Auf einem der Manuskriptblätter Heiner Müllers zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, von denen Christina Schmidt etwa achtzig Blätter transkribiert hat und damit längst nicht alle, die in Sonderheit dem dritten Teil Lessings Schlaf Traum Schrei zugeordnet werden können, findet sich eine Auflistung von Bildtiteln und verschiedenen Namen bildender Künstler. [1]
Vielleicht handelt es sich um Notizen, die Müller nach einem Besuch der Dresdner Gemäldegalerie im Zeitraum, da er unter anderem auch an Leben Gundlings arbeitete, gemacht hat. Vielleicht verdanken sie sich jedoch auch ganz anderen Anlässen, Gedankenspielen oder Assoziationsketten. Notiert sind auf diesem Blatt unter anderem folgende Namen und Wörter:
Et in arcadia ego: die / Inspektion. / (Blick aus dem DZug Dresden: […]
Godard Szenarien! / Rubens Leda / Rembrandt Selbstbildnis als Rohrdommeljäger / (half face in shadow) / sad triumph. / Baldung Grien / Poussin / Agrippina (motiv: Todess[…?][2]
In spekulativer, assoziativer und höchst subjektiver Weise möchte ich diese Namen, Titel und Stichworte in ein Verhältnis zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei bringen. Mein Verfahren ist notwendig sehr assoziativ und ohne jeglichen Anspruch auf ‚Erklärung’ des Textes oder der Notizen auf den Manuskriptblättern. Bei den Beziehungen, die ich herstelle, handelt es sich um mögliche lediglich in dem Sinn, dass sie sich für mich als Leserin in der Auseinandersetzung mit dem Text Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei hergestellt haben. Nur im Sinne dieser Möglichkeit gehören sie dem Text Müllers zu.
1. Rubens Leda
In der Szene „HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“ in Leben Gundlings, die unmittelbar auf die Szene „PREUSSISCHE SPIELE“ mit ihren Anklängen an die Phädra Racines folgt, lautet die erste Zeile „Projektion Leda mit dem Schwan (Rubens)“[3]. Sowohl die Szene mit Friedrich und Catt („PREUSSISCHE SPIELE“) als auch die Szene zwischen dem König Friedrich und der sächsischen Witwe („HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“) handeln vom Begehren im Verhältnis zum Gesetz: Preußen. Dieser Zusammenhang legt es für mich nahe, der Nennung „Rubens“ in Bezug auf die Frage nach dem Körperwissen bei Rubens nachzugehen.
Abb. 1 Leda (nach Michelangelo)
Leda (nach Michelangelo) zeigt bei Rubens einen großen, kräftig sein Gefieder spreizenden Schwan zwischen den Beinen einer nackten Frau, die ‚in Leserichtung’, das heißt mit dem Kopf zum rechten Bildrand hin, auf einem Tuch lagert. Sein massiver Hals windet sich zwischen ihren Beinen hervor, ihren Bauch entlang, sein kräftig gewölbter Kopf liegt zwischen ihren Brüsten, Schnabel und Gesicht berühren sich: Leda, frisch gevögelt. Im Blickkontakt sind Vogelauge und Brust. Indem ihr linker Arm nach hinten zur Seite gehalten wird, öffnet sich der Körper der Frau für den Blick des Betrachters wie eine Szene, in deren Mittelpunkt eine wechselseitige Hingabe zwischen Frau und Schwan inszeniert wird. Die theatrale Darbietung der Szene unterstreicht das üppige, seidensteife Tuch, auf dem Leda lagert und das durch die Drehung ihres linken Arms wie ein Vorhang zur Seite gehalten wird.
Abb. 2 Der trunkene Silenus
Für Fragen des Körperwissens bei Rubens sei es erlaubt, auf die Figur des betrunkenen Silenus einzugehen, den er wiederholt gemalt hat: Silenus ist der Name einer marginalen Figur im Gefolge des Bacchus, ein Weggefährte, der, wenn er betrunken und gebunden ist, sich in seinem Gesang verliert (Vergil). Nackt, mittelalt, massig und schwer, vornüber geneigt oder schon stürzend zeigt Rubens den trunkenen Silenus zwischen Kentauren, Nymphen und Pan im Mittelpunkt eines quadratischen, zwei mal zwei Meter großen Bildes von 1610. Ohne jede soziale Färbung, wirkt der massige Körper wild und fremd. Er ist umgeben von Beispielen und Szenen, die Phantasien männlicher Sexualität gelten.
Dicht hinter Silenus ein Schwarzer, der den Stürzenden zu halten scheint und gleichzeitig mit seiner linken Hand in das Fleisch des Oberschenkels von Silenus greift. Das Gesicht dieses Mannes ist verzerrt, seine Augen sind nach oben gedreht, beginnen schon im Schwarz der Augenhöhlen zu verschwinden, so dass es jetzt den Anschein hat, als würde er, im Zustand der Verzückung, den riesigen Leib des Silenus von hinten penetrieren. Der Satyr, der Silenus auf seiner rechten Seite stützt, scheint wissend. Zu Füßen dieser Szene beugt sich eine erschöpfte Mutter (Erde) über zwei Jungen, säugt ihre Brut mit schweren, verformten, blau geäderten Brüsten, während sie mit ihrer Hand den Penis des Jungen zu ihrer Linken umfasst.
Abb. 3: Bacchanal
Im Vergleich mit einem früheren betrunkenen Silenus, dessen Szenario Rubens unter dem Titel Bacchanal malte, wird die Radikalität des Bildes von 1610 deutlich: In Bacchanal findet sich das identische Personal, aber die Körper spielen noch mehr Theater, sind eher vorgestellt und ausgestellt. Die säugende Mutter hält ihre Jungen. Die großen, nackten Körper von Silenus, dem Schwarzen und einer bocksbeinigen Frau berühren sich, indem sie aneinander lehnen. Die Begehrlichkeit wirkt eher als Maskerade der nackten Leiber und beherrscht sie noch nicht so sehr als jenes Drama des Begehrens, das in die Körper selbst gewandert ist und diese in Gänze ausmacht.
‚Zwischen Engel und Tier’ (Pascal) situiert der Barock die Frage nach dem Menschen. Bei Rubens erscheint der Mensch als nackter, stürzender Körper, ernst und melancholisch in seiner Trunkenheit, die nicht als fröhliche Ekstase gezeigt wird, sondern als Ausdruck einer Trauerarbeit. Rubens malt Silenus nicht als jenen fellbesetzten Halbtiermenschen, als der er sonst auf zeitgenössischen Bildern erscheint, sondern als einen nackten Menschen, dessen Geschlecht im Zentrum des Bildes von 1610 im Schatten liegt und somit – im Gegensatz zu allem, was dieses Bild zu zeigen bereit ist – nicht erscheint.
Eine diabolische Lesart des Geschlechts liegt hier nahe: Das Geschlecht im Körperschatten des Silenus von 1610 kann als Gleichnis für jenes unsichere und fragwürdige Geschlecht gelten, das sich nicht mehr als solches zu lesen weiß. Denn die barocke Welterfahrung ist bereit, nicht nur Gott als den einzigen Schöpfer, sondern mit ‚Gott’ auch jenen Nenner durchzustreichen, durch den es bis dahin möglich war, sich als Geschöpfe der menschlichen Gattung selbst zu bezeichnen. Was bleibt vom Menschengeschlecht, wenn es sich als geschöpftes negiert? Übrig bleibt weniger als ein Geschlecht: ein Geschlechtsteil, das sich jedoch nicht einmal mehr als stolze ‚Ausstattung’ präsentiert, sondern nur noch als wahllose, sozusagen unumgängliche Beschaffenheit der Kreatur.
Als eine solche bloße Beschaffenheit erscheint das Geschlecht ohne Körperschatten und in seiner Blöße vollends sichtbar im Zentrum des Bildes Höllensturz der Verdammten (1618-1620). Dieses Bild kennt keinen Bewegungsverlauf mehr, der in lesbarer Richtung horizontal, von links nach rechts im Bild verliefe, sondern zeigt den Sturz der nackten, schweren Leiber unverhüllt von oben nach unten, in jener Vertikale, die vormals die Bedeutungen generierte.
Um diese Assoziationen zu Rubens mit Müllers Szene „HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“ zu verknüpfen, sei auf folgende Sequenz in dieser Szene hingewiesen:
„FRIEDRICH nimmt Abstand: Der Himmel ist leer, Madame!
Sächsin steht auf, streckt die Arme nach ihm aus.
FRIEDRICH: Und ich bin der König.“[4]
Das Drama Preußens – Gundling, Friedrich, Katte, Kleist und Lessing – wird vor dem leeren Himmel des Barock vermessen. Die Szene zwischen dem König und der Sächsin, die zu Friedrich kommt, um ihren gefallenen Gatten zu beklagen, kippt in das Szenario zwischen dem „Herzkönig“ und einer „Schwarzen Witwe“, die als Mutter und Hure herhält. Sie kippt in ein pornographisches Szenario zwischen wahllosen Geschlechtern, wie sie Rubens im berühmten Höllensturz portraitiert hat. In Müllers Manuskripten findet sich ein Blatt, auf dem zum Namen Gundling notiert ist:
„Die Welt ist ein Loch, m.H. Keine Angst: Sie werden nicht herausfallen. Nun ist sie aber (wieder) kein Loch, weil: nichts ist außer ihr. Was folgt?
Gundling, Er ist schon wieder besoffen“[5]
2. Rembrandt Selbstbildnis (half face in shadow)
Die Selbstbildnisse Rembrandts zeigen regelmäßig das Gesicht zur einen Hälfte im Schatten.
Vom portraitierten Gesicht aus handelt es sich um die linke Gesichtshälfte, vom Malenden bzw. Betrachtenden aus gesehen handelt es sich um die rechte Bildhälfte: Dies verdankt sich zum einen dem Effekt der Spiegelsituation, zum anderen dem Effekt des mit der rechten Hand Malenden, der die Leinwand für das von links einfallende Licht so drapiert, dass seine Malhand keinen für den Malvorgang ungünstigen Schatten wirft. Nun verschattet das einfallende Licht das zu portraitierende Gesicht auf der ihm abgewandten Seite. Auf der rechten Bildhälfte geht das Gesicht in die Schwärze des Malgrunds über, verschmilzt selbst mit dem Material der Malerei, dem Grund der Leinwand und dem Grund der aufgetragenen Farbe. Konturen, Umrisse und das halbe Gesicht verlieren sich in einem formlosen Anthrazit, für das die Bezeichnung ‚Schatten’ keine Erklärung bietet. Das Selbstbildnis gibt kein ganzes Gesicht mehr heraus.
Abb. 4: Rembrandt, Selbstbildnis als Rohrdommeljäger
Rembrandts Selbstbildnisse entstehen gut anderthalb Jahrhunderte nach den ersten Selbstportraits Dürers, die den mit der Zentralperspektive betrauten und vertrauten Künstler im vollen Selbstbewusstsein seines Standes und seiner gesellschaftlichen Bedeutung ausstellten – als Typus und Modell des modernen Individuums, das sich nicht die Welt, aber das Theater der Welt als das „Theater der Natur und Kunst“[6] zur Aufgabe machen wird.
Abb. 5: Dürer, Selbstbildnis mit Landschaft 1498
Dürers Selbstbildnis mit Landschaft (1498) zeigt den Künstler in Renaissancekostüm vor einem Fenster, durch das sich eine Hügellandschaft in schöner perspektivischer Staffelung nach hinten an den Horizont verliert. Die dem Betrachter nur halb zugewandte linke Gesichtshälfte ist in präziser perspektivischer Verkürzung wiedergegeben, aber sie liegt nicht im Schatten. Ihre Konturen, Umrisse und Begrenzungen sind genauso wie bei der dem Betrachter voll zugewandten rechten Gesichtshälfte sichtbar und geben, ebenfalls vor dunklem Grund, ein ganzes Gesicht heraus.
„sad triumph“, notiert Heiner Müller unmittelbar nach „Rembrandt Selbstbildnis (half face in shadow)“ und unterstreicht das „sad“.[7] Um welche Geschichte eines Triumphs handelt es sich und worin besteht seine Traurigkeit – abgesehen davon, dass alle neuzeitlichen Siege der menschlichen Selbstermächtigung, für die sowohl der Name Rembrandt als auch die Genrebezeichnung ‚Selbstbildnis’ stehen mögen, eine besondere Trauer bereithalten.
Im Prototyp des Künstlers feiert die Renaissance den Menschen als Schöpfer seiner eigenen Welt, seiner eigenen Umgebung und seiner eigenen Artefakte. Nur anderthalb Jahrhunderte später ist diese festlich gestimmte Selbstgewissheit der Einsicht gewichen, dass es sich bei allem, was der Mensch seiner schöpferischen Absicht unterwirft, doch immer nur um Herstellungen zweiten Grades anstelle einer ersten Schöpfung handelt. Anstelle einer neuen Welt, die nach dem Willen ihrer menschlichen Konstrukteure in einer neuen Zeit spielen soll, drängt sich das Reale des Grundes hervor, von dem aus die neuzeitlichen Konstruktionen sich aufheben sollen. Das Reale drängt sich in seiner puren Materialität hervor, als selbst formloses Material der Kreation: Leinwand, Farbe, Lichtverhältnisse.
Rembrandt steigt in diesen Ring, das Bildnis mit und gegen sein Reales zu behaupten. Ausgerechnet seine Selbstportraits, ‚half face in shadow’, erteilen dem Selbst, das sich neuzeitlich zum Schöpfer ermächtigt, ein schonungsloses Urteil: Du bist in deinem Wesen, sobald es aufhört, sich selbst zu behaupten, nur Materie, Verwesung und Dreck, ein Nichts, von keinem Gott ewig bejaht.
3. Baldung Grien
Körperwissen bei Baldung Grien, der von 1485 bis 1545 lebte: Seine Federzeichnungen zeigen, dass das Bewusstsein vom dunklen Grund kein Privileg des hohen Barock ist. Seine Zeichnungen mit schwarzer Feder auf tief rötlichbraun grundiertem Papier, oft kaum größer als ein DIN A4 Blatt, zeigen auf ganz eigene Art ‚dramatische’ Körper, deren Plastizität durch zusätzlich aufgetragenes Weiß erreicht wird.
Abb. 6: Zwei kämpfende nackte Männer (1515)
Zwei kämpfende nackte Männer (1515, eigenhändig datiert): Die Körper sind ernst, ohne Vergnügen. Der Tod spielt nicht so sehr zwischen den Kämpfenden. Er droht nicht in der Aktion des einen gegen den anderen und ist nicht in einer zugespitzt gefährlichen Situation gebannt. Er wird nicht als unmittelbar bevorstehend gezeigt, als ein Ereignis, auf das der Kampf hinaus liefe oder im nächsten Moment endete. Der Kampf, der nicht so sehr zwischen den Kämpfenden spielt, ist von eigentümlicher Dauer, die den Blick auf die nackten Körper lenkt und ihn ahnen lässt, dass der Tod diesen Körpern längst inne wohnt
Abb. 7: Die Beweinung Christi (1515)
Die Beweinung Christi (1515): Die Beweinung als ganzkörperliche Aktion. Grien zeigt keine Tränen in den Augen, sondern ein ohnmächtiges Erfasstwerden, ein Fortgerissensein vom Schmerz und ein Fortgerissenwerden in die Dunkelheit des Blattes. Die weiß gehöhten Konturen halten diese Bewegung so eben noch auf.
Abb. 8: Kopf eines Apostels (1519)
Der Tod bewohnt die Körper. Kopf eines Apostels (1519, Dürermonogramm von fremder Hand): Das Gesicht ist eine Maske, die angewachsen ist. Darunter ist kein Gesicht. Das Gesicht als Maske spannt sich über das nackte Gesicht, den Totenschädel.
In seinen Manuskripten notiert Heiner Müller eine ähnlich lautende Reflexion zur Maske, die im abschließenden Teil von „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ zum „SCHREI“ in Beziehung tritt. In den Manuskripten heißt es:
„Telos Zerstörung
der Lessg.maske
(cry)
weil sie angewachsen ist (no face under m.)
naked face = skull
(skull beneath the skin)“[8]
Im Stücktext findet sich diese Maske, die Verkleidung eines jeglichen Gesichts ist, reflektiert in Bezug auf den „TRAUM“ von der Darstellung. Es handelt sich um eine doppelte Darstellung: „film + revolution“[9] lautet eine Notiz auf demselben Blatt. Der enge Zusammenhang von Maske, Theater und Film scheint hier auf. Ihm steht die andere Darstellung zur Seite: „revolution“, dazwischen kein trennendes Zeichen wie Punkt oder Komma, sondern ein ausdrückliches Pluszeichen. Lessing wird mit seinem Traum vom Theater „(als Kontinuum)“[10] und mit einem Torso zitiert, mit seinem vergessenen Bruchstück „SPARTAKUS EIN FRAGMENT“[11]. Das Scheitern dieses Traums einer doppelten Darstellung, die nicht nur eine Kunst der Darstellung, sondern auch anders sich darstellende gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringt, wird mit dem Namen Lessings verknüpft: seine Hoffnung auf ein neues Deutschland durch die Wirkungen eines Nationaltheaters. Immer noch auf demselben Manuskriptblatt notiert Müller: „Unmöglichkeit, Scheitern v. hope f. nationaltheater“[12].
Die Radikalität der Hoffnung Lessings und sein Versuch, sie ins Werk zu setzen, gerät in die Hände eines Theaterbetriebs, der Lessing in den folgenden anderthalb Jahrhunderten zum bildungsbürgerlichen Zitatenschatz herabmindert und gleichzeitig zum Denkmal vor den Theatern in den deutschen Innenstädten überhöht. Ziel dieser Tradition ist die Mumifizierung und Zerstörung der Lessingmaske. Dass ihre Zerstörung Schmerzen bereitet, „weil sie angewachsen ist“, wird vergessen. Lessings Schrei, der aus der Büste dringt, wird vom Publikum wie ein besonders delikater Theatercoup mit Applaus quittiert werden.
Im letzten Abschnitt des Stücks wird diese Geschichte eines Theatertraums in Deutschland aufs Äußerste komprimiert. Pochen diese Zeilen auf das Reale jener Illusion einer besseren Welt, die sich ohne Entsprechung in der Realität entwarf? Oder sprechen diese Zeilen von ihrem Verlöschen? Der abschließende Text „Lessing 3 (Apotheose)“[13] besitzt die äußere Gestalt einer Bühnenanweisung. Seine Fragen werden mithin der Bühne überantwortet und bleiben selbst ohne Anweisung, ohne Abschluss.
„3 Projektion
APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT
Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt. Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind, schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen, während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befrein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei. Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern).“[14]
4. Poussin
Abb. 9: Et in arcadia ego
Et in arcadia ego lautet der Titel eines Bildes Poussins aus den 1630er Jahren. In Leben Gundlings stehen beide, Poussin und dieser Bildtitel, für Preußen. Die vorletzte Szene des mittleren Teils FRIEDRICH VON PREUSSEN ist überschrieben „ET IN ARCADIA EGO*: DIE INSPEKTION“[15]. Innerhalb dieser Szene wird der Satz noch einmal einer Rede Friedrichs zugeordnet. Welcher Zusammenhang ist zwischen Poussin und Preußen denkbar? Inwiefern steht dieser Titel, Poussins „Arkadien“, für Preußen?
Bei Poussin strahlen alle Figurenensembles, Landschaften, Monumente, Stoffe, Interieurs vor allem dies aus: Schönheit, Luxus, Ruhe. Ein Bacchanal von Poussin mag dies, vor allem im Vergleich mit den zitierten Bildern von Rubens, dessen trunkener Silenus ebenfalls dem mythologischen Szenario des Bacchanals zugehört, verdeutlichen.
Abb. 10: Ein Bacchanal von Poussin
Zu Bacchus Füßen lagert keine lüstern säugende Mutter, sondern ein klassizistischer Akt, umgeben von geleerten Trinkgefäßen und einem vor satter Erschöpfung schlafenden Baby. Mütter wie Milch und Honig. Die schönen weißen Frauen ruhen und schlafen – fast gleichgültig, ob sie ihren dekorativen Schlaf dem Wein oder dem Pesttod verdanken. Ebenso die Männer, ob sie nun büßen, richten oder kämpfen: Bei Poussin triumphieren die Geschlossenheit der Linie, die Einheit der Körperbilder und die Geschlossenheit ihrer Bildhintergründe. In der atmosphärischen Dichte ihrer Umgebungen erscheinen Dinge und Körper in angemessener Distanz zueinander.
Bei Rubens hingegen der fleischliche Exzess und die Ausgesetztheit der Körper, brutal in ihrer Nacktheit, fremd, konturlos und ohne soziale Färbung, das schwere Fleisch stürzend. Keine in der Horizontale gelegene Landschaft, die zu durchwandern oder zu bewohnen wäre.
An die schier unfassbare annähernde Gleichzeitigkeit von Poussin und Rubens – Poussin, 1594 geboren, ist 17 Jahre jünger als Rubens – hat die Kunstgeschichte eine Reihe ihrer prominentesten Dichotomien geknüpft: Linie, Geschlossenheit, Einheit, Klarheit usw. bei Poussin versus Farbe, Offenheit, Vielheit, distinktes Oszillieren bei Rubens usw. Die Frage, warum Müllers Text Preußen mit einem Bonmot identifiziert, das an prominenter Stelle auch einen Bildtitel Poussins bildet, ist jedoch weniger über solche Begriffsreihen zu ermitteln. Vielmehr interessiert diese Dichotomie der Formen in Bezug auf das je andere Wissen vom Körper.
Poussin und Rubens arbeiten in einer Epoche, in der die Körper in den Bildraum der Darstellung integriert werden und in diesem in Erscheinung treten sollen. (In der Renaissance waren die Körper autonome ‚Bühnen’ oder dem dargestellten Raum addiert.) Poussin und Rubens arbeiten in Bezug auf diese Bildwerdung des Körpers eine entgegengesetzte Perspektive aus, die der Unvereinbarkeit von Körpern und Bild geschuldet ist.
Bei Poussin erfahren die Körper ihre Konturierung im Bild. Sie erfahren ihre Reduktion auf die Kontur als einer äußeren Linie, mit der sie sich gegen den Hintergrund verschließen und von ihm abgrenzen lassen. Die Perspektive Poussins führt zur bildhaften Isolation in der neuzeitlichen Anordnung des Sehens, die den Körper zur Ausstellung seiner manifesten Sichtbarkeit drängt, zur Lesbarkeit seiner Konturen und zur Behauptung seiner bildhaften Abgeschlossenheit.
Bei Rubens erfahren die Körper im Übergang zum Bild den Verlust ihrer Lokalisierbarkeit in einem ‚Realraum’ und mehr noch, da sich, alle Platzierungen, in die der Betrachter gesperrt ist, als noch illusorischer’16 erweisen, den Verlust ihrer Lokalisierbarkeit im eigenen Fleisch. Die Perspektive Rubens’ verweist auf die Schwierigkeit, den Körper in der Repräsentation überhaupt zu verorten. Der Körper ist nicht ausstellbar. Er verliert gegen seine bildhafte Repräsentation als sterblicher Rest.
In der Perspektive Poussins wird der Zusammenhang von bildhafter Geschlossenheit und gewaltsam behaupteter Einheit bedeutsam. Die Szene ET IN ARCADIA EGO gilt dem vollendeten Bild Preußens: „Friedrich nimmt eine königliche Haltung ein. Die Maler malen. Der Knabenchor singt KEIN SCHÖNER LAND IN DIESER ZEIT / ALS HIER DAS UNSRE WEIT UND BREIT
Friedrich […]: „kein Schauspiel erfreut das Auge eines Königs mehr als eine blühende Provinz“[17]
Außerhalb dieses Arkadiens, das im Auge des Königs verankert ist, gibt es kein Bild. Die Szene führt militärischen Zwang, Gewalt, die Unterdrückung der Bauern und die zynische Verachtung des Anderen wie ein grelles Kasperletheater auf. „Voltaire kotzt an der Rampe.“[18]
Das Theater, sagt diese Szene, ist kein Bild, auch nicht dessen Rückseite oder gar dessen verborgene Wahrheit. Das Theater ist vielmehr der Ort, der jede bildhafte Abgeschlossenheit unmöglich macht und an dem die Körper – wie Rubens wusste – übrig bleiben, brut et nu, als sterblicher Rest.
5. Der Tod der Agrippina und so weiter
Abb. 11: Pittoni, Der Tod der Agrippina
Giambattista Pittoni um 1750: In den Gründerjahren des bürgerlichen Theaters erscheint im Zentrum der Szene der Körper einer toten Frau, ausgestellt für die Blicke der Bildbetrachter. Der nackte Körper, mit weit nach hinten fallendem Kopf, erscheint maximal geöffnet und wird von alten Männern in Debattierposen umgeben, die sich wechselseitig anschauen und ihre Blickbeziehungen jenseits des entblößten Frauenkörpers als in sich geschlossenes Blickband vorführen. Im Bild wird der nackte Frauenkörper zwanghaft als nicht angeschauter behauptet, um ihn desto schamloser den Blicken der Bildbetrachter auszusetzen. In dieser Struktur begründet das bürgerliche Theater den Zuschauer als Voyeur, während es den Schauspieler und in Sonderheit die Schauspielerin zur doppelten Entblößung zwingt: zur Veräußerung innerer Anlässe und seelischer Entblößung zum einen, zur Reduktion auf die körperbildliche Erscheinung und deren Veräußerung zum anderen. Die Geschlossenheit des Blicks im Bild (niedergeschlagene, verzückte, verdrehte Blicke) ist die Voraussetzung dafür, dass auf der anderen Seite der Zuschauerblick sich ermächtigt, ermannt und in die Produktion von Verführungs- oder Tötungsphantasien (oder beides in einem) einsteigt. Diderots berühmte Bildbeschreibung von Jeune fille qui pleure la mort de son oiseau von Jean-Baptiste Greuze kann hier als Modell gelten für den Ausschluss der Frau aus dem Zentrum (des dramatischen Konflikts, des öffentlichen Raumes), der sich gleichzeitig als Erhöhung und Apotheose der Frau durch eine (literarisch gespeiste) männliche Phantasie darstellt.
Im ersten Teil des Lessing-Triptychons liest der Schauspieler, der zu Lessing geschminkt wird: „Ich habe die Hölle der Frauen von unten gesehen“[19]. Im Traum wissen Lessings „Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war“[20] die Wahrheit. Was Emilia vernichtet, ebnet den Übergang zu keiner Figur und den Weg in die Maschinenform des Menschen. Nicht die alten Männer in Debattierposen als solche, nicht das Opfer der Frau als ein solches, nicht dass SPARTAKUS ein Fragment blieb, sondern dass dies alles – wie Heiner Müller in seiner Anmerkung zum Stück nahelegt – gleichzeitig[21] in die Gründung einer besseren Welt einging, macht diese unmöglich. Die Anachronismen sprengen die Kontinuität, ebnen den Weg für die apokalyptischen Szenarien Godards. „weekend usw. lesen“ notiert Müller auf einem seiner Manuskriptblätter: „Sprengung v. Theater (als Kontinuum)“[22].
Drei fragmentarische Thesen zum Abschluss
- Im Barock erscheinen der Raum des Textes und der des Bildes voneinander getrennt. Für den Text heißt dies, dass er sagt, was zu sehen ist, aber nicht gezeigt wird. Der visuell entwickelte Raum oder die bildstarke Verwandlung verbünden sich eher mit der Stimme als mit dem Text, der ihnen gleichwohl vorausgeht.
- Der zweite Teil des Lessing-Triptychons in Leben Gundlings führt vor, was der Text Bildbeschreibung von Heiner Müller vollendet: Die Bilder sind im Text aufgehoben. Die Sprache übernimmt, dank ihrer Beweglichkeit, die Funktion der Blicklenkung. Eine Bebilderung im visuellen Raum der Bühne ist dadurch ausgeschlossen. Der visuelle Raum und der Text in seiner Funktion als ‚Anordnung’ sind als Schauraum zu begreifen, als Medium, innerhalb dessen sich Blicke, Bilder und Sprache einstellen.
- Auf der Geschlossenheit des Bildes (exemplarisch: Poussin) beruht das Machtverhältnis zwischen Bild und Text im bürgerlichen Theater, der traditionellerweise zugunsten einer (vorgeblichen) Herrschaft des Bildes im „Schau-Spiel“ gelöst wird: Sprache wird zum Accessoire des Bühnenbildes. Der Wettstreit von Schrift und Bild ist jedoch der zweier Supplemente, der sich in einem progressus ad infinitum zu verlieren droht. Müllers Einspruch lautet: Die (barocke) Rückführung des Bildes in den Text. Die Häufung der Bilder im Text folgt dem Prinzip des „Blätterns“ (ein Blatt oder ein Bild über das andere), der Wiederholung und Übermalung. Der Rhythmus dieses „Blätterns“ verweist auf die unhintergehbare Materialität von Bildern, die Vorder- und Rückseiten aufweisen und in diesem Merkmal Körpern ähneln.
[[16]]Vgl. Michel Foucault: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig (Reclam) 2002, S. 34-46, hier S. 45.[[16]]
- Archivnummer: 3392, „et in arcadia ego: die“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006).↵
- Meine Auflistung zitiert die auf diesem Blatt enthaltenen Angaben weder vollständig noch befolgt sie in jedem Detail die Schreibweise der korrekt vorgenommenen Transkription, in der fragwürdige und problematische Lesbarkeiten nach einem eigenen Schema ausgewiesen werden. Die hier verwendete Auflistung gibt somit nur die für mich eindeutig erkennbaren Angaben wieder. Für das Agrippinamotiv habe ich mich zudem an die in der Rotbuch-Ausgabe wiedergegebene Abbildung von Giambattista Pittoni gehalten, ohne damit behaupten zu wollen, die handschriftliche Notiz dieses Blattes beziehe sich ‚nachweislich’ auf Pittoni.↵
- In: Heiner Müller: Herzstück. Texte 7, Berlin (Rotbuch) 1983, S. 111.↵
- Heiner Müller: LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. Ein Gräuelmärchen. In ders.: Herzstück, a.a.O., S. 9-37, hier: S. 19. [Im folgenden zitiert als: Müller, Leben Gundlings.]↵
- Archivnummer: 3394, „Mo 2 G 9“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006.)↵
- Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade .Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin (Akademie Verlag) 2004.↵
- Archivnummer: Vgl. Anmerkung 1.↵
- Archivnummer: 3394, „Kopf zuschnüren mit Armeln v. Uniform“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006.↵
- Ebd.↵
- Ebd.↵
- Müller, Leben Gundlings, S. 36.↵
- Archivnummer wie Anmerkung 7.↵
- So die sachliche Benennung dieses Teils in der „Anmerkung“, die dem Stück in der Rotbuch-Ausgabe vorangestellt ist. Vgl. Müller, Leben Gundlings, S. 9.↵
- Müller, Leben Gundlings, S. 36 f.↵
- Unter * vermerkt eine Fußnote: „lat. ‚Auch ich war in Arkadien’ (Horaz). Müller, Leben Gundlings, S. 29.↵
- Müller, Leben Gundlings, S. 29.↵
- Müller, Leben Gundlings, S. 30.↵
- Müller, Leben Gundlings, S. 34.↵
- Ebd.↵
- „Die Teile des Lessing-Triptychons sollten nach Möglichkeit […] überlappend aufgebaut werden: während der Schauspieler zu Lessing geschminkt wird, wird der Autofriedhof aufgebaut; während Emilia Galottis und Nathans Rezitation schütten die Bühnenarbeiter (Theaterbesucher) über dem Spartakus-Torso den Sandhaufen auf.“ Ebd., S. 9.↵
- Archivnummer wie Anmerkung 7.↵