stücks wird nachfolgend zitiert nach der Ausgabe bei Rotbuch: Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen. In: Ders., Herzstück. Texte. Bd. 7. Berlin: Rotbuch, 1983, S. 9­42.
  5. Vgl. Augias­Katalog des Heiner Müller­Archivs der Akademie der Künste Berlin (HMA). Die hier genannte Anzahl der Manuskriptblätter mit direktem Bezug zur ‚Lessing­Szene’ gibt zunächst nur unsere Recherchen, d.h. einen Arbeitsstand wieder, nicht den Stand des Katalogs. Die Blätter sind nicht einzeln katalogisiert und daher auch nicht gezählt. So finden sich teilweise unter einer dem Stichwort „Leben Gundlings“ zugeordneten Signatur (so z.B. der Sign. 3394) zahlreiche Blätter, die in engerem oder weiteren Zusammenhang mit der Entstehung des Gundling­Stücks stehen. Um diese einzelnen Blätter, die unter derselben Signatur katalogisiert sind, identifizierbar zu machen, schlage ich vorläufig die folgende Zitierweise vor: Angabe der Signatur (HMA) + Zitat des Textbeginns in der hauptsächlichen Schreibrichtung des jeweiligen Blattes.
  6. Heiner Müller­Archiv der Akademie der Künste Berlin (HMA), Sign. 3394. Zitate der Manuskripte im Folgenden mit Angabe von Signatur und Benennung des Blatts (vgl. Fußnote 5).
  7. Zum Begriff der „Übermalung“ vgl. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Ders., Shakespeare Factory I. Texte. Bd. 8, Berlin: Rotbuch, 1985, S. 7­14 (hier: S. 14).
  8. HMASign. 3392, Blatt „et in arcadia ego: die / Inspektion“.
  9. HMA 3394, Blatt „Apotheose looks“.
  10. HMA 3394, Blatt „(scape­goal)“.
  11. HMA 3394, Blatt „Autofriedhof“
  12. HMA 3394, Blatt „Proj. Aus dem Preußen des zweiten Friedrich“.
  13. Ebd., vgl. auch HMA 3394, Blatt „Apotheose looks“; Einfügungen in eckigen Klammern: C.S.
  14. HMA 3394, Blatt „Autofriedhof“.
  15. HMA 3394.
  16. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 35.
  17. Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. A.a.O., S. 36. Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe nach dieser Ausgabe (vgl. Fußnote 4).
  18. Ebd.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Ebd., S. 36.
  22. Blatt „Freunde reden lautlos“ (HMA 3393), Einfügung in eckigen Klammern: C.S.
  23. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36.
  24. HMA. 3394, Blatt „Schauspieler wird geschminkt (Lessingmaske)“, Typoskript mit handschriftlicher Überarbeitung.
  25. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36.
  26. Ebd., S. 34ff.
  27. Ebd., S. 34.
  28. Ebd.
  29. Ebd.
  30. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36f., Unterstreichung: C.S.
  31. Einfügungen in eckigen Klammern: C.S.
  32. Heiner Müller, Die Hamletmaschine. Erstveröffentlichung im Programmheft Ödipus, MünchnerKammerspiele 1977, UA: Théâtre Gérard Philipe, Saint­Denis, 1979, DEA: Schauspiel Essen, 1979.
  33. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 34.
  34. Ebd.
  35. Heiner Müller, Die Hamletmaschine. In: Ders., Mauser. Texte. Bd. 6. Berlin: Rotbuch, 1978, S. 89­97, hier: S. 91.
  36. Heiner Müller, Todesanzeige. In: Ders., Germania Tod in Berlin. Texte. Bd. 5. Berlin: Rotbuch, 1977, S. 31­34.
  37. Mit Bezug auf die langjährige konkrete Arbeit an den Texten und Motiven Leben Gundlings kann deshalb keineswegs die Rede davon sein, dass das Stück „1976 geschrieben“ wurde oder „1976/77 entstanden“ sei, wie es in Quellenangaben der vorliegenden Ausgaben oder der Sekundärliteratur zumeist suggeriert wird.
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