Schwerpunkt | Vor und hinter den Kulissen in Kafkas Theaterräumen. Ein Spaziergang

Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren: Wörter aus Kafkas hebräischem Notizbuch, die das Blut in Wallung bringen und am oberen Ende der emotionalen Skala zu verorten sind. Es ist ein Notizbuch einzelner Worte, als solches eher ein Vokabelheft, das Kafka für sein Hebräisch-Studium nutzte und das lange unbeachtet in der Jerusalemer Nationalbibliothek lag. Kafkas verstreute Worte graben sich ein in die Phantasie mit all ihrer emotionalen Intensität. Allerdings spiegeln sie nicht so sehr die komplexen Gewebe von Kafkas eigener Prosa, vielmehr kommt einem die spannungsgeladene Handlung eines Melodrams in den Sinn. Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren. Das beschreibt auch manche Aufführung des jiddischen Theaters in Prag, welches Kafka zu seinen regelmäßigen Zuschauern zählen durfte und dessen Einfluss auf Kafkas Überlegungen zum Theater heute weitgehend als erforscht gelten kann.[1] Die Worte aus dem Notizbuch führen uns also zurück zu Kafka, dem Theatergänger, darüber hinaus aber auch zu Kafka als Theatermaterial. Denn die Wörter aus Kafkas Vokabellisten finden sich auf der Bühne wieder, allerdings nicht in Form einer melodramatischen Handlung, sondern vielmehr als Sprech-Performance der israelischen Ruth Kanner Theatre Group, die sich auf postdramatische Weise der gewaltigen Wortwelt Kafkas nähert. The Hebrew Notebook, aufgeführt im Dezember 2014 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main, ist der schlichte Titel der Performance, die mit der Materialität der Wörter experimentiert und diese – lesend, sprechend, klingend – die Zuschauerinnen und Zuschauer nahezu körperlich erfahren lässt, Kafkas Erzählungen auf der Bühne aber nicht darstellt. Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren: in den Händen der Performerinnen und Performer werden diese Gemütszustände zu Lautmaterial, das immer wieder neu geformt und in den Zuschauerraum hineingegeben wird. Es werden Wörter zum Mitnehmen: als ZuschauerIn bekommt man sie sogar wortwörtlich als kleine Zettelbotschaft zugesteckt und kann so die Handschrift Kafkas, vergrößert und im Detail, betrachten und nach Hause tragen.

Theatergänger? Sicher. Theatermaterial? In der Tat. Wie aber steht es mit Kafka und dem Theater, wenn man sich jenseits von Biographie und zeitgenössischen Theateradaptionen seiner Erzählungen begibt? Als Theaterautor mag man ihn wohl nicht bezeichnen, weswegen auch die Übertitelung dieser Ausgabe – Kafka und das Theater – nicht so sehr eine Symbiose als vielmehr ein Spannungsfeld beschreibt, das ein Theater des Denkens und der Abstraktion bezeichnet. Eine andere Wortreihe – meine eigene, nicht Kafkas – mag nun hier den weiteren Verlauf bestimmen: Radikalität – Antitheatralität – Theaterraum – Grenze. Um diese wird es sich im Folgenden drehen. Die Frage stellt sich, inwieweit Kafka als radikal oder schlichtweg antitheatral bezeichnet werden kann? So nennt Nikolaus Müller-Schöll Kafka den „radikalste[n] Theatertheoretiker der Moderne“, da er dem Theater das Theater entzieht und ein mediales Unbehagen zum Grundgestus ästhetischer Produktion überhaupt macht. [2] Kafkas Bezug zur Darstellung ist daher immer ein Kommentar zur Doppelbödigkeit der Existenz an sich, der wiederum dabei der Bedeutungsrahmen genommen wird. So wird ein Projekt wie Kafka und das Theater, ob als Masterclass in Frankfurt oder in Form einer theaterwissenschaftlichen Sonderausgabe, immer Teil einer Entgrenzung der Künste und eines Projektes, in dem Teile des Theaters – Körper, Gesten, das Illusionsprinzip – von Kafkas Prosa seziert werden. Aber Kafka & Theater – das gibt es auch in einer anderen Variante, als Ausgabe der Germanic Review 2003 unter der Herausgeberschaft von Martin Puchner. Puchner argumentiert hier nicht für Kafka, den Theatertheoretiker par excellence, sondern stattdessen für Kafka als Antitheatraliker: „[…] Kafka’s prose is not so much theatrical as it is antitheatrical, presenting dramatic and theatrical scenes and characters only to decompose and recompose them according to a specifically literary poetics.“[3] Für Puchner ist Kafkas Widerstand gegen das Theater auch ein Privilegieren des literarischen Schreibens über die Verdopplungsstrategien des Theaters, über den Drang zur Mimesis. Die terminologische Gegensätzlichkeit von radikaler Theatertheorie und Antitheatralität ist allerdings nur eine scheinbare, denn schlussendlich ist die radikalste Theorie, die das Theater des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat, die der Antitheatralität, etwa in Form der historischen Avantgarden. Bei Artaud ist die Attacke auf das etablierte Theater offensichtlich, sie ist aber ebenso bei Brecht zu finden, der z.B. in seinen Lehrstücken jede und jeden zur Mitspielerin oder zum Mitspieler werden lassen will und damit seinen einschneidendsten Vorschlag zur Erneuerung des Publikums und seiner Rolle macht. Im Antigonemodell von 1948, das zu seiner ersten Inszenierung nach der Rückkehr aus dem Exil entstand, wird der ideale Theaterabend von der Bühne auf die Buchseite transferiert. Der Weg führt aus den Theaterhäusern hinaus, ob wortwörtlich oder abstrahiert: radikales Theater ist auch gleichsam antitheatral. Bei der Frage nach dem Theater liegt ein Hauptaugenmerk der Kafka-Forschung auf Gestus und Körperlichkeit, sind doch Kafkas Charaktere gezeichnet von körperlicher Fragmentierung.[4] Walter Benjamin nannte es die „Auflösung des Geschehens in das Gestische.“[5] Ebenso macht Puchner den antitheatralen Charakter von Kafkas Prosa an Körper- und Sprachgesten fest.[6] Und Müller-Schölls kafkaeske Straßenszene fokussiert sich auf die Unmöglichkeit der Übertragung eines Unfalls in sowohl die Körpersprache des Autofahrers als auch den Akt der Protokollierung durch den Polizisten.[7]

Wenn aber der Weg des Theaters der Avantgarden aus den traditionellen Theaterhäusern führt und Kafka darum bemüht ist, theatrale Ästhetik innerhalb seiner Werke neu zu konfigurieren, so stellt sich die Frage nicht nur nach durch Gesten erfahrbaren Körpern, sondern auch nach einer vorherrschenden Raumerfahrung. Architektur und Raumkonstruktion sind bei Kafka in keinem Fall unbeachtet geblieben, doch verbindet sich die Diskussion zur Räumlichkeit –verschachtelte Zimmerfluchten und Flurlabyrinthe aus Der Prozeß kommen einem in den Sinn – oft lediglich mit Fragen der Gerichtsbarkeit und dem Bild einer Gesellschaft, die geprägt ist von schier undurchdringlicher Bürokratie. Was dagegen in den folgenden Überlegungen entwickelt werden soll, ist keine vollständige Kartographie von Kafkas Theaterwelt, sondern eher ein kleiner Spaziergang durch einige von Kafkas fiktiven Theaterräumen. Wie also ist das Theater beschaffen, von dem er schreibt?

Sowohl in seiner Prosa als auch in seinen Tagebucheintragungen kommt Kafka immer wieder auf die Theatersituation zurück und scheint eine Vielzahl von Konstellationen und Perspektiven durchzuspielen, sei es, dass die Erzählposition die eines Zuschauers oder eines Schauspielers ist, sei es, um verschiedene Blickwinkel auf das Konstrukt Bühne zu erhaschen. Für den anpassungsfähigen Affen aus Ein Bericht für eine Akademie steht der transformative Effekt seiner schauspielerischen Fähigkeiten auf den menschlichen Zuschauer im Zentrum; Josefine, die singende Mäusedame, präsentiert sich dem Leser dagegen durch die Augen eines teils kritischen, teils hämischen Mäuse-Publikums, das sie im Endeffekt aburteilt. Das Naturtheater von Oklahoma, dem Karl in Amerika begegnet, ist wohl die meist zitierte Variante einer solch offenen Theaterlandschaft, die sich auf der Claytoner Anwerbestelle als immenses Jahrmarkttreiben präsentiert. Nicht nur die Offenheit des Ganzen – schließlich wird dort jeder aufgenommen, wie das Plakat bewirbt – sondern auch dessen immense Größe treten schnell in den Vordergrund. Schon Karl konstatiert die Größe des Unternehmens. Dieser Eindruck vertieft sich im Gespräch mit Engel Fanny, die es nicht nur als „das größte Theater der Welt“ bezeichnet, sondern es sogar „fast grenzenlos“ nennt.[8] Naturtheater, Theater ohne Grenzen: da schwingt zunächst einmal die Utopie einer Totalität von Theater mit. Doch in seiner nur beinahen Grenzenlosigkeit verstärkt sich schlussendlich der implizite Widerspruch zwischen Natur und Theater in Kafkas Begriff, bedarf doch gerade das Theater der Abgrenzung von der Natur. Natur, im Sinne von Wildnis, bleibt ein blinder Punkt für das Theater und liegt jenseits seines Repräsentationsvermögens. Kafkas Naturtheater spielt somit satirisch mit den theatrum mundi-Begriff, allerdings im Sinne einer Entgrenzung des Theaters ohne das stabilisierende Moment einer göttlichen AutorInnen- oder ZuschauerInnenschaft. Was bleibt, ist allein der leere Raum. Das zeigt auch eine weitere Passage, in der Karl ein Bild der Präsidentenloge des Naturtheaters in Händen hält:

Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. […] weißes, doch mildes Licht enthüllte den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt […] als eine dunkle, rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus.[9]

Obwohl mehrere Bilder des Theaters durch die Runde gehen, erreicht nur dieser prunkhafte Ausschnitt des Zuschauerraums Karl, dessen Beschreibung Bühne und Zuschauerraum zu verdrehen scheint, und nicht nur ob der architektonischen Ausmaße der Loge. Auch der Samtvorhang erinnert an das Proszenium, in dessen Mitte „die rötlich schimmernde Leere“ zum Ort der Verheißung und Projektionsfläche für jegliche theatrale Aktion wird. Am eindrucksvollsten aber ist die Tatsache, dass die Gestaltung dieser Logenbühne nicht auf gewichtige Ehrengäste zu warten scheint, sondern ihre Theatralität ganz in der einsamen Selbstherrlichkeit des architektonischen Raumes jenseits des Menschen besteht. Kafkas Beschreibung steht hier im direkten Gegensatz zu einem Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1911, der eine eher kärgliche Bühne nebst ZuschauerInnen in Vorfreude auf die nahende Ankunft lebender Körper zum Thema hat: „Der Anblick der einfachen Bühne, die die Schauspieler ebenso erwartet wie wir.“[10] Hier nun erscheint das Theater nicht ausschließlich definiert durch den Raum, sondern in Relation zu menschlichen Körpern und zumindest potentiellen Handlungen.

Auf den ersten Blick stechen die Unterschiede der beiden Szenarien hervor, der überwältigende stuckbesetzte Prunk des einen Theatersaals passt nicht zusammen mit dem kärglichen Bühnenbild aus Tisch und Stühlen. Und doch, in beiden Fällen sind es Räume, die von Leere geprägt sind: entweder sind es die SchauspielerInnen, die (noch) abwesend sind oder aber die ZuschauerInnen, deren Selbstinszenierung in der Loge unterhaltsamer Bestandteil eines Theaterabends sein könnte. Stattdessen: „rötlich schimmernde Leere.“ Das erinnert zunächst an eine seltsam verlockende Leere der Potentialität, wie Peter Brook sie in The Empty Space heraufbeschwört, aber auch eine epistemologische Leere, die beispielsweise von Shimon Sandbank als Verbindungsglied zwischen Ionesco und Kafka gezogen wird und auch sonst ein zentrales Topos in der Kafka-Forschung ist.[11] Die Leere ist zwar eine Grundkondition des Theaters, wo jeder leere Platz zur Voraussetzung für das kreative Spiel aus Sehen und Gesehen werden wird. Die Leere beflügelt den Erwartungshorizont, doch sie will ausgefüllt werden, und wenn nur durch einen Menschen, der sie durchquert. Doch trotz aller Erwartungshaltung, die auch dem Tagebucheintrag Kafkas innewohnt, ist hier diese Leere selbst der ästhetische Kern, den Kafka heraufbeschwört und den er sich auszufüllen weigert.

Was aber passiert, wenn nun doch jemand auf diese leeren Bretter tritt? Eine fast grenzenlose Bühne, wie Fanny es gerüchteweise über das Naturtheater gehört hat, kommt in einem weiteren Tagebucheintrag von Kafka vom 9. November 1911 zustande: „In einem Akt waren die Dekorationen so groß daß nichts anderes zu sehn war, keine Bühne, kein Zuschauerraum, kein Dunkel, kein Rampenlicht […]“[12] In ähnlicher Form wie das Naturtheater expandiert das Bühnenbild hier ins Grenzenlose und verschluckt den Theatersaal an sich. Stattdessen wird die ganze Stadt zur Szene, die „die schönste Dekoration der ganzen Erde und aller Zeiten war.“[13] Auch hier geht es um einen Raum, der auf die ZuschauerInnen überwältigend wirkt, weil in ihm Grenzziehungen verwischen oder verdreht erscheinen. In einer weiteren Variation des theatrum mundi wird die Bühne zum Ort der Grenzenlosigkeit, deren Raum manipulierbar und optimiert erscheint: nicht schnöde Realität, sondern phantastische Variante der Stadt außerhalb der Theaterwände. Es gibt zu diesem grenzenlos gewordenen Bühnenbild ein scheinbares Gegenstück in einem kurzen Fragment aus Kafkas Nachlass:

Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein

Morgen im Freien, dann wird es gleich dunkel, und es

ist Abend. Das ist kein complizierter Betrug, aber man

muß sich fügen solange man auf den Brettern steht. Nur

ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den

Hintergrund zu, die Leinwand zu durchschneiden und zwischen

den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerümpel

hinweg in die wirkliche enge Gasse sich flüchten, die zwar

noch immer wegen der Nähe des Teaters Teatergasse heisst,

aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.[14]

In dieses Theater taucht man nicht ein. Stattdessen wird das Illusions- als Lebensprinzip zum Gefängnis aus dem es auszubrechen gilt, wobei die beklemmend wirkende Bühnendekoration richtiggehend zerstört werden muss. Doch wer ist es, der sich gegen den Raum, der ihn umgibt, wendet? Es scheint der Schauspieler selbst, der sich von seiner Existenz befreien will, ist er doch derjenige, der „auf den Brettern steht“. Andererseits sind die ZuschauerInnen so häufige BesucherInnen auf Kafkas fiktiven Bühnen, dass sich das unspezifische „man“ auf alle TeilnehmerInnen eines Theaterabends ausweiten ließe. Am bemerkenswertesten scheint jedoch, dass die Flucht in jedem Fall als Kraftakt in Form der Zerstörung der Bühne zu geschehen hat; das weitaus weniger dramatische Verlassen durch das Auditorium ist keine Alternative. Die Ironie des Ziels der engen Theatergasse scheint ebenso nur ein Wortspiel auf das sprichwörtliche „hinter die Kulissen blicken“. Denn hier ist zunächst nur Gerümpel, und gleiches befindet sich generell in den engen Gassen hinter den Theatern. Man mag sie sich vorstellen als düstere Sackgasse, verstellt mit Mülltonnen, bewohnt von Ratten. Was dann bleibt von der tiefen Wahrheit, ist der Unrat der „Teatergasse“ und die zerstörte Illusion der Leinwand, durch die man entkam.

Die zerschnittene Leinwand: das ist allerdings mehr als das fast schon antiquiert wirkende gemalte Bühnenbild mit seinen „Fetzen des gemalten Himmels“. Hinter ihr tut sich eben keine neue Welt auf, sondern nur der Schutt alten Gerümpels. Kafka muss sich der Doppeldeutigkeit seines Bildes bewusst sein, in dem die Leinwand als Projektionsfläche für das neue Medium Film ebenso präsent ist. Zerschnittene Leinwände finden sich im Kino als beliebter selbstreferentieller Topos, der dem Spiel-im-Spiel des Theaters nahe kommt.[15] Ebenso schafft W. G. Sebald die Verbindung von Kafka und Film in seinem Kafka im Kino, in dem er Kafkas Reaktion auf und Faszination für das damals neue Medium als „ein undeutliches Grauen […] vor den mit dem beginnenden Zeitalter der technischen Reproduktion sich anbahnenden Mutationen der Menschheit“ beschreibt.[16] Sebald zeigt Kafka als gesellschaftlichen Kommentator, der in das zentrale Kopie/Originalitätsthema des frühen Fotografie- und Filmdiskurses eingreift.[17] Sebalds Auseinandersetzung unterstreicht Kafkas geschärftes intermediales Bewusstsein und seine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Gefahren ästhetischer Medien per se. Die Problematik medialer Übersetzung beschränkt sich also nicht auf das Übertragen theatraler Strategien ins Narrative sondern findet bei Kafka potentiell immer schon auf mehreren Ebenen statt. Die immerwährende Bühne wird zum Ort des „Grauens“, wie Sebald es oben beschrieb, denn in ihr verläuft man sich in der mise-en-abyme der Verdopplungsstrategien scheinbar unwiederbringlich. Damit ist der Schnitt durch die Leinwand in Kafkas Fragment natürlich auch ein Schnitt durch die Realität, den Himmel, der auf den fleddernden Fetzen gemalt ist. Realität verbleibt nur noch als Fetzen. Gleichzeitig markiert das Theater in Kafkas Texten immer auch mehr als Theater, es wird eine Art Metapher für die mediale Vervielfältigung, der Kafka gegenübersteht. Das Theater ist also nicht nur Gegensatz zum Schreibprozess, wie Puchner es formulierte, es markiert auch die allgemeine Proliferation der Reproduktionsmedien, die in der Lage sind, Wirklichkeit auf immer wieder neue und gleichsam irritierende Weise zu spiegeln.

So sind die von Kafka evozierten Bühnen ausgezeichnet durch einen hohen Grad an Selbstreflexivität, deren räumliche Strukturen selbst zum metatheatralen Kommentar werden. Denn in jedem der fiktiven Theaterräume, die wir bis hierher durchquert haben, geht es um Grenzverschiebungen und ultimativ um die Instabilität der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum. Die Fotografie der Präsidentenloge des Naturtheaters von Oklahoma stellt die ebendiese Grenze in Frage, wie sich aus Karls verwirrtem Blick ergibt, sind doch Bühne und Loge sich hier zum Verwechseln ähnlich. Das Beispiel des zum Menschen avancierten Affen aus Ein Bericht für eine Akademie unterläuft die Grenze zwischen Mensch und Tier und vereint sie als potentielle Theaterspieler. Mark Anderson hat die Undurchdringlichkeit von Kafkas Theaterwelt unterstrichen.[18] Eine solche Undurchdringlichkeit zeichnet auch die Situation der Theatergänger aus, die zwischen den Kulissen feststecken. Ob sie verloren gehen in der Dekoration oder zwischen den Kulissen auszubrechen suchen, gerade diese Hervorhebung von Undurchdringlichkeit deutet auf einen Kontrollverlust im Repräsentationsprozesses hin, die im Drama gern durch den etablierten „Trick“ des Spiels-im-Spiel verhandelt wird, d.h. der Multiplikation der Realitätsebenen durch Momente des Dramas im Drama. In seiner Studie zu Formen des Metadramas identifiziert Richard Hornby das Spiel-im-Spiel als grundlegendes Moment, durch das es gilt, Wahrnehmungsapparat und Erkenntnisfähigkeit zu untersuchen. Dabei spricht er von einer regelrechten „dislocation of perception“.[19] Solch ein Fokus auf die fragile Relation von Wahrnehmung und Wahrheit ist ebenso präsent in Kafkas Werk, allerdings lässt sich hier natürlich nicht von einem Drama im Drama sprechen. Jedoch zeigt sich in der immer wieder präsenten Verschiebung theatraler Grenzen eine übertragbare Sensibilisierung Kafkas für die Transformation des Wahrnehmungsapparats in einer zunehmend multimedial geprägten Wirklichkeit, für die die Mimesis des Theaters nur Platzhalter ist. So erschafft Kafka eine Denkbühne der anderen Art, die Heiner Müllers Theater „aus Gehirnströmen, aus Schädelnerven“[20] ähnelt. Auf Kafkas Bühnen werden immer neue Perspektiven auf den Repräsentationsprozess durchgespielt und immer wieder neue fiktive Räume kreiert, in denen die verschwimmende Grenze zwischen Spiel und Ernst, Illusion und Realität im Zentrum steht. Doch geht es Kafka nicht wirklich um das Theater als pulsierende Erlebniswelt, sondern um Theater als Ort für das, was Benjamin und nach ihm Werner Hamacher mit dem Terminus „wolkige Stelle“ bezeichnet haben: „[…] und also heißt wolkige Stelle, daß sie nicht heißen, nicht benennen und bedeuten kann. Sie ist nicht Metapher für etwas anderes, sondern für die Unmöglichkeit der Metapher selbst […].“[21] Kafkas fiktive Theater werden zu Laboratorien für die epistemologische Krise, die durch den Reproduktionsapparat der Medien entsteht. Anders formuliert: es gelingt ihm, eine der fundamentalsten theatralen Konstruktionen, nämlich das Spiel-im-Spiel, zu verschriftlichen. Die Destabilisierung der theatralen Grenze, die im Spiel-im-Spiel auf der Verschachtelung von Spielebenen beruht, wird bei Kafka durch immer wieder neue Erzählpositionierungen in seinen fiktiven Theatern ersetzt, die es miteinander gemein haben, dass sie die Konditionen der Theaterräume, und mit ihnen der Wirklichkeit selbst, infrage stellen. Immer wieder findet der Zuschauer sich selbst zum Spielen gedrängt, während die Grenzen zwischen realem und fiktivem Raum schwinden. So wird Kafkas verschriftlichtes Theater ein Denken mit und über die Grenze im ästhetischen Raum an sich.

Worin also liegt die Begegnung von ‚Kafka und Theater’ heute und für uns als TheaterwissenschaftlerInnen? Wenn man durch Kafkas fiktive Theaterräume schlendert, so bemerkt man sowohl die antitheatrale Spannung, als auch die immense Anziehungskraft, die hier zwischen den Künsten besteht. Gleichzeitig wird klar, dass mehrere Grenzen destabilisiert werden: zwischen Realität und Illusion, aber auch zwischen Text und Theater, und schließlich zwischen Philologie und Theaterwissenschaft als Disziplinen, die von der Erinnerung an ihre Gemeinsamkeiten statt ihrer Differenzen profitieren würden. Kafka schafft einen gestischen Theaterraum, der sich uns als Idee einprägt und unser Theaterverständnis nachhaltig beeinflusst. Denn Kafkas fiktive Theater zeigen auf, dass das Theatererlebnis weit über die Kopräsenz von ZuschauerInnen und SchauspielerInnen im Aufführungsmoment hinausgeht und sich auf die schriftliche Ebene erweitern lässt. Vielmehr lebt das theatrale Ereignis von den Erinnerungen an die vielen Theater – vorgestellte und reale –, die wir besucht, durchwandert, beschrieben, auf den Kopf gestellt oder auch zu Fall gebracht haben. So entsteht ein schriftlicher Theaterraum, der sich mit architektonischen und dramatischen Räumen verbindet und so eine neue Metaebene offeriert. In ihm zittern, verabscheuen, schmachten und begehren wir und schaffen so das Theater als Idee und Erfahrung immer wieder neu.

  1. Vgl. Beck, Evelyn Torton: Kafka and the Yiddish Theatre. Its Impact on his Work. Madison/Milwaukee/London 1971, S. 12-31.
  2. Müller-Schöll, Nikolaus: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene von Kafka“, in: Balme, Christopher et al. (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Marburg 2003, S. 189-201, hier S.196 f.
  3. Puchner, Martin: „Kafka’s Antitheatrical Gestures“, in: The Germanic Review 78, 3, Summer 2003, S. 177-193, hier S. 178.
  4. Vgl. Lack, Elisabeth: Bewegte Körper. Die Tagebücher und Briefe als Laboratorien von Bewegung. München 2009.
  5. Benjamin, Walter: „Franz Kafka. Zur Wiederkehr seines Todestages“, in: Tiedemann, Rolf/ Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Gesammelte Schriften II.2, Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1980, S. 409 – 438, hier S. 418.
  6. Puchner, Martin: 2003, S. 184-188.
  7. Müller-Schöll, Nikolaus: 2003, S. 192-194.
  8. Kafka, Franz: Amerika Oder: Der Verschollene. Frankfurt a. M. 2007, S. 267.
  9. Ebd.: S. 281.
  10. Kafka, Franz: Tagebücher 1909 – 1923. Fassung der Handschrift. Frankfurt a. M. 1997, S. 52.
  11. Sandbank, Shimon: After Kafka: The Influence of Kafka’s Fiction. Athens/London 1989, S. 74.
  12. Kafka, Franz: 1997, S. 75.
  13. Ebd.
  14. Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Jost Schillemert (Hg.). In: Franz Kafka. Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe. Born et.al. (Hg.), Frankfurt a. M. 1992, S. 358.
  15. Vgl. Paech, Joachim: „Das Loch in der Leinwand“, in: Röttger, Kati/Alexander, Jakob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. Bielefeld 2009, S. 143-159.
  16. Sebald, W.G.: Campo Santo, hg. v. Sven Meyer, München/Wien 2003, S. 200.
  17. Ebd., S. 204.
  18. Anderson, Mark: „(…) nicht mit großen Tönen gesagt“: On theater and the theatrical in Kafka“ in: The Germanic Review 78, 3, Summer 2003, S. 167-176.
  19. Hornby, Richard: Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg 1986, S. 32.
  20. Müller, Heiner: „Theater ist Krise. Arbeitsgespräch vom 16. Oktober 1995“, in: Frank Hörnigk et al.: Ich Wer ist das / Im Regen aus Vogelkot / Im Kalkfell / Für Heiner Müller. Arbeitsbuch. Berlin 1996., S. 136 – 143, hier S. 141.
  21. Hamacher, Werner: „Die Geste im Namen: Benjamin und Kafka“, in: Ders. (Hg.): Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M. 1998, S. 287.
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