Im Zentrum des nachfolgenden Artikels stehen Überlegungen zum Zusammenhang von Shoah und Darstellung. Mit Emmanuel Lévinas, Jean-Luc Nancy und Giorgio Agamben möchte ich drei theoretische Positionen einer Ethik der Undarstellbarkeit bzw. Unsagbarkeit vorstellen, in deren Kern das Paradox steht: man kann nicht darstellen, muss aber darstellen. W. G. Sebalds AUSTERLITZ und Art Spiegelmans MAUS möchte ich anschließend auf ihre Strategien hin untersuchen, mit diesem Paradox umzugehen.
I. Vom Selben zum Anderen
„Was immer wir tun: es ist immer auch ‚Darstellung’.“[1] Auch wenn (vor allem der frühe) Emmanuel Lévinas sich nicht als Darstellungstheoretiker versteht,[2]so kann dennoch die These Christiaan Hart Nibbrigs als ein Schlüssel zu seinem gedanklichen Gebäude dienen: Vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts begreift Emmanuel Lévinas[3] das humanistische Subjekt als ein dem Anderen gegenüber tendenziell gewalttätiges, da es diesen nur aus einer Perspektive der Identifizierbarkeit (= Darstellbarkeit) heraus betrachtet. Während die abendländische Philosophie den Menschen als Grundprinzip alles Seienden bestimmt, versteht Lévinas die Stellung des Menschen im Sein als Wille, als Sein-Wollen.[4] Sinnbild einer solchen Weltzuwendung ist für Lévinas Odysseus, der trotz all seiner Fahrten in die Fremde doch immer nur zu seiner Geburtsinsel zurückkehrt. Sein, In-der-Welt-Sein ist für Lévinas in Wahrheit er-fassen, be-greifen, wahr-nehmen, also An-eignung. Lévinas’ Philosophie versucht demgegenüber, das Subjekt nicht länger aus einer Ordnung der Ontologie, sondern aus einer Ordnung der Ethik heraus neu zu denken:
Gibt es ein Bedeuten von Bedeutung, das nicht auf die Verwandlung des Anderen in das Selbe hinausläuft? […] Die heteronome Erfahrung, die wir suchen, wäre eine Haltung, die sich nicht in kategoriale Bestimmungen konvertieren kann und deren Bewegung zum Anderen hin sich nicht in der Identifikation wiedergewinnt, eine Bewegung, die nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt.[5]
Lévinas bedient sich des Begriffs der Spur, um den Unterschied zwischen einer dem Ich wahrnehmbaren Welt und einer unbegreiflichen Transzendenz zu beschreiben. Um die Spur aus der Fixierung auf begreifbare Phänomene herauszulösen, grenzt Lévinas sie vom Zeichenbegriff ab. Eine zeichenvermittelte Erkenntnis wird durch einen vertrauten, konventionalisierten Verweisungszusammenhang hergestellt, in dem man etwas durch etwas anderes zu verstehen meint. Zeichen, die solchermaßen einer dem Ich vorgängigen Welt angehören, stehen vor allem im Dienste von Mitteilungen. Zeichen funktionieren somit im Sinne einer ‚Philosophie des Selben’, welche den oder das Andere aus der Perspektive der Identifizierbarkeit heraus betrachtet. Sie überführen das Abwesende (Signifikat) qua Repräsentation (Signifikant) in Anwesenheit und machen es damit dem Erkenntnishorizont in der Perspektive des Selben verfügbar. „Alles Wissen um das Hier ist schon Wissen für mich, der hier ist.“[6] Mit Lévinas gedacht kann der Andere zwar als Zeichen gelesen werden, er begegnet uns darüber hinaus und vor allem aber immer als Spur. Während das Zeichen das Abwesende in die Immanenz überführt, bedeutet die Spur jenseits des Seins, sie führt zu nichts hin, das identifizierbar, erkennbar oder verstehbar wäre.
Der Andere, „der erreicht wird, ohne sich als berührt zu erweisen“[7], zeigt sich als Bedeuten jenseits von Bedeutsamkeit, als Antlitz. Darstellungstheoretisch ist dieser Begriff spannungsgeladen, bezeichnet er einerseits das menschliche Gesicht und wird bei Lévinas doch gerade als „dem eigenen Bild entkleidet“[8] verstanden. Kraft seiner Epiphanie als Antlitz hört der Andere auf, eine wahre Vorstellung, ein Zeichen zu sein, über welches das Identitätsprinzip des Bewusstseins zu verfügen in der Lage wäre. Was sich im Antlitz ausspricht, ist kein Bedeuten im Sinne einer Bezeichnung, sondern die Sterblichkeit und Verletzlichkeit des Anderen, die mich angeht (me regarde)[9]und eine ethische Bewegung im ‚Ich’ auslöst. Das Lévinas’sche Antlitz beschreibt also etwas Undarstellbares, das zugleich Fundament aller ethischen Beziehungen ist und der Darstellung nicht nur stets eingeschrieben bleiben muss, sondern sich ausschließlich als deren Anderes zeigt – und zugleich noch anders bleibend.
II. Pas Perdu
Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die Erzählung[10] AUSTERLITZ von W. G. Sebald auf ihre Darstellungsstrategie hin untersuchen. Erzählt werden die Begegnungen eines namenlosen Ich-Erzählers, der zum fast stummen Zuhörer und Chronisten der sich langsam enthüllenden Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz wird: Als kleines Kind wird dieser von seinen Eltern aus Schutz vor dem Einmarsch der Nazis in Prag auf einen Kindertransport nach England geschickt, wo er aufwächst, ohne sich seiner ‚wahren’ Identität zu erinnern. Erst nach mehreren Zusammenbrüchen beginnen ihn Bruchstücke seiner Erinnerung auf die Spur seiner Vergangenheit und in die Gegenwart von Prag, Theresienstadt und Deutschland zu führen. Auf formaler Ebene stellt sich AUSTERLITZ als Konglomerat vieler teleskopisch gestaffelter Teilgeschichten heraus, die alle aus der Ich-Perspektive erzählt werden und gleichberechtigt nebeneinander stehen, ja nicht einmal durch Anführungszeichen voneinander abgehoben sind, so dass sich beim Lesen immer wieder Zweifel darüber einstellt, wer gerade ‚Ich’ sagt und die Geschichte erzählt. Sebald beschreibt das Verhältnis seines Erzählers zu den Erzählfiguren, aber auch zu sich als Autor als ein „Gefälle, das eigentlich aus seinen schwindelnden Übergängen heraus produktiv werden sollte“[11]. Mit dem Begriff des Schwindels rekurriert Sebald an dieser Stelle nicht nur auf das Oszillieren der erzähltheoretischen Instanzen (er betreibt kein „raffiniertes Verwirrspiel“[12]), sondern er bedient sich bewusst eines Verfahrens, das Topoi wie Wahrheit oder Ontologie entgegengesetzt ist. Unter Bezugnahme auf Lévinas könnte man davon sprechen, dass die Ich-Aussagen in Sebalds Texten keine kohärenten Identitäten erzeugen, die als ‚Selbstheiten’ verstanden werden können. Während der Ich-Erzähler kaum jemals von sich selbst spricht, ist die infinite Suche nach seinem ‚Selbst’ gerade Austerlitz’ Geschichte. Diese impliziert die Auflösung eines vermeintlich stabilen ‚Ich’ gegenüber einem ‚Du’, welches nach dem Prinzip des Selben erschlossen werden könnte. Dies mag eine Begründung dafür sein, warum die zweite Person Singular in der Erzählung nicht vorkommt, nicht vorkommen kann.[13] Die Sebald’schen Figuren sind Selbst-los, greifen ineinander, oszillieren zwischen ‚Ich’ und dem Anderen. Gleichzeitig ist Sebalds poetologisches Verfahren nicht als Einebnung des Abstands zwischen den Figuren zu verstehen. Vor diesem Hintergrund muss das Verfahren verstanden werden, in dem der Ich-Erzähler penibel über Ort und Art seiner Treffen mit Austerlitz Auskunft gibt. Sebalds Annäherung an Geschichte bzw. an Geschichten geht es immer auch um die Reflexion der letztlich nicht überbrückbaren Distanz zwischen dem Selbst und dem Anderen. Deswegen muss der Erzähler in AUSTERLITZ seine Funktion als Chronist auch nicht verschleiern – es ist vielmehr diese Funktion, die verhindert, den Ort des Anderen zu usurpieren und damit letztlich zu verfehlen.
Das Verhältnis zum Anderen […] ist ein spezifisches, auf keinerlei Reziprozität zurückzuführendes Geschieden-Sein, jedoch als solches nicht ein desinteressiertes Nebeneinander-Sein, sondern […] ein souveränes Uneins-Sein, das ‚mehr ist als das Eins-Sein’, denn ‚gerade dieses Zu-Zweit-Sein’ mit dem Anderen ‚ist das Menschliche’ […]. Nicht im Erkennen, nicht im Benennen des Anderen, auch nicht in der ‚Verschmelzung’ mit ihm, schon gar nicht in der Gewaltsamkeit des Wollens oder Habens wird das Ich dem Du gerecht; der Andere ist niemals zu besitzen, man muss vielmehr von ihm ‚besessen’ sein […].[14]
Eine so gedachte Ethik geht von der Unmittelbarkeit aus, mit welcher der Andere auftritt. Dieses Unmittelbare der Beziehung ist nach Lévinas die Rede, das Sagen. Für Lévinas steht fest, dass das Verhältnis von ‚Ich’ und ‚Du’ allein zu transzendieren ist, indem man den Anderen „ohne Antwort zu erwarten, in die Diachronie des Dialogs einbezieht als den, der einem vorgeordnet ist, als den, der einem vorangeht und lediglich durch seine Spur sich ausspricht“[15]. Dies ist nach Lévinas die eigentliche Subjektivation (Unterwerfung, aber auch Subjekt-Werdung): Nicht In-Der-Welt-Sein, sondern Infragegestellt-Sein. Positiv gewendet: Zum-Antworten-aufgefordert. In dem Moment des Angesprochen-Seins durch den Anderen ist jedes ‚Ich’ in seiner Antwort, seiner Verantwortung unvertretbar und unersetzbar.
Bereits die erste Begegnung des Erzählers mit Austerlitz stellt das Prosawerk AUSTERLITZ unter das Signum dieser Verantwortung: Die Reisenden im Wartesaal der verlorenen Schritte (Salles des pas perdus) scheinen dem Erzähler „irgendwie verkleinert“[16], so, als wären sie „die letzten Angehörigen eines reduzierten, aus seiner Heimat ausgewiesenen oder unter-gegangenen Volkes. […] Eine der in der Salle des pas perdus wartenden Personen war Austerlitz“[17]. Wenn der Erzähler schließlich an Austerlitz herantritt, so in dem Bewusstsein, „daß Alleinreisende in der Regel dankbar sind, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden“[18]. Lévinas zufolge ist Sprache nicht Bedingung für die Kommunikation der Menschen untereinander, sondern entsteht aus dem Kontakt mit dem Anderen. Entsprechend seiner Unterscheidung von Zeichen und Spur differenziert er auch zwischen einer Sprache, die eins ist mit den Vorstellungen, und einer Sprache, die als die Möglichkeit bezeichnet wird, „unabhängig von jedem den Gesprächspartnern gemeinsamen Zeichensystemen in Beziehung zu treten“.[19] Diese Sprache ist Nähe oder Berührung. Die Antwort des Ich-Erzählers auf Austerlitz ist sein Eintritt in den Dialog, der nur vermeintlich monologisch strukturiert ist und dessen Ziel kein informativer Austausch ist, sondern eine Nähe, in welcher Austerlitz sich aussprechend als Anderer anerkannt wird. Der Antwerpener Bahnhof Salle des pas perdus wird damit (in der zweiten Bedeutung seines Namens) auch zum Ort der nicht Verlorenen
Dieses Darstellungsverfahren setzt Sebald über die in den Text eingelassenen Photographien fort. Bereits in der oben geschilderten Episode erfahren die LeserInnen, dass die Photographien von Austerlitz „zum Andenken“[20] an den Ich-Erzähler übergeben und von diesem in seine Geschichte eingewebt worden sind. Die Photos mögen zwar als Auslöser einer Erinnerungsarbeit von Protagonist und LeserInnen dienen (dem Patience-Spiel Austerlitz’ ähnelnd, während dem sich immer neue Korrespondenzen zwischen den Bildern auftun), ihnen wohnt jedoch eine „Gegenströmigkeit“[21] inne. Den Motiven scheint keineswegs die Vorstellung inhärent, man könne durch sie etwas erfassen: Die verschlossenen Türen von Theresienstadt mögen am deutlichsten zeigen, dass Sebalds Photographien die Einsicht versperren und stattdessen einer dem Anderen nachspürenden Lektüre stattgeben.
„Die Dinge affizieren uns als von Anderen besessen. […] Die Dinge als Dinge beziehen ihre erste Unabhängigkeit aus der Tatsache, daß sie mir nicht gehören – und sie gehören mir nicht, weil ich in einem Verhältnis zu den Menschen stehe, von denen sie kommen.“[22]
Austerlitz überantwortet dem Erzähler zum Abschied seine Bilder, „die als einziges übrig bleiben würden von seinem Leben“[23]. Doch schon während der Erzähler ihre erste Begegnung schildert, erzählt er davon, dass er die Bilder „von den inzwischen ganz verdunkelten Spiegeln“[24], die Austerlitz im Salle des pas perdus aufnimmt, im Bildernachlass nicht auffinden kann. Die Bilder blinder Spiegel, die das Ab- und Vorbild des Selbst verweigern, die nur als Zäsur im Andenken an Austerlitz gedacht werden können, sind dennoch nicht verloren.
Aus dem Nachlass von W. G. Sebald. Notizbuch mit einem „zum blinden Spiegel verblichenen Foto“.
Bildnachweis: Marbacher Literaturarchiv (Hg.): Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt.
AUSTERLITZ nimmt die LeserInnen mit auf eine Reise, die niemals beim Anderen ankommt, aber auch nicht zu sich selbst zurückführt. Die Erzählung endet in der Fremde, in Breendonk, bei den „letzten Nachrichten“[25] von zu Tode gekommenen Gefangenen der Deutschen in eroberten russischen Festungen im Jahr 1944. Unter diesen „Max Stern, Paris, 18.5.1944“[26]. Die von Lévinas formulierte Furcht, „im Da meines Daseins* einem anderen den Platz zu rauben“[27], die den Kern seiner ethischen Subjektkonzeption bildet, findet hier ihren Ausdruck: Max ist der Rufname von Sebald, der 18.5.1944 sein Geburtstag. AUSTERLITZ lässt spüren, wie untrennbar Begegnungen mit der Vergangenheit und dem Anderen miteinander, aber auch mit unserer eigenen Position, unserem Selbstverständnis verwoben sind. Der Erzählung ist der ethische Appell inhärent, den Zugang zur Welt nicht nach dem Modell der Aneignung zu betreiben, sondern sich auf die Suche nach Spuren zu begeben, deren Botschaft nie Ontologie ist, sondern immer schon Schwindel.
III. Das Darstellungs-/ge-/verbot
Die Frage der Darstellung wird von Jean-Luc Nancy ins Zentrum (s)einer Auseinandersetzung mit der Shoah gestellt. Das jüdisch-christliche Darstellungsverbot ist für ihn Referenz für eine genealogische Untersuchung der Unrechtmäßigkeit einer Darstellung von Auschwitz. Nancys Ausleuchtung taucht dieses Verbot in ein neues Licht: Die ikonoklastische Auslegung des Darstellungsverbots übersieht nämlich, dass das Verbot nur eine bestimmte Lesart des Bildes verurteilt: das Götzenbild, welches nicht als Darstellung eines Gottes funktioniert, sondern hergestellter Gott ist und damit eine in sich abgeschlossene, vollendete Präsenz. Zulässig hingegen sind Bilder, welche ihre Wahrheit nur im Entzug ihrer Präsenz darbieten, als Absens (eine Wortschöpfung, die zwischen Nicht-Sinn und Abwesenheit changiert). Als ‚Bühne’ dieser Problematik beschreibt Nancy nach dem Christentum auch die Kunst seit der Renaissance. Die Geschichte der Repräsentation ist von einer Spaltung durchzogen: einer Absenz des Dings (Problem der Reproduktion) und einem Absens im Bild (Problem der Repräsentation). Die Repräsentation ist nicht als Reproduktion des Dings zu verstehen, sondern als Darstellung im Verhältnis zu Absenz und Absens, welche die Präsenz begründen und gleichermaßen aushöhlen. Vor diesem Hintergrund muss das Dogma der Undarstellbarkeit der Shoah zunächst zwischen verschiedenen Formen der Darstellung differenzieren und zugleich thematisieren, wie der „Erfolg der Lager“[28] in den Kern der Darstellbarkeit selbst zielt. Nancy beschreibt die Shoah als „letzte Krise der Darstellung“[29]. Dabei geht es ihm nicht um darstellerische Verfahren oder Techniken, sondern er versteht Darstellung als Synonym für „die Anordnung, […] die gewöhnlich Abendland genannt wird“[30], welche im nationalsozialistischen System der Über-Repräsentation ihre Vollendung findet. Dass Darstellungsfragen im ideologischen und praktischen Dispositiv des Nationalsozialismus’ eine ausschlaggebende Rolle spielten, kulminiert im Begriff der ‚Weltanschauung’[31]. Die nationalsozialistische Kultur erzeugt eine Vision von Welt, die bruchlos, restlos und in Gänze vor Augen gestellt werden kann. Am Ursprung dieser Anschauung steht der Arier als Übermensch, der die Natur jener sich selbst erschaffenden Menschheit ist. Der arische Körper ist mit der Idee einer restlosen Präsenz identisch, ist totale Verkörperung der nationalsozialistischen Idee und damit Kulturbegründer par excellence. Diesem Typus (als Verkörperung des rassisch kodierten Nazi-Mythos) gegenüber wird der Jude nicht einmal als Anti-Typus, vielmehr als die grundsätzliche Abwesenheit von Typus überhaupt konstruiert. Der NS-Ordnung als integralen Präsenz, die auf nichts verweist als auf ihre Anwesenheit und Unmittelbarkeit, steht der Jude als Kulturzerstörer gegenüber, der keine eigene Anschauung hat und damit die authentische Präsenz des arischen Volkskörpers fraglich werden lässt. Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen der Verwirklichung der authentischen Präsenz durch die Vernichtung der „Fraglichkeit der Darstellung“[32].
Die Welt (= Lager)-An-Schauung, das Schauen als Institution, die das Sein formt, wird als Blickstrahl konzipiert, der nur sich selbst sieht – Nancy begreift das Lager als „Bühne“ und die „Dramaturgie“ der Lager als reine Selbst-Darstellung. Im Zentrum der Lager siedelt Nancy den Chiasmus zweier Gesichter an: Das Gesicht des lebendigen Toten (der Muselmann) und das mit einer Totenkopfmaske bedeckte Gesicht der SS. Im Willen, das zu präsentieren, was außerhalb der Präsenz liegt, den Tod nämlich, ergötzt sich die SS an der (Ent-/Ge-)Sichtung[33] der unzähligen Toten, als könne sie den Blick in den Tod richten. Der Tod als Nicht-Anzueignendes wird „geraubt“[34] – dies setzt voraus, dass der Tod nicht mehr in die Darstellung einzubrechen vermag, was Nancy unter Rückgriff auf Améry beschreibt: Das Sterben war zwar allgegenwärtig, aber der Muselmann[35] kann seinen eigenen Tod nicht mehr fassen. Seiner Darstellungsmöglichkeit, seiner Anschauung (als Ideen- oder Bildordnung) beraubt, wird der Muselmann zu einer „eingemauerten Präsenz“[36] vor dem Henker. Das Opfer hat keinerlei Darstellungsraum mehr, der Henker nur das Ziel der Vernichtung dieses Darstellungsraums:
In Auschwitz wurde der Darstellungsraum zerdrückt und auf die Präsenz eines Blickes verkürzt, der sich den Tod aneignet, indem er sich vom toten Blick des anderen imprägniert – ein Blick, der mit nichts anderem gefüllt ist als einer dichten Leere, in welcher die vollständige Weltanschauung implodiert.[37]
Die Frage einer Darstellbarkeit von und ‚nach’ Auschwitz muss mit Nancy vor dem Hintergrund der Hinrichtung (als restlose Ausrichtung wie Erschöpfung) der Darstellung stattfinden. Es ist unmöglich, das zu zeigen, was jede Möglichkeit des Bildes tötet, es sei denn, man wiederholt die Geste des Mordes. Zu denken bleibt eine in Frage gestellte Darstellung, die die Anwesenheit dessen sichtbar macht, was die Präsenz spaltet und auf ihre eigene Absenz hin öffnet. Nancys erstes ethisches Axiom besagt also, dass es notwendig ist, Darstellung als etwas zu denken, was offen und unvollständig ist, dass dieser Spalt der Repräsentation jedoch nicht als Objekt gezeigt werden darf, sondern der Darstellung selbst eingeschrieben sein muss.
IV. My Father Bleeds History
Der zweiteilige Comic MAUS (1978 – 1991) von Art Spiegelman gewann 1992 den Pulitzer Preis. In den beiden Teilen MY FATHER BLEEDS HISTORY[38] und AND HERE MY TROUBLE BEGAN erzählt Vladek Spiegelman, der 1944 mit seiner Frau Anja nach Auschwitz deportiert wurde, seinem Sohn, dem Comic-Zeichner Artie, Ende der siebziger Jahre in mehreren Gesprächen die Geschichte seines (zufälligen) Überlebens. Besonders im zweiten Band reflektiert Artie das Verhältnis zu seinem Vater, aber auch die Frage der Darstellung und sein Verhältnis zum publizistischen Erfolg des ersten Bandes.
Zwei Charakteristika des Comics erscheinen mir bemerkenswert. Zum einen ist die Simultanität zweier Zeitebenen von Bedeutung: Die Gegenwart des Erzählens als vermeintliche Autobiographie des Sohnes und die Vergangenheit des Erzählten als Zeugnis des Vaters. In MAUS wird Geschichte geschrieben, indem das Zeugnis des Vaters durch den Sohn bebildert wird. Augenscheinlichstes Merkmal dieser Bebilderung ist die Tatsache, dass alle Figuren in MAUS als Menschenkörper mit Tierköpfen dargestellt werden, wobei es sich genau genommen um Tiermasken handelt, die als Schlüssel zu der Frage begriffen werden können, wie MAUS die Frage einer Darstellbarkeit von und nach Auschwitz verhandelt. Die Kritik hat MAUS vorgeworfen, Spiegelmans Tiermetaphern (die Juden als Mäuse, die Nazis als Katzen, die Polen als Schweine) würden den Rassismus der Nazis affirmieren oder die Shoah zu einem quasi ‚natürlichen’ Ereignis machen – Katzen fräßen nun mal Mäuse. Betrachtet man die Tierköpfe in MAUS jedoch genauer, fällt auf, dass sie höchst schematisch gezeichnet sind und im eigentlichen Sinn keine Gesichter darstellen, weil man die Figuren nicht mit ihrer Hilfe auseinander halten kann. Dies findet seine Fortsetzung in der Entdeckung, dass in manchen Szenen die Tierköpfe tatsächlich aufgrund eines Verschlussmechanismus’ als Masken zu erkennen sind: Während Vladek immer wieder davon berichtet, dass er sich als Pole ausgegeben hat (und folglich mit einer Schweinemaske über seinem Mäusekopf gezeichnet wird), erscheint Arties Mausegesicht in mehreren Szenen als Maske, hinter der Haare und ein unrasierter Bart erkennbar werden. Die vermeintlichen Tiergesichter sind also Masken, die auf ein ‚Dahinter’ verweisen, dass sie allerdings niemals enthüllen. Was also wird durch die Masken (im Sinne eines ‚davor’) vorgestellt? In DER NAZI-MYTHOS[39] bezeichnen Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe den Nazismus als Mythos des Mythos, d. h. als Mythos von der schöpferischen Kraft des Mythos’. Die mythische Kraft ist wie die der Projektion eines Bildes (z. B. der Arier), mit dem man sich identifiziert. Der Mythos ist also eine Fiktionierung, dessen Rolle es ist, Modelle oder Typen vorzuschlagen, durch deren Nachahmung das Individuum sich selbst fassen und identifizieren kann. Der Typus, indem sich der Mythos verkörpert, ist zugleich das Modell der Identität und seine gegebene, wirklich geformte Realität.[40] Die Funktion dieses mythischen Identifizierungsapparats erfüllen die (immer wieder unsichtbaren) Tiermasken in MAUS. Während Bachtin oder Caillois kultische Masken als Öffnungen des Körpers beschreiben, sind die Masken in MAUS vielmehr regulative, abgrenzende Identifizierungen, die immer wieder unsichtbar werden, d. h. ihre Existenz als Masken nicht zu erkennen geben, sich als Identität naturalisieren. Gleichzeitig macht MAUS dieses Verfahren in seiner Darstellungsweise ansichtig: Statt der Frage eines ‚wahren’, ontologischen Dahinters zu verfallen, also die Tiermasken abzuschaffen, wirft Spiegelmans Comic vielmehr die Frage nach den Kräfteverhältnissen auf ihrer Oberfläche auf. So kann in MAUS die weltanschauliche Strategie der Nazis zum Ausdruck gebracht werden, ohne dass Spiegelman sie reproduzieren würde: Die Masken erscheinen im Nancy’schen Sinne als Bilder, welche von ihrem Grund abgehoben und entbunden sind.
Dieser Spalt in der Darstellung wird auch im Erzählen des Comics thematisiert. MAUS wird als Ergebnis eines Zeugenberichts vorgestellt (Vladek), das jedoch durch Artie bebildert wird. Ein-Bildungskraft (zwischen sich einbilden und bebildern) als Voraussetzung jeder Darstellung wird bei Nancy nicht als die Fähigkeit begriffen, Abwesendes darzustellen, sondern vielmehr als die Kraft, die Form aus der Abwesenheit in die Präsenz zu ziehen, also in die Vorstellungskraft. Dabei geht es nicht darum, dem Ereignis seine Realität zu nehmen, sondern die Verhandlung dieser Realität als eine diskursive und die Vermittlung als eine Frage von Darstellung zu bestimmen – immer wieder thematisiert Artie im Comic die Suche nach einer geeigneten Darstellungsform. Das Verhältnis von Bildern und Gewalt wird nicht nur für die historische Situation, sondern auch für die konkrete Comic-Zeichnung u. a. in jener Episode thematisiert, da Vladek seinem Sohn von den Selektionen in Auschwitz berichtet.
„Gesicht nach links“ zitiert Vladek und demonstriert seinem Sohn, wie er seinen Körper vor der SS von allen Seiten präsentieren musste. Dabei dreht er sich entgegen dem Uhrzeigersinn quasi in der Zeit zurück: Im letzten Bild steht er nackt und abgemagert nicht länger vor seinem Sohn, sondern vor Dr. Mengele und einem SS-Offizier. Diese (verstörende) Parallelisierung der Position von Artie und den Nazis darf aber nicht als Gleichstellung missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine aufzeigende Assoziation, durch die Spiegelman seine einbildende Machtposition gegenüber dem Zeugnis des Vaters aufzeigt. Durch diese Strategie wird in MAUS die Geschichte des Vaters nicht als in sich abgeschlossene Realität präsentiert, sondern die Fraglichkeit der Darstellung bleibt der Darstellung eingeschrieben.
V. Was bleibt von Auschwitz?
Dem Diktum der Undarstellbarkeit der Shoah setzen W. G. Sebald und Art Spiegelman Darstellungsstrategien entgegen, in deren Kern eine Lücke wie eine offene Wunde klafft. Diese Wunde lässt sich mit Giorgio Agamben als Zeugnis bestimmen. Mit dem dritten Band seiner HOMO SACER-Reihe fragt er danach, „was von Auschwitz bleibt“ und möchte eine „ethische und politische Bedeutung der Vernichtung“[41] erarbeiten. Im Zentrum dieser neuen Ethik situiert er das Zeugnis, die Aporie von Auschwitz: Die Überlebenden legen Zeugnis für etwas ab, das nicht bezeugt werden kann. Im Kern des Zeugnisses klafft eine Lücke. Doch nur durch diese Lücke wird es konstituiert, unterscheidet sich das Zeugnis vom Wissen. Diejenigen, die bis heute auf der Unsagbarkeit / Undarstellbarkeit von Auschwitz insistieren, aus Auschwitz eine absolut von der Darstellbarkeit getrennte Realität machen, zerstören die Möglichkeit des Zeugnisses. Der Andere ist uns nach Lévinas jedoch nicht einfach (dualistisch gedacht) entzogen, er ist schon immer Ausgangspunkt der Konstruktionen unseres Selbst und der Ordnung, in der wir leben. Der Weg von der Lagererfahrung über das verschwundene Lager, die Spurensuche im Raum und am Körper münden im Zeugnis als Akt einer Autor-Funktion (Agamben) oder Ein-Bildung (Nancy), in welchem die Pflicht zur Vergangenheitstreue und die Notwendigkeit der Vorstellungskraft sich im gleichzeitigen Zeugen und Bezeugen synthetisieren. AUSTERLITZ und MAUS zeigen, dass der Umgang mit Nazismus und Shoah nicht von der Prämisse einer abgeschlossenen Vergangenheit ausgehen kann, sondern mit Blick auf die Gegenwart und ihre Verflechtung in die Geschichte gedacht werden muss. Um mit Claude Lanzmanns Film SHOAH zu formulieren: „Die Handlung beginnt in unseren Tagen …“[42].
(Hg.): Politische Archäologie, S. 31 – 46.
- Hart Nibbrig, Christiaan: Was heißt Darstellen?, Frankfurt a. M. 1994, S. 7.↵
- Während Lévinas zunächst eher eine kritische Einstellung zu Kunst und Ästhetik hat, findet der späte Lévinas den Anspruch des Anderen auch im Kunstwerk auf besondere Weise hör- und sichtbar gemacht. Vgl.: Esterbauer, Reinhold: „Schattenspendende Moderne. Zu Lévinas Auffassung von Kunst“, in: Freyer, Thomas/Schwenk, Richard (Hg.): Emmanuel Lévinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996.↵
- Emmanuel Lévinas kam 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, seine gesamte Familie wurde in Litauen Opfer der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik.↵
- Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns: Versuche über das Denken an den Anderen, München [u. a.] 1995, S. 26.↵
- Lévinas: Die Spur des Anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg (Breisgau) [u. a.] 1999,S. 214.↵
- Lévinas: Zwischen uns, S. 40.↵
- Lévinas: Spur, S. 216.↵
- Ebd., S. 222.↵
- Im Französischen entsteht hier mit der Formulierung me regarde die schöne Doppelbedeutung von der mich angeht und der mich ansieht.↵
- Sebald wehrte sich immer wieder (aus gutem Grund, wie ich zu zeigen beabsichtige) gegen die Bezeichnung Roman (vgl. z. B.: Radisch, Iris: „Der Waschbär der falschen Welt“, in: DIE ZEIT 15/2001). Daher verwende ich die Bezeichnungen Prosawerk oder Erzählung.↵
- Sebald, W. G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Salzburg 1985, S. 151.↵
- Niehaus, Michael: „W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung“, in: Niehaus, Michael/Öhlschläger, Claudia (Hg.): W. G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 173 – 188, hier S. 179.↵
- Die einzige Ausnahme ist der Besuch von Austerlitz in Prag, wo Vera ihm mit den Worten „Das bist du, Jacquot“ (Sebald: Austerlitz, Frankfurt a. M. 2003, S. 266) ein Kinderbild überreicht. Diese Episode ist nun aber gerade geeignet, die Unmöglichkeit des Du zu bestätigen, weil mit dieser Anrede eine Identität behauptet wird, deren Unzugänglichkeit gerade das Schicksal der Figur Austerlitz ist.↵
- Lévinas: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München 1988, S. 117.↵
- Lévinas: Eigennamen, S. 118.↵
- Sebald: Austerlitz, S. 14.↵
- Ebd., S. 14.↵
- Ebd., S. 14.↵
- Lévinas: Spur, S. 287.↵
- Sebald: Austerlitz, S. 361.↵
- Vgl.: Tischel, Alexandra: „Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W. G. Sebalds Austerlitz“, in: Niehaus/Öhlschläger↵
- Lévinas: Zwischen uns, S. 29.↵
- Sebald: Austerlitz, S. 414.↵
- Ebd., S. 15.↵
- Ebd., S. 421.↵
- Ebd., S. 421.↵
- Lévinas: Zwischen uns, S. 181.↵
- Nancy, Jean-Luc: „Das Darstellungsverbot“, in: ders.: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 51 – 89, hier S. 62.↵
- Ebd., S. 63.↵
- Ebd., S. 65.↵
- Es gab sogar eine offizielle Weltanschauungsbehörde.↵
- Nancy: Darstellungsverbot, S. 73.↵
- Vgl.: Nancy: Darstellungsverbot, S. 82.↵
- Ebd., S. 79.↵
- Eine ausführliche Begriffserklärung findet sich bei Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2005. Im Allgemeinen bezeichnet Muselmann einen KZ-Häftling, der zwar noch nicht tot ist, aber auch nicht mehr lebendig wirkt.↵
- Ebd., S. 81.↵
- Ebd., S. 83.↵
- Der Titel des ersten Teils ist sehr unglücklich mit Mein Vater kotzt Geschichte aus ins Deutsche übersetzt worden.↵
- Vgl.: Nancy/Lacoue-Labarthe, Philippe: „Der Nazi-Mythos“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Christoph (Hg.): Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158 – 190.↵
- Die rassistische Ausprägung des Nazi-Mythos’ erklären Nancy und Lacoue-Labarthe durch ein historisches Identitätsproblem der Deutschen.↵
- Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 7.↵
- Lanzmann, Claude: Shoah. Eingangssequenz. Claude Lanzmann: Shoah, DVD, 566 Minuten, Frankreich 1985.↵