Zu dieser Ausgabe
Die Beiträge der neuen Thewis-Ausgabe théôria, der ersten seit 2010, sind aus einer studentischen Tagung am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (ATW) hervorgegangen. Damit folgt auch diese Ausgabe dem Ziel, das die Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft seit ihrer Gründung im Jahr 2004 verfolgt: Thewis soll ein Forum für die Beiträge des theaterwissenschaftlichen Nachwuchses sein, für fortgeschrittene Studierende und Doktoranden, die über den Kontext von Seminaren hinaus eine Öffentlichkeit für ihr Nachdenken über das Theater suchen.
An einem Institut, an dem die künstlerische Praxis des Theaters einen zentralen Teil der Lehre darstellt, gehören die künstlerischen Präsentationen der Studierenden seit vielen Jahren zum festen Bestandteil der institutsinternen und öffentlichen Auseinandersetzung. Auf dem jährlich stattfindenden Festival Theatermaschine und bei Präsentationen der Szenischen Projekte zeigen die Studierenden ihre Aufführungen, Installationen, Hörstücke, Videos und anderen künstlerischen Formate, geben Einblick in ihre Projekte, erproben und diskutieren neue Perspektiven für das Theater. Mit der Tagung théôria, die am 12. Juli 2013 stattfand, sollte auch der bisher weitgehend unsichtbaren wissenschaftlichen Arbeit der Studierenden eine Plattform gegeben und Sichtbarkeit verliehen werden, um sie zur Diskussion zu stellen und einen neuen Impuls für den theoretischen Austausch zu setzen. Hervorgegangen aus einem Kolloquium, präsentierten die Studierenden ihre Fragestellungen und Thesen zum Theater der Gegenwart. Für die vorliegende Thewis-Ausgabe verschriftlichten die Studierenden ihre Tagungsvorträge, sodass ihre sieben Beiträge nun einer weiteren Auseinandersetzung zugänglich sind. Die Beiträge sind redaktionell überarbeitet worden.
Das vorbereitende Kolloquium vermied es, in irgendeiner Form inhaltliche Vorgaben zu machen. Es wurde weder eine gemeinsame Problemstellung noch ein Leitbegriff oder ein bestimmter Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft gewählt. Im Gegenteil war jede und jeder Studierende dazu angehalten, ihre oder seine je individuellen theaterwissenschaftlichen Forschungsinteressen vorzustellen. Wie schon die Tagung gibt deshalb auch die vorliegende Zeitschrift einen Überblick über die Vielfalt der studentischen Ansätze, die derzeit in der wissenschaftlichen Arbeit an der ATW verfolgt werden und nicht unter einem Begriff zusammengefasst werden können. Der Titel théôria dient als Name für diese Offenheit und fungiert als inhaltlich offene Klammer für die Verbindung von Theater und Theorie.
théôria verweist im Kern auf die bekanntermaßen gemeinsame Wurzel von Theater und Theorie, thea, die Schau – in der auch theos, Gott, seine Spuren hinterlassen hat –, die auf das zu Schauen geben von Dingen abzielt. Im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus beschrieb das Konzept der Theorie zugleich eine körperliche Praxis, die darin bestand, das ausgewählte reiche Bürger einer Polis aufbrachen, durchs Land reisten, um an einem anderen Ort Theateraufführungen oder religiösen Ritualen beizuwohnen. Dort debattierten sie über das Gesehene und Gehörte, fällten ein Urteil oder fanden zu einer Beschreibung der Ereignisse, bevor sie schließlich in ihre jeweiligen Städte zurückreisten, um in einem formalen Akt von den Ereignissen zu berichten, die sie geschaut hatten. Theorie diente zum Bezeugen einer Aufführung. Im Begriff Theorie verbanden sich die Wahrnehmung – aisthesis – eines Schauereignisses mit einer geteilten Praxis des Beschreibens und Urteilens. Die Zuschauer als Zeugen und die Phänomene, die sie wahrnahmen und beschrieben, waren in einer gemeinsamen Praxis miteinander verbunden. Reisen, Sehen und Sprechen waren mithin eine theoretische Praxis, eine Praxis der und als Theorie. Eric Méchoulan formulierte diesen Zusammenhang 1997 in seinem Buch The Time of Theory folgendermaßen: „Theory was the act of legitimizing aesthetics, a social and collective witness to the occurence of an event, or more precisely, an occurence as an event.“ Bevor Platon und Aristoteles die Theorie ein Jahrhundert später auf die geistige Schau, die Schau von Ideen oder das Studieren von physikalischen und metaphysischen Konzepten einengten, findet sich also ein offener Begriff von Theorie als einer körperlichen Praxis des Sehens, Sprechens und Wahrnehmens. Theorie nicht als Gegensatz zur aisthesis aufzufassen, sondern sie als deren Bestandteil zu begreifen, ist ein Kerngedanke, den das Gießener Institut in seiner Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis aufzugreifen versucht. Er durchzieht auch die Beiträge dieser Ausgabe – teils indem die Studierenden explizit auf ihre eigenen Projekte verweisen, teils durch Fragestellungen, die aus den eigenen künstlerischen Erfahrungen hervorgehen, teils durch eine Sensibilität für den Gegenstand, die sich aus der eigenen szenischen Praxis speist.
In der Zusammenschau der Beiträge lässt sich allerdings nicht nur dieses geteilte methodologische Grundverständnis ausmachen, sondern darüber hinaus auch eine inhaltliche Gemeinsamkeit. Ob implizit oder explizit, die Reflexion über das Theater rekurriert vielfach auf Debatten um das Konzept der Mimesis, das seit Platon und Aristoteles das Theater geradezu definiert. In dieser Wiederbelebung eines überholt geglaubten theatralen Grundbegriffs zeigt sich nicht nur die Leistungsfähigkeit eines Denkens der Mimesis für ganz verschiedene Aspekte, Formen und Typen des Theaters, sondern auch dessen Virulenz für Auseinandersetzungen um ein zeitgenössisches Theater und um aktuelle Forschungsfragen in veränderter medialer Landschaft. Dass sich die Interessen der jungen Theaterwissenschaftler ausgerechnet an diesem alten Begriff des Theaters festmacht, ist eine zugleich verwunderliche und begrüßenswerte Entwicklung, die durch das Fehlen einer inhaltlichen Vorgabe sichtbar wurde. Dennoch bleibt letztlich die Diversität der Beiträge zu betonen, denn in ihrer Vielschichtigkeit bleiben sie unvereinbar und geben Auskunft über mehr als einen einzigen aktuellen Impuls der Forschung. Mit der Frage der Mimesis verbunden oder von ihr losgelöst, beschäftigen sich die Studierenden etwa ebenso mit der Rolle von Fiktion und Als-Ob oder von Politik und dem Politischen im Theater der Gegenwart.
Zu den einzelnen Beiträgen. Tilman Aumüller und Ruth Schmidt gehen der Frage nach, wie man sich in einem zynisch gewordenen gesellschaftlichen Umfeld heute überhaupt noch als kritischer Künstler platzieren kann. Aufhänger ihres Beitrags ist eine Werbekampagne der Bild-Zeitung, in der sie eine besonders perfide zynische Appropriation künstlerisch-subversiver Strategien vermuten, die zur Frage drängt, wie sich die zeitgenössische Kunst und das Theater in einem solchen Umfeld politisch verhalten kann. Eine tour de force durch die Begriffs- und Diskursgeschichte des Zynismus und der Mimesis, bei der sie sich Schützenhilfe von Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek holen, führt sie zu der Annahme, dass eine künstlerische Antwort auf den zeitgenössischen Zynismus in dem Rückgriff auf den ihm voraufgehenden Kynismus und auf den affirmativen Einsatz der Lüge, des Als-Ob im Leben selbst bestehen könnte.
Die Mimesis direkt thematisierend, fragt Georg Döcker nach deren Verfasstheit im Theater als zeitbasierter Kunst. In Anlehnung an Philippe Lacoue-Labarthe untersucht er die wohl berühmteste Poetik der Schauspielkunst, Denis Diderots Paradoxe sur le comédien auf jene Komplizierung der Mimesis, die mit der Flüchtigkeit der Schauspielkunst einhergeht und das Paradox des Schauspielers noch einmal entscheidend verschärft. Anhand einer Relektüre bisher eher unbeachteter Stellen von Diderots Dialog kommt Döcker zu dem Schluss, dass das Paradox nicht nur darin besteht, dass der Schauspieler nichts sein muss, um alles spielen zu können, sondern darin, dass er sich umbringen muss, um unsterblich zu sein, um also die Flüchtigkeit seiner Kunst zu transzendieren und in jeder Aufführung alles sein zu können.
Um die Mimesis von Bild und Körper in der Gegenwartskultur geht es Kathrin Ebmeier in ihrem Beitrag. Sie analysiert die Fernseh-Castingshow Germany’s Next Top Model in Bezug auf die mediale Subjektivierung der angehenden Models. Ob die Kandidatinnen in die jeweils nächste Runde des Wettbewerbs kommen, hängt davon ab, ob sie am Schluss jeder Sendung ein Foto von sich selbst von Heidi Klum überreicht bekommen. Das Foto ihres Körpers macht sie zum Model – oder nicht. Ebmeier versteht dieses Moment als Kristallisationspunkt einer Subjektivierungsmaschine, die in der Show im Gang ist, um mit Schaulaufen und Fotografien einen bestimmten Subjekt-Typus zu schaffen, den sie im Rekurs auf die Autoren-Gruppe Tiqqun Jungen-Mädchen nennt, einer Gruppe, von der Ebmeier im Übrigen auch den formalen Ansatz ihres offen, thesenhaft formulierten Textes ableitet. Die Jungen-Mädchen sind in Bezug auf Körper und Geschlecht absolut uneigentliche, wandlungsfähige Subjekte, die sich situationsbedingt neu erfinden, um das Ideal eines neoliberal-postfordistischen Arbeiters zu performen.
Jan-Tage Kühling stellt Überlegungen zum postkolonialen Subjekt auf der Bühne an. In einer Aufführungsanalyse von Jérôme Bels Pichet Klunchun and myself widmet er sich insbesondere einer Szene, in der Bel eine Bewegungsphrase des thailändischen Khon-Tänzers Klunchun nachzuahmen versucht. Kühling eröffnet einen Blick auf diese Situation als Verhandlung der (un-)möglichen Repräsentation des postkolonialen Subjekts. In dem Moment, dass Klunchun vom exotisch angeblickten Subjekt zum Vorführer eines Tanzes wird, vermutet Kühling einen Bruch in der Repräsentation. Klunchun wird zum bloßen Repräsentanten einer Tanzordnung, zur Funktionsstelle einer symbolischen Ordnung, und damit als individuelles Subjekt unsichtbar. Derart sieht Kühling in Pichet Klunchun and myself eine (un-)mögliche Exponierung des Anderen als subalternes Subjekt als politischer Aktion.
Das Politische des Theaters steht auch im Zentrum des Aufsatzes von Michael McCrae. Ausgehend von der Besetzung der Bühne des Maxim Gorki Theaters durch Gießener Studierende, an der er selbst aktiv teilnahm, stellt er die Frage nach der Möglichkeit von politischer Intervention des Theaters heute. Aus den Erfahrungen der Besetzung des Gorki Theaters leitet er ab, dass das politische Potential des Theaters in einer Herausforderung seiner fiktiven Verfasstheit besteht. Nur wenn das Theater sein Als-Ob aufs Spiel setzt und die Grenze des Lebens zum Flirren bringt, sodass man, wie im Fall der Besetzung geschehen, nicht mehr weiß, ob es sich um Kunst oder Realität, also eine reale politische Aktion handelt, kann das Theater eine Verunsicherung bewirken, die politisch genannt werden kann. McCrae fundiert diese These durch den Bezug auf die politische Theorie von Walter Benjamin, belegt sie in der Folge auch an einem Aufführungsbeispiel von Christoph Schlingensief und bindet sie schließlich in den aktuellen politischen Diskurs der Theaterwissenschaft ein.
Das mimikry-hafte Aufgehen in einem künstlichen Habitat als Bühne auf der Bühne beleuchtet Bettina Rychener. Das soziologische Experiment Mars500, in dem ein einjähriger Aufenthalt von Astronauten auf dem Mars simuliert wird, um deren Verhalten in einer solchen Lage wissenschaftlich auszuwerten, dient ihr als Ausgangspunkt für die Behandlung von fiktiven, immersiven Raumsettings, in denen die Beteiligten so sehr von der Situation absorbiert werden, dass ihre Wahrnehmung an der Grenze zwischen Realität und Fiktion oszilliert. Habitat nennt Rychener, Allan Kaprow zitierend, diese speziellen Räume, um mit diesem Begriff schließlich eine neue Perspektive für die Analyse solcher Räume im Theater zu eröffnen. Anhand von Rimini Protokolls Situation Rooms zeigt sie auf, dass man unter dem Habitat eine Anordnung verstehen kann, in der nicht nur die Performer, sondern auch die Zuschauer in eine fiktive Welt eingeladen werden, um sich in ihr zu verhalten.
Tessa Theisen schließlich versucht den Rand des Mimetischen auszumessen, indem sie fragt was passiert, wenn der Mensch keine Bilder von sich nachahmt und herstellt. In einem Impuls-Text, der von ihrer eigenen künstlerischen Praxis ausgeht, widmet sie sich aktuellen Diskursen des Posthumanen und bringt sie in Verbindung mit dem Begriff des Monströsen. Das Monster ist für sie eine Figur, die sich nicht nur der Signifikation entzieht, sondern ein Eigenleben jenseits jeglicher menschlicher Wahrnehmung hat, das sich aber paradoxerweise dennoch indirekt, nämlich affektiv erfahren lässt. Ein posthumanes Theater wäre demnach eines, das den Menschen mit dem Unmenschlichen zu konfrontieren versucht, auch wenn es immer nur menschlich erfahren werden kann.
Analog zur Prämisse, keine thematische Vorgabe zu machen, sind die Beiträge in ihrer stilistischen und formalen Unterschiedlichkeit und zum Teil auch in ihrer Offenheit und Vorläufigkeit belassen (auch die Frage der geschlechter-sensiblen Schreibweise blieb den Autoren überlassen). Ebenso wenig wie es ein Theater der Gegenwart gibt, gibt es eine Art, schreibend darüber zu reflektieren.
Unser Dank gebührt abschließend all jenen, welche die Tagung und diese Thewis-Ausgabe möglich gemacht haben. Die Ausrichtung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung der Hessischen Theaterakademie. Besonders zu danken ist Melchior Hoffmann für die Mitarbeit bei Vorbereitung und Durchführung der Tagung, des Weiteren Hendrik Borowski, Caroline Creutzburg, David Rittershaus und Lea Schneidermann, die im Team die Licht-, Ton- und Videotechnik der Tagung betreut haben. Ohne die wunderbare Moderation von Dr. Lorenz Aggermann, Eva Holling und Dr. Philipp Schulte hätte den Vorträgen deren Rahmung und fundierte Diskussion gefehlt. Und weder Tagung noch Zeitschrift wären zustande gekommen ohne die Beiträge aller Autoren, denen hiermit noch einmal herzlich gedankt werden soll. Die Einrichtung der Beiträge als Online-Ausgabe schließlich wurde technisch von Jost von Harleßem unterstützt.
Gießen, im Januar 2014
Impressum
Herausgeber:
Georg Döcker (Gießen)
Gerald Siegmund (Gießen)
Redaktion:
Georg Döcker, Gerald Siegmund
Kontakt:
Georg Döcker, g.doecker[at]gmx.at
Verantwortlich i.S.d.P-R. für die aktuelle Ausgabe:
Prof. Dr. Gerald Siegmund
Institut für Angewandte Theaterwissenschaft
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