1.
Auf dem Videomitschnitt von den Proben Einar Schleefs zu Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes von Elfriede Jelinek spricht Schleef Sätze aus dem Monolog DER WANDERER. Das ist ein alter Mann, der nichts anderes kann als wandern bis zum Umfallen. Ein Jedermann auf dem Weg, den wir alle gehen. Bei Jelinek ist der Wanderer „ein halber Mensch (aus) einem halben Haus“, ein halbfertiger, fertig gemachter, vielfach gedemütigter, ängstlicher, vielleicht bettnässendender alter Mann mit einer Neigung zum Philosophieren und einer flackernden Phantasie. Jetzt traut er sich etwas und ist unterwegs just auf dem Weg, den ein jeder geht.
Er spricht mit uns:
Sie können ihre Wege nicht vollenden, weil […] keine Welt mehr da ist, in die sie gehen können. Sonst fehlt Ihnen nichts. Grüß Gott, Sie Mann mit der Thermohose und Sie mit dem Rucksack, dem Steinschlaghelm und dem Lawinenschlagstock samt Tiefenmesser, der piepsen kann, ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Man trifft hier so selten jemand, wollen wir nicht ein wenig plaudern?
Stellen Sie sich bitte einen Moment lang vor, Sie würden von so einem übereifrigen Wanderer angesprochen, der den Parcours, den Sie aus gesundheitlichen, sportlichen oder ganzheitlich-meditativen Gründen absolvieren mit einem Weg grundsätzlicherer Art verwechselt und dann auch noch mit Ihnen plaudern möchte! – Der oder die auf diese Weise Angesprochene(n) reagieren offenbar mit Verachtung, denn der Monolog fährt an dieser Stelle übergangslos fort:
Mann, ich find dich Scheiße? Das sagen Sie da vor sich hin oder etwa zu mir? […] Was finden Sie? Etwas, das nicht Ihnen gehört? Mein Leben? Das haben Sie gefunden, und wenn ich noch einen Funken Verstand hätte, dann hätte vielleicht auch ich was davon, bevors weg ist? Mann, ich find dich Scheiße? Das ist also der Gegenstand Ihrer heutigen Ansprache, und Sie glauben, ich wär Ihr heutiger Ansprechpartner? Sie haben mich schon gesucht, um mir das zu sagen?
Schleef spricht dieses „Mann, ich find dich Scheiße“ relativ hoch und lautstark. Nach diesem Satz soll ein mehrstimmiger, nicht eindeutig formierter Frauenchor einsetzen, der sich mit erhobenen Armen und dem Rücken zum Publikum in den Bühnenhintergrund bewegt. Kein einfacher Vorgang, weil die Bewegungsrichtung vom Publikum weg in den Hintergrund strebt und dazu neigt, sich zu ‚verkrümeln‘. Schleef unterbricht immer wieder. Er will den Chorausdruck steiler und kräftiger. Er kämpft um die Vertikale. Vielleicht im Hinblick darauf, daß DER WANDERER von den Auswirkungen einer familiären Katastrophe gezeichnet ist und dies eine Vergeltung, eine Abrechnung oder was auch immer nahelegt, unterbricht Schleef den Chor einmal mit der Klarstellung: „Das ist hier kein Hoppel-poppel wie im bürgerlichen Theater. Wir sind hier in der Tragödie!“
Die Tragödie ist in der Neuzeit und der Moderne, die sie gegen das Paradigma des Komischen ausgetauscht hat, unerreichbar geworden. Seither sind die Versuche nicht abgerissen, der tragischen Erfahrung dennoch eine Möglichkeit des Ausdrucks zuzuweisen. Aber die zwischen der Unendlichkeit (der Toten) und der Endlichkeit (der Lebenden) zerrissene Katastrophenstimme der Tragödie läßt sich im Bereich der schönen Kunst nicht repräsentieren. Sie gleitet in das Moralische ab, wird zur inneren Stimme des Gewissens oder breitet sich in den Formen des Trivialen und der Kolportage aus (was nicht ihre schlechtesten Überwinterungsmöglichkeiten sind). Sie wird in der unmöglichen Form von Kollektivsubjekten gedacht oder, radikal entsprachlicht, in der somatischen Reaktion des Körpers als Wirkung wahrgenommen. Schleef hat sich in solch groben Rastern nicht geäußert, aber sein Theater ist getragen von dem Versuch, die Trennung und wechselseitige Verarmung von Schauplatz (Theater) und Stimme/Musik (Oper) zu unterlaufen. In dieser Trennung ging nicht nur die Orchestra des Chores, sondern auch die Möglichkeit der Passion drauf. Für beide Felder hat sich Schleef brennend interessiert.
2. Hören & Sehen zum ersten
Ein langes Bild in einer Nachrichtensendung mit dem Namen Zeit im Bild um 19.30 Uhr im österreichischen Fernsehen. Das Bild zeigt einen Moment aus dem Ex-Jugoslawienkrieg: Ein verwüstetes Dorf, zerstörte Häuser, eine Frau, die sich gebeugt hält oder bückt. Manfred Moser, der Sprachphilosophie und Rhetorik an der Universität Klagenfurt lehrt, berichtet von dieser Szene im Fernsehen, daß in diesem kaum bewegten Bild, das die Sendung aufhielt, ein Singen zu hören war – nein, eher etwas wie Jammern und Quengeln oder ein Mittleres zwischen beidem. Die Stimme ging auf und ab. Manfred Moser vor dem Fernseher versuchte, dies zu notieren: i-e-i-e-i-e-i-e-i-e-i-e-i. Gleichzeitig folgte diese Stimme jedoch nur einer einzigen Linie, stur und schubweise. Er notierte: e-e-e-e-e-e-e-e-e-e-. Es war dieselbe Stimme, befand er, aber deutlich entzweit in linguistische und akustische Merkmale. Er gelangt aufgrund dieser Beobachtung zu der Meinung, daß es sich ‚ungefähr um Gesang‘ handele.
Nach einer Weile, die lang genug war, um dieses Bild in seiner Fremdheit zu bemerken, es aufzuschreiben (1996) und damit dem Gedächtnis anderer Leser oder Leserinnen zur Verfügung zu stellen, also nach einer Weile, die lang genug war, um solche merkwürdigen und dauerhaften Spuren zu zeitigen, griff in jener Fernsehsendung der Kommentator aus dem Wiener Studio ein, indem er sich mit seiner wohltemperierten Sprecherstimme über das Bild und seinen Ton warf mit dem Satz: „Eine kroatische Frau sucht in den Trümmern nach Wertsachen.“
Die übersprochene Tonspur ist damit augenblicklich entkleidet. Sie sackt in sich zusammen und wird zum Hintergrundgeräusch. Was haben wir jetzt? Ein Bild, das sich so geringfügig bewegt, daß es einem Standbild gleicht und ein Geräusch. Beides für sich und mehr noch in dieser Kombination bildet eine für das vom Bildwechsel und Schnitt lebende Medium Fernsehen unerträgliche, gleichsam tödliche Situation. Das Medium leidet.
In der von Moser beschriebenen Sendung naht Abhilfe in Gestalt eines landeskundigen, zweisprachigen Reporters, der mit einem Mikrophon in der Hand wie aus dem Nichts auftaucht und Fragen stellt: Wer war schuld? Wie ist es geschehen? Was wird das Opfer tun? Hier bleiben, das Haus wieder aufbauen? Oder fliehen? Und wohin? Die Kroatin im Bild beantwortete die Fragen des Reporters.
Während sie antwortete, mischte sich eine weitere, weibliche Stimme aus dem Off ein, um ihren Text zu übersetzen. Diese Off-Stimme reihte nach bewährter Manier Wörter an Wörter auf der Oberfläche aneinander – von maßlosem Unglück und von Gott war die Rede –, während die Stimme der antwortenden Kroatin sich im Bild nebenbei weiter herumtrieb, als lärmender Untergrund, als pure lautliche Materie.
Wollte man diesen anfänglich wahrgenommenen Rest an Sprache theoretisch erfassen, schreibt Manfred Moser, so könnte man sagen: Eine Frau singt in ihrer Muttersprache. Sicherlich sei es möglich, diesen Gesang mithilfe von Grammatik oder unter bestimmten systematischen Aspekten zu analysieren. Doch darum ginge es nicht. Denn zweifellos lag hier etwas im Untergrund verborgen, das die bewährten Grundmuster der Analytik sprenge: Die Matrix der Klage.
3. Das übersprochene Bild
In dem Moment, in dem die Stimme des Kommentators eingreift, werden sowohl das sich kaum bewegende Bild als auch die fremde Stimme augenblicklich entwertet. Sie werden zum Objekt eines Kommentars und können als übersprochenes Bild und als übersprochener Ton nicht mehr selbst Mitteilung machen. Sie sinken zur Kulisse und zum bloßen Geräusch herab. Vor dem Hintergrund dieser entwerteten und jetzt im Sinne des Mediums wertlosen Kulisse breitet sich das professionelle Sprechen des Mediums aus: Der Reporter als Dialogführer, die Übersetzerstimme aus dem Off. Sie binden die Szene auf Biegen und Brechen in eine grammatikalisch korrekt und logisch geführte Sprache zurück, die sich jedoch auf eklatante Weise von der Szene entfernt und ihren fremden Sinn verschließt. Dieses mediengerechte Sprechen, das heute immer stärker unseren Alltag durchdringt, bekämpft die Stille der Bilder, ihre Bewegungsarmut, ihre Spracharmut, ihre Flüchtigkeit, ihre Mehrdeutigkeit, ihren mangelnden Eklat.
Schleef hat diesen zwanghaften Ablauf zwischen Sehen und Sprechen zum Inhalt eines eigenen Theateraktes gemacht. Seine Inszenierung von Salome nach Oscar Wilde (1997, Schauspielhaus Düsseldorf) beginnt mit einem lange still stehenden Bild, in dem etwa 14 Schauspieler in der Form des perspektivischen Kegels nach hinten gestaffelt regungslos verharren. Ihre Kostüme lassen keine eindeutige Identifizierung zu, ebensowenig ihre Gruppierungen. Das Licht spielt mit der Wahrnehmungsgrenze des eindeutigen Erkennens. Es bildet Grauzonen und unscharfe Ränder. Hinten in der Mitte, also im Fluchtpunkt oder im Augenpunkt des Autors, war eine nackte männliche Gestalt zu erkennen, die im Nackenstand verharrte, während sie die Beine nach hinten gekippt hielt und auf diese Weise ihr Geschlecht entblößte, was sich jedoch aufgrund der Körperhaltung eher errechnen ließ, als daß es unter den Bedingungen der Sichtverhältnisse mit Sicherheit zu erkennen war.
Dieses Standbild der Schauspieler löste schon nach kurzer Zeit heftige Reaktionen im Publikum aus. Das Interessante an den Kommentaren war, daß sie das Muster des mediengerechten Ablaufs von Sehen, Sprechen und Bewegung einklagten: Anfangen! Ich will mein Geld zurück! Verarschen kann ich mich selber! Tut doch endlich mal was für euer Geld! Oder die Gegenreaktionen: Wenn du nichts davon verstehst, geh nach Hause! Das ist hier Kunst und nicht Fernsehen! Halt deinen Mund, du störst die anderen! Mir gefällt das Bild, halt deinen Rand! et cetera. Oder auch spontane Definitionen: Theater ist Bewegung im Raum! Das ist kein Theater, sondern Mißbrauch der Schauspieler!
Bei den ersten Aufführungen in Düsseldorf dauerte dieser Akt zwölf Minuten, bei der Aufführung im Rahmen des Berliner Theatertreffens waren es schon dreißig Minuten. Am Abend nach dieser Aufführung diskutierten die Schauspieler, diesen Akt auf vierzig Minuten auszudehnen. Sie hatten ein außerordentliches Vergnügen an diesem Bild und dem Vorgang, den es auslöste.
Das Interessante war, daß die Ebene der Publikumskommentare sich mit der Dauer des Bildes nicht wesentlich veränderte. Die Kommentare verblieben auf der skizzierten Ebene und klagten den Zwangszusammenhang von Sehen, Sprechen und Bewegung ein, diesen gut geschmierten Muskel, der im Illusionstheater den Ausdruck hervorbringt. Sie waren Kinder der bürgerlichen Arbeitsteilung zwischen Sehen und Sprechen, in der ein Bild zwanghaft nach einem Sprechen verlangt, welches unvollständig bleibt und daher auf ein nächstes Bild angewiesen ist. In diesem Wechselspiel und Zwischenraum werden Bedeutung und Ausdruck hervorgebracht. Je stärker Bedeutung und Ausdruck jedoch vorfabriziert sind, etwa durch die Konzeption einer Inszenierung oder den speziellen Horizont eines Regisseurs, um so mehr verflacht das Wechselspiel zu einem puren Mechanismus der Oberfläche. Nicht wer spricht ist die Frage, sondern wer hat was vor welchem Hintergrund oder mit welchem Requisit in der Hand gesagt? Bild und Wort bedeuten sich wechselseitig. Das Lesen gleicht dem Verfolgen eine Comics. Im Griff der Medien wird eines Tages der Schnitt die ganze Botschaft sein.
Schleef behandelte dieses Bild als eigenständigen Akt insofern, als danach der Eiserne Vorhang geschlossen wurde und, egal ob es sich um zwölf, dreißig oder vierzig Minuten handelte, eine große Theaterpause angesetzt wurde, bevor das Spiel von Salome begann, die vor ihrem begehrlichen Vater tanzt und dafür den Kopf des Propheten fordert. Was zwischen dem Vater und dem Propheten ausgespart bleibt, ist das Geschlecht des Mannes, das weder zu erkennen (Prophet) noch zu benennen ist (Vater), aber ausgestellt wurde im stummen Bild zu Beginn der Aufführung. Im Zentrum der Konstruktion solcher Geschichten, die den Namen einer Frau tragen, von der wir sicher sein können, daß sie in der nach ihr benannten Geschichte zugrunde geht.
4. Der übersprochene Ton
Ein anderer Aspekt der geschilderten Fernsehszene aus Zeit im Bild knüpft sich an den Inhalt des Kommentars, der die Szene benennt und ihr den Sinn zuschreibt: „Eine kroatische Frau sucht in den Trümmern nach Wertsachen.“ Es ist nicht auszuschließen, daß die im Bild zu sehende Frau danach suchte. Ebenso wenig ist jedoch auszuschließen, daß sie nichts oder nichts Bestimmtes suchte und ihre gebeugte Haltung eher eine Folge oder ein Ausdruck ihres eigenartigen Gesangs gewesen war. In diesem Fall wäre dem vorbeikommenden Fernsehteam die Frau also zufällig in die Augen gesprungen und es hätte sich auf die Schnelle seinen eigenen, medienträchtigen Reim auf sie gemacht. Die lange unkommentierte Einstellung zu Beginn dieser Szene spricht durchaus für diese Möglichkeit – bis sich die Studiostimme des Kommentators endlich über das Bild gelegt und damit die fremde Stimme, die darin zu hören war, bezwungen hat. Augenblicklich ist sie nicht mehr als ein Geräusch. Sie wird befragt werden und so ordentlich antworten, daß man sie übersetzen kann. Das jedoch was sie zuvor war, dieses Etwas zwischen Jammern, Quengeln oder Gesang, das einen Rhythmus hatte und auf Vokalen beruhte, die sich notieren lassen, das wird fort sein. Ihre Klage wird fort sein. Ihre Stimme mäandert als akustischer Müll im Hintergrund der Übersetzerstimme aus dem Off. Der Inhalt des Kommentars bezieht Stellung gegen die Möglichkeit der Klage. Aggressiv bekämpft er diese Möglichkeit, damit er selbst und die Regeln seines Mediums statt haben können.
Im selben Text führt Manfred Moser eine andere Klage-Szene an. In einem Krankenhaus drängten sich etwa dreißig oder vierzig Zigeuner durch die Gänge und bildeten einen schrillen Chor: Eines ihrer Kinder war gestorben. Ihre Klage übertönte jeden bekannten Gesang, obwohl Gesang und Klage die gleiche Intensität und Frequenz besitzen und in gleicher Weise durch Pressung des Kehlkopfs und Verkürzung des Ansatzrohres erzeugt werden. Doch jede Erklärung, so Moser, ginge in diesem Fall fehl, weil es unmöglich sei, den Ton dieser Klage zu treffen: Ein annähernd vokalloser und ohrenbetäubender Schrei, der sich nicht durch Buchstaben einrahmen läßt. Moser notierte „j-j-j-j-j-j-j-j-j“ und fügte sogleich hinzu, daß man ihn auf diese Weise nicht schildern könne. Es war, schreibt Moser, als führe ein harter, ganz gerader Riß, der dem unendlichen Raum entsprang, wo die Toten sind, durch den endlichen Raum, den die Lebenden für sich besetzten, und als störte er nun den gesellschaftlichen Frieden. Dabei sei jedoch sicher, daß die Störung nicht von der jämmerlichen Erfahrung eines Unterschieds zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt ausging, sondern von einem Zusammenprall herrührte.
Es geht im Zusammenhang mit der Arbeit Schleefs um diesen Riß, dessen Erfahrung eine äußerste Artikulationsmöglichkeit besaß in der Kultur der Klage, in der Katastrophenstimme der Tragödie und im Schweigen des Bildes.
Dieser Riß ist in einer langen Geschichte der Trennung von Ausdruckssystemen seiner Artikulationsmöglichkeiten beraubt worden, und die geschilderte Szene aus der Fernsehsendung zeigt genau, wie das unter gegenwärtigen medialen Bedingungen gemacht wird. Aber der Riß ist deswegen kein Deut weniger aktuell oder minder virulent. Damit entsteht an dieser Stelle ein Darstellungsproblem.
Das Beispiel aus der Arbeit Schleefs, das hier zu nennen ist, ist Ein Sportstück. Im Text Jelineks geht es auf der einen Seite um den endlichen Raum der Lebenden, konzentriert im Phänomen der Körperertüchtigung und des Trainings von lebendigen Körpern. Sport wird als ein eminent gesellschaftlicher Vorgang begriffen: Im Massensport und in der medialen Vermarktung des Sports verschmilzt die Gesellschaft der Lebenden mit der kämpferischen Verfassung und den kriegerischen Herkünften des Sports. Sport wird im Sportstück keinesfalls nur als Metapher benutzt, sondern als Austragungsort jener erbitterten Machtkämpfe von Organisationen, Marktstrategen und Medien gezeigt, welche die Sprache der Lebenden darstellen, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Zwecke zu erreichen.
Die Mittel bestehen vor allem in biochemischen Manipulationen der Sportkörper, die für den Sieg des (Medien-)Bildes manipuliert werden, die sich aber gleichzeitig für ihr Vorbild auch manipulieren lassen. Die drogierten Sportlerkörper bilden das vorläufige Ende jener langen Kette von rituellen Drogeneinnahmen, die seit jeher Gemeinschaften stifteten. Im Gegensatz zu der öffentlichen und gemeinsam geteilten Aufnahme der Substanz Christi im Abendmahl, vollzieht sich die Drogeneinnahme der Sportler jedoch einsam und im Verborgenen. Sie kann sogar mit Gefängnis geahndet werden, wenn sie öffentlich wird. Dennoch stiftet das Ritual des Drogenkonsums der Sportler Gemeinschaften wie ehedem, in diesem Fall die Gemeinschaft der Bilder verzehrenden Fernsehgesellschaft.
Die Kosten dieses Zusammenhangs trägt der Sportlerkörper. Er ist das Opfer dieser mediatisierten Gemeinschaftsbildung. Im Fall von Jelineks Sportstück ist es der Körper des steirischen Kraftsportlers Andreas Münzer, der an einer lang andauernden Überdrogierung starb.
Der gesamte Bereich, in dem dieser Körper in den Tod involviert ist, hat keine Sprache. Von biochemischen Reaktionen, die sich im Körperinneren abspielen und dem Versagen biochemischer Ketten gibt es kein Bild, kein Theater. Die Grenze des Todes, die dieser Körper permanent erleidet und überschreitet, ist ohne Möglichkeit der Artikulation. Damit ist ein immenses Ausdrucksproblem verbunden, zumal diese Form des Todes längst zum Modell des alltäglichen Todes, der uns umgibt, avanciert ist: Der Tod durch sogenanntes körperliches Versagen.
Für die Inszenierung nutzt Schleef zentrale Mittel seines Formenkanons, den er im Verlauf seiner gesamten Theaterarbeit entwickelt und, mit dem Bemühen um immer größere Klarheit, ständig weiterentwickelt und präzisiert hat. Zum einen geht es um das Prinzip einer Überhöhung der Figuren. Andi und seine Mutter wachsen ins Riesenhafte. Die Mutter erscheint auf Kothurnen oder in riesige Röcke gewandet, stets als Einzelfigur. Andi wird als Prototyp des Kindes, von denen es viele gibt, aufgefaßt. Daher erscheint Andi als Chor, hier als Chor der von ihren Müttern auf die Überholspur geschickten Kinder. Der Chor selbst ist zum einen Figur und gleichzeitig Form und Mittel, mit denen zwischen Worten wie „Müsliriegel“, „Riegelführer“ und „Mutterkuchen“ etwas hörbar gemacht werden kann, was die Artikulation der Passion erlaubt.
Im Zentrum der Inszenierung wird der Choral O Haupt voll Blut und Wunden aus der Matthäuspassion gesungen. Er verhält sich zur Inszenierung wie ein Emblem im Sinne des Barock mit den Zeilen: „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn / … / O Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret; gegrüßet seist du mir.“ Emblematisch läßt sich dieser Choral auf die Welt des preisgekrönten, hoch geehrten Sportlers beziehen, der durch die schäbige Geschichte, die auf der Rückseite der Bilder spielt, verhöhnt wird, Passion und Tod erleidet. Diesen Toten grüßend zu empfangen aber obliegt dem Chor und vermag einzig der Chor.
5. Hören & Sehen zum zweiten
Warum hat der Chor, so wie Schleef ihn für das Theater neu erfunden hat, diese ungeheuerliche Möglichkeit – nicht die Prozesse zu zeigen, die alltäglich tödlich und unsichtbar sind – sondern die Passion, den Aufschrei, die Klage hörbar werden zu lassen? Auf die Dimensionen, die das Bergwerk Einar Schleef mit dieser Möglichkeit des Chores in Bewegung versetzte, sei hier wenigstens andeutungsweise hingewiesen.
Die Einführung oder Wiedereinführung des Chores bildet einen direkten Angriff auf die entscheidende Trennung, die unsere modernen Ausdruckssysteme und -bedingungen bis heute zementieren. Aus dem frühen 17. Jahrhundert datiert die Auseinanderdividierung von Sehen und Hören, von Schauspiel und Stimme in ihren je eigenen Theatern, die sich in der Form zweier Totgeburten festfuhren, im Guckkasten und in der Oper – was natürlich nicht heißt, daß man die in ihnen leidenschaftlich erkämpfte Kunst des Ausdrucks nicht lieben kann. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
In dieser Trennung ging die Orchestra als Ort des Chores, sowohl in architektonischer als auch in systematischer Hinsicht verloren. Die Orchestra gehörte zu einem Theater, das sich als ganzes als eine Anlage in der Vertikale wußte. Die Hauptachse der Kommunikation organisierte sich im offenen Horizont über dem Theater. Weit ab von der erst mit der christlichen Vorstellung aufkommenden Frage, ob man von ‚dort oben’ gehört oder gesehen würde, war die Öffnung in die kosmische Dimension wesentlich. Mit der Überdachung von festen, stabilen Theateranlagen im späten 16. Jahrhundert, mit dem Einzug des Theaters in geschlossene, fensterlose, gegen das Außenlicht abgedichtete Baukörper wird der Horizont in der Horizontale organisiert, auf der Leinwand, die den Abschlußprospekt bildet. Aber, so Merleau-Ponty, „die Leinwand hat keinen Horizont“.
Vor der Wirkung dieses nur im Bild behaupteten ‚Horizonts‘ gerät alles zur Kontur, zum Dekor, zur äußeren Bildwirkung, gegen die der moderne Schauspieler seinen lebenslangen, existentiellen Kampf antritt. Vor der Bildwirkung dieses ‚Horizonts‘ geriet auch der Chor zur monumentalen Kulisse (in der Oper etwa).
Die Schleefschen Chöre brechen aus dem Gefängnis dieser bildhaften Wirkung aus. Von daher heißt es zuerst: Der Chor ist das Sprechen. Die Ablösung vom audiovisuell gelenkten Sinn der Sprache beginnt schon in dem Moment, wo zwei gleichzeitig denselben Text sprechen. Wir hören dann nicht mehr nur die Oberfläche, sondern etwas dazwischen. Im Rhythmus der Sprache ergeben sich Aufmerksamkeiten, die nicht mehr nur dem Mittel der Sprache folgen, ihren Logiken und ihren Zwecken der Mitteilung. Vielmehr läßt eine plötzlich eintretende Asymmetrie von Sprache und Sinn, wie sie das gleichzeitige Sprechen von mehreren darstellt, plötzlich ein Sprechen hinter der Sprache hören. Eine Mitteilung für sich anstelle einer Mitteilung mittels Sprache. Etwas wie einen Gesang in der Muttersprache, welche für alle verschieden ist.
6. Etwas
In der Philosophie wird die Möglichkeit der Wahrnehmung von etwas, das hinter oder zwischen dem manifesten Sinn der Sprache im Sprechen aufscheint, als ihre akroamatische Dimension bezeichnet. Das leitet sich von gr. akro astai her, das heißt: hören lassen, vernehmen, auf etwas hören im Sinne von achten. Es handelt sich um ein zwischen Sprechen und Hören spielendes Verstehen.
Wir verstehen dann etwas, was sich nicht sagen läßt. Wir verstehen etwas, das sich als dieser Riß durch unser Leben zieht und das andauernd, gegenwärtig sowie unabhängig von unserer mehr oder weniger gelingenden Aktualität ist. Etwas, das früher die Kultur der Klage, die Katastrophenstimme der Tragödie, das Schweigen des Bildes artikulierte. Etwas, von dem zuletzt der Barock eine starke Ahnung hatte, wenn es zum Beispiel in der Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen von Johann Sebastian Bach in der Arie des Basses lautet – ich zitiere den gesamten Text dieser Arie, der aus einem einzigen, sehr kurzen, dreiteiligen Satz besteht: „Bereite dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben.“
Das Wörtchen ‚denn‘ zeigt üblicherweise Ursache-Wirkung- oder Mittel-Zweck-Relationen an. Dieses denn läßt sich jedoch auf alles oder nichts beziehen und verliert damit seinen logisch begründenden Status. Ebenso wenig wie eine Ursache zeigt es Zweck oder Mittel an. Der Tod als Ende jeglicher Wirkung und Zwecke ist solchen Relationen entzogen. Das denn in diesem Text ist barock. Etwas, das sich als Riß durch unser Leben zieht, ist darin zu hören. Etwas zwischen Laut und Bedeutung, denn dieses Wörtchen vermag wohl gesprochen und gehört zu werden, aber hinsichtlich seiner Bedeutung entzieht es uns den Grund und macht einfach nichts. Macht nichts.
Dieses barocke denn ist verbunden mit dem Raum und der Möglichkeit der Passion. Darin gleicht es dem Chor.
BIBLIOGRAFIE
Jelinek, Elfriede: Machts nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinbek bei Hamburg 1999.
Moser, Manfred: „Voice-Over. Über den Balkankrieg, die Lage der Nation und das Wetter“. In: Wer inszeniert das Leben? Modelle zukünftiger Vergesellschaftung, hg. v. Frithjof Hager; Hermann Schwengel. Frankfurt a.M. 1996, S. 111-120.
Riedel, Manfred: Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1990.