Miszelle | Theater und Pandemie. Über die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf das Theater

Als Ort der Versammlung lebt das Theater in erster Linie von der Zusammenkunft verschiedener Menschen, von der gemeinsamen Anwesenheit von Körpern im Raum. Es geht nicht nur um das, was auf der Bühne stattfindet, sondern auch um Gemeinschaft, Zusammenkommen und Austausch. Während der COVID-19 Pandemie wird genau dieser Umstand zum Problem: Das Theater gilt als potentieller Ansteckungsherd. Daher wird es mit Maßnahmen des geltenden Infektionsschutzgesetzes belegt, aus denen sich wiederum Schwierigkeiten für den Arbeitsalltag der Theaterschaffenden ergeben. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher untersucht werden, um darüber nachzudenken, was weiter gefasste Hintergründe des Umstandes sein können, dass viele Theater während der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie in Deutschland (in der strengsten Phase im März und April 2020 sowie danach) über das Streaming von vergangenen Aufführungen hinaus kaum Alternativen angeboten haben. Abschließend soll eine Arbeit vorgestellt werden, die einen gelungenen Versuch darstellt, mit der Situation auf eine alternative Art und Weise umzugehen. Der Text ist mit einigem zeitlichen Abstand zu der Phase der strengeren kontaktbeschränkenden Maßnahmen im Juli 2020 entstanden und beleuchtet diese Zeit rückblickend in einer Phase, in der der Spiel- und Probenbetrieb an den Theatern und für Theaterschaffende unter Auflagen aktuell zunächst wieder möglich war. Es bleibt abzuwarten, welche Lehren für die erneute Unterbrechung des Proben- und Spielalltags an den Theatern aus dieser Zeit gezogen werden.

Der Ansteckungsdiskurs

Das Theater zeichnet sich durch eine eigensinnige Doppelseitigkeit aus. Geht es auf der einen Seite um Reinigung im Sinne der Katharsis, so kann es auf der anderen Seite als Ansteckungsherd verstanden werden. Eigentlich ein Begriff aus der Medizin, wird in der Theaterforschung seit einigen Jahren die Ansteckung als ästhetisches Phänomen diskutiert: Es geht um die rezeptionsästhetische Wirkung, die das Bühnengeschehen auf die Betrachtenden hat, nicht so sehr im Sinne „des lateinischen Verbums inficere (adql), das ‚vergiften‘, ‚verpesten‘ und ‚beflecken‘, kurz die ‚Entweihung durch Berührung‘ meint“, als vielmehr im Sinne „eines funkenschlagenden, sich rasch von Körper zu Körper übertragenden Kontakts; das, was sich im lateinischen afficere ankündigt und so viel wie ‚anrühren‘, ‚anstecken‘ und ‚berühren‘ bedeutet“.[1] In diesen Diskurs lässt sich auch Antonin Artauds Text Das Theater und die Pest einordnen, in dem dieser die Pest-Epidemie als Metapher für die Wirksamkeit des Theaters benutzt: „Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet.“[2] Diese Einordnung Artauds in den Ansteckungsdiskurs nimmt auch Matthias Warstat vor, der vor allem darauf hinweist, dass bei Artaud „die Krise, die das Theater sein soll, […] sich – wie eine Epidemie – auf dem Wege der Ansteckung [verbreitet]“ und dass Artaud diese Ansteckung als unberechenbar und vor allem „nicht an materielle oder unmittelbare Kontakte gebunden“ beschreibt.[3] Bei Artaud heißt es:

Ich glaube, man kann sich einig werden über die Vorstellung einer Krankheit, die eine Art psychische Wesenheit wäre und nicht verursacht durch einen Virus. Wenn man alle Fälle von Pestansteckungen […] einer genauen Untersuchung unterziehen wollte, würde man schwerlich einen einzigen wirklich erwiesenen Fall von Ansteckung durch Berührung feststellen können.[4]

Würden wir nun Artauds Behauptung einfach folgen und die Analogie von Pest und Theater auf eine Analogie von Theater und jegliche Ansteckungen erweitern, so bestünde wohl kein Grund dazu, die Theater zu schließen oder sie mit strengen Auflagen zu belegen, denn die Krankheit verbreitet sich nach Artaud eben nicht über Nähe und Berührung, sondern auf eine willkürliche Art, die sich der analytischen Nachvollziehbarkeit entzieht: „Niemand kann sagen, warum die Pest den Feigling erwischt, der sich aus dem Staube macht, und den Wüstling verschont, der sich an Leichen befriedigt. Warum Evakuierung, Keuschheit und Einsamkeit machtlos sind wider das Befallenwerden von der Geißel.“[5]

Über die Maßnahme

Nun steht es außer Frage, dass Artauds Behauptung medizinisch nicht haltbar ist, jedoch stellt das aktuelle Pandemie-Geschehen die Wissenschaft vor einige Fragen, in denen Artauds Ausführungen widerhallen: Warum gibt es sog. Superspreader, die eine große Anzahl von Menschen anstecken, aber ebenso Menschen, die das Virus in sich haben, aber nicht weitertragen? Welche Rolle spielen dabei die Viruslast, die die Art der Aussprache oder der Zeitpunkt der Infektion? Trotz dieser Unklarheiten bleibt eine ganz einfache Deutung des Theaters als Ansteckungsherd bestehen, in medizinisch-wissenschaftlichem Widerspruch zu Artaud: eben doch jene, die auf ganz physische Art und Weise die Verbreitung von Bakterien und Viren ermöglicht. Dies hängt vor allem mit der örtlichen Gebundenheit der Theaterformen zusammen, bei denen sich zu einer bestimmten Zeit für eine gewisse Dauer viele Menschen an einem Ort versammeln. Durch diese Eigenschaft der Ortsgebundenheit ist auch das Theater von den im Infektionsschutzgesetz festgelegten Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie betroffen, die in den vergangenen Wochen den gängigen Spiel- und Probenbetrieb der Theaterstätten und -schaffenden auf unbestimmte Zeit unterbrachen bzw. diesen seit den Lockerungen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus weiterhin einschränken. Der Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 13. März 2020 zur Durchführung von Veranstaltungen unter Bezugnahme auf §28 in Verbindung mit §16 des Infektionsschutzgesetzes lautet wie folgt:

Aufgrund aktueller Entwicklungen und Erkenntnislagen, insbesondere der stark zunehmenden Ausbreitung von SARS-CoV-2, ist grundsätzlich auch in den Fällen von Veranstaltungen unter 1.000 erwarteten Besuchern/Teilnehmern davon auszugehen, dass keine Schutzmaßnahmen getroffen werden können, die gleich effektiv aber weniger eingriffsintensiv sind, als die Veranstaltung nicht durchzuführen. Das Auswahlermessen der zuständigen Behörden reduziert sich damit regelmäßig dahingehend, dass nur die Absage oder zeitliche Verschiebung bis zur Änderung der Gefährdungslage und Aufhebung der angeordneten Maßnahmen in Betracht kommt. Ausgenommen hiervon sind notwendige Veranstaltungen, insbesondere solche, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung […] zu dienen bestimmt sind.[6]

Mit Blick auf den Erlass fällt auf, wie häufig der Begriff der Maßnahme hier sowie im Infektionsschutzgesetz, das die Maßnahmen zur Eindämmung einer weiteren und schwerwiegenden Ausbreitung von Infektionskrankheiten festlegt, auftaucht. Der Begriff der Maßnahme war besonders in der Zeit zwischen den Weltkriegen in der Weimarer Republik prominent. So besagte der Artikel 48 der Weimarer Verfassung, dass „der Reichspräsident […] wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen [kann].“[7] Hier, aber auch durch die Tatsache, dass Maßnahmen nach wie vor von den jeweiligen (Landes-)Regierungen beschlossen werden und Verstöße Folgen nach sich ziehen, wird deutlich, dass Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit staatlicher Macht stehen.

Dies wird im Zuge des aktuellen Pandemie-Geschehens in eigentümlicher und überraschender Weise sichtbar. Mit Foucault ging man bisher doch eigentlich davon aus, dass die nationalstaatliche Macht an Bedeutung verloren habe, wie er anhand dreier Denkmodelle, „mit denen das Regieren angesichts einer ‚Seuche‘ besser verstanden werden kann“, herausgearbeitet hat.[8] Bei diesen drei Modellen handelt es sich um das Pest-, das Lepra- und das Pockenmodell, die die jeweiligen Maßnahmen einer Regierung im Umgang mit den verschiedenen Infektionskrankheiten und damit verschiedene Formen des Regierens verdeutlichen sollen. In der 1961 publizierten Schrift Wahnsinn und Gesellschaft[9] erläutert Foucault den räumlichen Ausschluss von (Lepra-)Kranken aus der Stadt gegen Ende des Mittelalters als Maßnahme der Regierung zur Bekämpfung dieser Infektionskrankheit. In Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses[10] von 1975 beschreibt Foucault dann, wie sich in der frühen Neuzeit, als sich die Angst vor der Pest verbreitete, die Disziplinarmacht als Regierungsmodell herausbildet, die sich durch Maßnahmen der lückenlosen Überwachung und Kontrolle auszeichnet und „für die ‚die Pest (jedenfalls die zu erwartende) die Probe auf die ideale Ausübung […]‘ ist“ [11]. In den unter dem Titel Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung[12] erschienenen Vorlesungen am Collège de France von 1977–78 arbeitet Foucault dann heraus, dass die moderne Gouvernementalität den Traum der Macht durch Kontrolle und Überwachen aufgegeben und Wege gesucht hat, die „Seuchen“ in die Gesellschaft zu integrieren, ihrer mit Studien habhaft zu werden und sie mit Mitteln wie der Impfung einzudämmen. Es geht hierbei also nicht mehr darum, durch drastische Maßnahmen Souveränität zu demonstrieren, wie etwa noch im Pestmodell, sondern um die Steuerung des Verhaltens der Einzelnen.

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz erörtert Philipp Sarasin, wie Foucaults Ansatz unreflektiert dazu führen kann, kritische Positionen gegenüber den COVID-19 Maßnahmen der Regierung(en) zu schüren, wie sie bei den sich immer wieder formierenden ‚Hygiene-Demonstrationen‘ zur Äußerung gebracht werden. Die Teilnehmer*innen dieser Veranstaltungen klagen die Einschränkung einiger in den Grundrechten verankerter Gesetze zugunsten der Gesundheit aller an und verwechseln, auf Foucault bezogen, hier ganz einfach die mit dem Pestmodell drohende Überwachung und Kontrolle mit dem liberalen Pockenmodell, dem die derzeitigen Maßnahmen entsprechen. Nicht ohne zu bemerken, dass die Maßnahmen des Pestmodells sowie auch das Lepramodell immer drohen und auch Übergänge zwischen den einzelnen Modellen möglich sind, weist Sarasin auf das Folgende hin:

Überhaupt gehört die Aufforderung, die Regeln etwa des ‚social distancing‘ einzuhalten, zweifellos in den Bereich der liberalen Regierungstechniken, die grundsätzlich auf der Freiheit der Individuen beruhen und von dieser Freiheit auszugehen haben. Für sich selbst zu sorgen, sich zu schützen, aber auch, wie gegenwärtig vielfach zu beobachten, sich nachbarschaftlich oder sonst solidarisch zu organisieren, sind Selbsttechniken, die die liberale Kontur des Pockenmodells mit dem konkreten Stoff gesellschaftlicher Selbstorganisation füllen.[13]

Der vorliegende Text möchte aber nicht die angesichts der COVID-19 Pandemie getroffenen Maßnahmen, sondern deren Effekt für und die Reaktion auf selbige durch die Theater erörtern. Deshalb lohnt ein Blick auf eine weitere Eigenschaft der Maßnahme an sich, die schon Carl Schmitt bemerkte und die heute noch Gültigkeit hat: „Die Eigenart der Maßnahme aber besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. […] Ihr Maß, d.h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall nach Lage der Sache.“[14] Diese Aussage lässt sich dahingehend erweitern, dass sich daraus auch eine zeitliche Unbeschränktheit der Maßnahme in solchen Fällen ergibt, in denen unklar ist, wie lange die Lage der Sache andauern wird, wie etwa im Falle einer Pandemie. Dies zeigt sich auch im obigen Auszug aus dem Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, wenn es heißt, „dass nur die Absage oder zeitliche Verschiebung bis zur Änderung der Gefährdungslage und Aufhebung der angeordneten Maßnahmen in Betracht kommt“[15]. Im Falle einer Pandemie ist es schwer absehbar, wann sich diese Änderung der Gefährdungslage einstellt.

Aus dieser zeitlichen Unbestimmtheit haben sich nun, in der Zeit, in der die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie umgesetzt wurden, mehrere Probleme für das Theater ergeben: Es stellt sich zum einen die Frage, wie mit der Unterbrechung des üblichen Spiel- und Probenbetriebs umgehen, wenn die Planungssicherheit fehlt? Konkreter: Warum aufwendige Konzepte zum Umgang mit der Situation entwerfen, wenn die Theater im günstigsten Falle schon morgen den Betrieb wieder aufnehmen könnten bzw. wenn die Lage unbeständig und nicht absehbar ist? Und: Wie kann das Theater auf die pandemiebedingten Umstände inhaltlich reagieren, wenn das Tagesaktuelle schon morgen wieder obsolet sein kann? Vielleicht liegt genau hier der Grund dafür, dass viele Theater während ihrer vorübergehenden Schließung im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie auf die Situation lediglich mit einem Angebot zum Streaming vergangener Aufführungen reagiert und die Situation nicht dazu genutzt haben, die vielfältigen digitalen Möglichkeiten zu nutzen und zu erproben.

Wie handeln? – Forced Entertainments End Meeting for All

Eine Arbeit, die auf diese Schwierigkeiten in herausstechender Weise reagiert hat, ist das von Forced Entertainment entwickelte Stück End Meeting for All, das nicht nur inhaltlich Bezug auf die Situation der Pandemie nimmt, sondern ebenso die Online-Meeting-Plattform Zoom als andere Bühne erprobt. EMfA wurde im April 2020 in Koproduktion mit den drei Produktionshäusern HAU Hebbel am Ufer Berlin, PACT Zollverein Essen und Mousonturm Frankfurt entwickelt.[16] Eigentlich steckte die Gruppe mitten in den Proben zu dem Projekt Under the Bright Light, das am 23. April 2020 auf PACT Zollverein Premiere haben sollte. Die physischen Proben wurden aufgrund der Maßnahmen zur Einschränkung der COVID-19 Pandemie unterbrochen und die Premiere vorerst auf das Jahr 2021 verschoben. Die sechs Mitglieder Robin Arthur, Tim Etchells, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O´Connor befanden sich zur Zeit der Kontaktbeschränkungen alle in ihrem jeweiligen Zuhause in Berlin, London und Sheffield in der Selbstisolation und trafen sich auf der Online-Meeting-Plattform Zoom zum regelmäßigen Austausch. Wie Tim Etchells, der bei EMfA Regie führte, in dem Begleittext Falling Into Place – A note by Tim Etchells erklärt, erkannten die FE-Mitglieder das Zoom-Gitter der angeordneten Teilnehmer*innen-Fenster als eine Bühne.[17] Sie entwickelten EMfA daraufhin als ein fragmentarisches Online-Projekt, das aus drei kurzen Episoden besteht, in denen die sechs FE-Mitglieder aus ihren Wohnungen auf Zoom zu einem Meeting zusammengeschaltet sind.

EMfA reagiert auf das Jetzt seiner Zeit. So verdeutlicht das Stück zum einen die Bedingungen derjenigen, die sich in die Selbstisolation begeben haben und aus ihr heraus arbeiten oder versuchen, den Kontakt zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten. Es werden der Verlust des Zeitgefühls thematisiert, sowie Veränderungen im (Trink-)Verhalten; es geht um den Tod, Krankheit und Einsamkeit und um die Frage „What you think you gonna do when this is all over?“[18] Das Meeting erweist sich schnell als durcheinander und dysfunktional. Die Gespräche, das Acting und die Handlungen werden immer unterbrochen und kommen nie so richtig zustande. Es gibt Mikrofonprobleme, eine*r ist immer mit etwas anderem beschäftigt, das Acting wird nicht als solches erkannt, es gibt Bild- und Tonstörungen, Geräusche aus dem Off, Missverständnisse, divergierende Befindlichkeiten und Intentionen. Tim Etchells dazu: „We were drawn to content that came directly from the context – from the experience […] of lockdown, concerns about health and family, the very particular problems of communicating online and the collision of theatrical ambition and cluttered domestic situations.“[19]

Darüber hinaus verdeutlicht EMfA auch die Unmöglichkeit des Theaters in der unbestimmten Zeit einer Pandemie, zumindest in dem Sinne, in dem wir es bisher kennen. Pessimistisch gesehen, sind der Ort des Theaters und seine Bühne mit der COVID-19 Pandemie temporär obsolet geworden, insofern, dass sie in der Erinnerung und in der Hoffnung auf eine Wiedereröffnung zwar weiterhin nachwirken, aber letztlich nicht mehr zugänglich und verwaist sind. Bilder aus besseren Tagen zu streamen, wertet diesen Befund nicht auf.

FE hingegen entwerfen eine konkrete Erweiterung des Bühnen- und Theaterbegriffs, indem sie ihn von seiner örtlichen Gebundenheit lösen und das Zoom-Gitter im digitalen Raum als eine Bühne verstehen, deren Möglichkeiten sie erproben. Dazu arbeiten sie mit theatralen Mitteln wie Text, Dialog/Monolog, Kostüm, Make-Up, Soufflage, Wiederholung, Auf- und Abgängen, Blacks sowie Ritualen, wodurch ganz unterschiedlich gefärbte Collagen entstehen. Und dieses Collagenhafte entspricht der Eigenschaft von Zoom, das sich durch das gleichzeitig Verbunden- und Nicht-Verbundensein der Protagonist*innen auszeichnet:

I realised we were slowly starting to understand the Zoom grid as a kind of stage – a space we shared but in which we were nonetheless both connected and disconnected. As theatre makers who’ve long had an interest in collage as a methodology, something chimed with this, and with the way that the grid of screens brought together different partially connected realities in different cities, the screen a kind of membrane or imperfect portal between worlds.[20]

Damit reagiert FE vor allem auf den Medienwechsel, der in der Zeit der COVID-19 Pandemie in allen Bereichen der Gesellschaft, wie z.B. in Unternehmen oder Bildungseinrichtungen, stattfindet, und bei dem sich das Programm Zoom weitestgehend durchgesetzt hat. Die technischen Mittel, mit denen FE an EMfA gearbeitet haben, erlaubten ihnen eine schnelle Arbeitsweise von der Konzeption über die Erprobung und die Aufnahme. So ist es FE gelungen, eine digitale Bühnen- und Theaterform zu schaffen, die in all ihrer Imperfektion sehr zeitnah Bezug auf die aktuelle Lage nimmt. Durch diese Imperfektion, die zu einem großen Teil in dem wenig erfolgreichen Versuch, theatrale Mittel in den digitalen Raum zu übertragen und in den immer wieder unterbrochenen und misslingenden Kommunikationsversuchen bestehen, kann vor allem ein Umstand nicht verdeckt werden: der Mangel bzw. die Abwesenheit des physischen Orts Theater in der aktuellen Pandemiesituation. In dieser Abwesenheit werden einmal mehr wichtige Eigenschaften des Theaters sichtbar. Es geht um die politische und gesellschaftliche Funktion des Theaters, und um das Theater als Ort der physischen Koexistenz verschiedener Akteur*innen, des Zusammenkommens, des Austauschs, des Begegnens und des Diskurses. Diese Eigenschaften lassen sich, wie EMfA zeigt, nicht einfach ins Internet übersetzen, übertragen oder dort in gleicher Weise erzeugen. So stellt das Theater also nicht bloß ein infektiologisches Risiko dar. Es geht im Theater, jenseits der rein medizinischen Ansteckungsgefahr, auch immer um eine andere Form der Ansteckung, die sich über die (auch körperliche) Wahrnehmung vollzieht und die im besten Fall zur Katharsis, zur Reinigung und Heilung von pathemata, von Affekten im Übermaß, führen kann, wie es auch bei Artaud anklingt. Vielleicht steckt die Komik von FE’s scheiternden Versuchen, einen Umgang mit der derzeitigen Lage und dem Theatermachen in dieser Zeit zu finden, zum Lachen an. Vielleicht ist es heilsam für diejenigen, die unter durch die Pandemie verursachter Abgeschiedenheit und Einsamkeit leiden, zu sehen, wie auch andere mit der Situation hadern. Vielmehr aber zeigt FE’s EMfA die Bedeutung des Orts Theater für die Gesellschaft. Es zeigt die Schwierigkeit auf, in Zeiten der Abwesenheit des Theaters und der Unmöglichkeit des physischen Anwesend- und Beisammenseins von Menschen, Theater zu machen. Dinge, die das reine Streaming von Aufführungsaufzeichnungen vertuscht.


  1. Schaub, Mirjam: „Einleitung“, in: Dies (Hg.): Ansteckung: Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. Paderborn/München 2005, S. 9-21, hier S. 13.
  2. Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. München 1996, S. 34.
  3. Warstat, Matthias: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. Paderborn 2011, S. 52.
  4. Artaud, Das Theater und sein Double, S. 21.
  5. Ebd., S. 24.
  6. „Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Durchführung von Veranstaltungen ab dem 14. März 2020“, https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/200313_erlass_veranstaltungen_unter_1000_tn.pdf, (Zugriff am 26.07.2020).
  7. „Die Verfassung des Deutschen Reiches“, http://www.verfassungen.de/de19-33/verf19-i.htm (Zugriff am 29.07.2020). Für eine detaillierte Erörterung des Artikel 48 der Weimarer Verfassung und der darin enthaltenen Befugnis des Reichspräsidenten, Maßnahmen zu erlassen, siehe: Schmitt, Carl: „Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung“, in: Ders.: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin 1964, S. 213-259.
  8. Sarasin, Philipp: „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/ , 25.03.2020 (Zugriff am 24.04.2020).
  9. Siehe: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1973.
  10. Siehe: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1976.
  11. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 255, zit. n. Sarasin: „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“.
  12. Siehe: Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt am Main 2004.
  13. Ebd.
  14. Schmitt: Die Diktatur, S. 248.
  15. „Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Durchführung von Veranstaltungen ab dem 14. März 2020“.
  16. End Meeting for All; Konzept/Entwicklung: Forced Entertainment, Regie: Tim Etchells. Performance: R. Arthur, T. Etchells, R. Lowdon, C. Marshall, C. Naden, Terry O´Connor, Premiere: 28.04.2020. Die Aufzeichnung von EMfA war bis zum 30. Juni 2020 u.a. unter https://www.youtube.com/watch?v=PVDgqloH420&feature=youtu.be&fbclid=IwAR070YLUyo_N-setk05KAxm1JyOUgttlsRV1M6I9LkLcywQCaygadcmTbLY verfügbar.
  17. Etchells, Tim: „Falling Into Place – A note by Tim Etchells. On ›End Meeting for All‹“, in: HP PACT Zollverein Essen; https://www.pact-zollverein.de/journal/falling-place-note-tim-etchells (Zugriff am 02.08.2020).
  18. End Meeting for All; Konzept/Entwicklung: Forced Entertainment, Regie: Tim Etchells, Teil 3.
  19. Etchells: „Falling Into Place“.
  20. Ebd.
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