Habitat: Weltenräume, Spielräume

Unterwegs im Gehäuse

Nach acht Monaten Reise durch das All schwenkt die bemannte Raumkapsel in die Umlaufbahn um den Mars ein. Nun wird das Landungsmodul in Betrieb genommen. Zwölf Tage später wird dieses Modul vom Mutterschiff abgekoppelt. Nach einem kurzen Flug landet es auf der Marsoberfläche. Am 14. Februar 2011 betreten der Russe Alexander Smolejewski und der Italiener Diego Urbina als erste Menschen den Mars. Im Orbiter, der um den Mars kreist, verfolgen die restlichen Teilnehmer der Marsexpedition diesen bedeutenden Schritt am Bildschirm.
Die Euphorie ist groß – und echt. Nicht echt hingegen ist der Mars, den sie betreten. Die beiden Marsonauten, die, in ihre Raumanzüge gehüllt, Gesteinsproben aus dem Boden entnehmen, tun dies in einer Halle in der Nähe von Moskau. Einige Tonnen Sand und ein blinkender LED-Sternenhimmel täuschen nicht darüber hinweg, dass dies noch kein großer Schritt für die Menschheit war.

Diese Marslandung war Teil eines langjährigen Projekts, das am Institut für Biomedizinische Probleme in Moskau durchgeführt wurde. Hauptpartner für das Experiment waren die russische Raumfahrtagentur Roskosmos und die Europäische Weltraumorganisation ESA. Für das Isolationsexperiment Mars500 ließen sich sechs Freiwillige während 520 Tagen in eine Konstruktion aus fensterlosen Containern einsperren und verbrachten dort die Zeitspanne, die ein wirklicher Flug zum Mars und zurück voraussichtlich einnehmen würde. Während diesen anderthalb Jahren, vom 3. Juni 2010 bis zum 4. November 2011, führten sie zahlreiche Experimente durch, sammelten Urin- und Luftproben, bewirtschafteten ein kleines Treibhaus, führten strenge und ausgeklügelte Diäten durch und veränderten durch blaues Licht ihren Schlaf-Wach-Rhythmus. Vor allem aber sollten sie Erkenntnisse darüber liefern, wie eine Gruppe von sechs Leuten mit einer derart langen Isolation umgeht.

Die beiden europäischen Teilnehmer des Experiments, der Franzose Romain Charles und der Italiener Diego Urbina verfassten regelmäßig aufschlussreiche Tagebuch- und Videoblogeinträge. Im Internetarchiv kann man ihre Alltagsprobleme mitverfolgen, die interkulturellen Schwierigkeiten, die schönen Momente, zum Beispiel wenn Geburtstag gefeiert wird. Oder eben das große Erfolgserlebnis, dass nach vielen Monaten der Mars erreicht wird. Die mediale Aufbereitung von Mars500 ist allerdings nur ein peripheres Ereignis des wissenschaftlichen Experiments. Das eigentliche Publikum dieser Versuchsanordnung sind die Forscher außerhalb des Containers. Sie blicken von außen auf die von ihnen geschaffenen Räume, sie analysieren die Geschehnisse in der Raumkapsel und gewinnen daraus im besten Fall Erkenntnisse zur physiologischen und psychologischen Verfassung ihrer Probanden. Die Forscher haben einen Raum geschaffen, der nach bestimmten Gesichtspunkten gebaut und eingerichtet wurde: Er sollte einem Raumschiff, das zum Mars fliegen könnte, möglichst ähnlich sein. Dem Bauen und Beleben des Versuchsraumes ging ein Prozess voraus. Der Raum wurde antizipiert, er war zunächst ein bloßer Gedankenraum.

Interessanterweise taucht der Raum oft als Metapher auf, wenn Denktätigkeiten beschrieben werden sollen. Über die Vorzüge eines begrenzten Denkraumes, schreibt zum Beispiel Karl Jaspers. In Psychologie der Weltanschauungen widmet er ein Kapitel den „Gehäusen“, die für den „Halt im Begrenzten“ stehen (1971, 304).

[Das Gehäuse gibt] eine Festigkeit und Sicherheit durch etwas schließlich mechanisch Anwendbares in geradlinigen, aussprechbaren Grundsätzen und einzelnen Imperativen. Der im Gehäuse existierende Mensch ist der Tendenz nach abgesperrt von den Grenzsituationen. Diese sind ihm durch das fixierte Bild der Welt und der Werte ersetzt. So kann er, dem schwindelerregenden Prozess entronnen, sich gleichsam in einem behaglichen Wohnhaus einrichten. (305)

Jaspers beschreibt hier das rationale Denken als begrenztes Denken, das zu bestimmten Weltsichten, Handlungsmustern und Lebenshaltungen führt. In einer bestimmten Denkhaltung, die durch den geschlossenen Raum symbolisiert wird, kann man Grundsätze und Imperative, Prinzipien und Regeln etablieren und benutzen. Innerhalb des so eingerichteten Denksystems muss man sich nicht mit dem Außerhalb der festgelegten Parameter auseinandersetzen. Im kleinen Raum reduziert man die Möglichkeiten. Bestimmte Aspekte werden ausgegrenzt, um andere genauer in den Blick zu nehmen. Das ist eine erleichternde Vereinfachung, die allerdings, so klingt es bei Jaspers an, auch dazu verführen kann, sich auf die Einfachheit des Modells soweit einzulassen, dass man die Kompliziertheit des Außerhalb vergisst.

Karl Jaspers Begriff vom Gehäuse, vom „Halt im Begrenzten“ möchte ich ganz wörtlich, also räumlich, nehmen. Das Gehäuse als tatsächlicher Raum ist genauso ein abgeschlossenes System, eine begrenzende Hilfestellung. Die Raummetapher bezieht sich für mich auf den konkreten Ort, auf den Versuchsraum von Mars500, und die Qualitäten, die diese Begrenzung mit sich bringt.

Abb.1: Probespaziergang auf der simulierten Marsoberfläche. Bildrechte: ESA/IBMP.

Abb.1: Probespaziergang auf der simulierten Marsoberfläche. Bildrechte: ESA/IBMP.

Abb.2: Die Crew von Mars500 in ihrem Wohnzimmer. Bildrechte: ESA.

Abb.2: Die Crew von Mars500 in ihrem Wohnzimmer. Bildrechte: ESA.

Der Container als Spielfeld
Eine der Qualitäten, die eine Begrenzung auf einen engen Raum bieten kann, ist die eingeschränkte Handlungsmöglichkeit. Wenn man danach fragt, wie dieser Raum, dieses Gehäuse, in Mars500 benutzt wird, fallen Ähnlichkeiten zu einem Spielfeld auf. Auch auf dem Spielfeld findet man die Grenze, die es vom Leben trennt, auch auf dem Spielfeld gelten bestimmte Regeln. Die Spieldefinition von Roger Caillois, die er 1958 in den ersten Kapiteln von Die Spiele und die Menschen vorstellt, lässt sich auf das Isolationsexperiment Mars500 anwenden:

Das Spiel ist:
1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne dass das Spiel alsbald seines Charakters der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge;
2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im Voraus festgelegter Grenzen von Raum und Zeit vollzieht;
3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendigerweise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muß.
4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element schafft und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels;
5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue alleingültige Gesetzgebung einführen;
6. eine fiktive Betätigung, die vom spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird. (1982, 16)

Für Caillois ist ein Spiel also eine freie, vom gewöhnlichen Leben räumlich und zeitlich abgetrennte, ungewisse, unproduktive, geregelte und fiktive Betätigung.

Betrachtet man Mars500 als Spiel, treffen diese sechs Definitionen zu. Die Versuchspersonen nehmen freiwillig teil. Die Dauer und das Spielfeld sind klar abgegrenzt, es dauert genau 520 Tage und findet in den Containern des Instituts für Biomedizinische Probleme in Moskau statt. Der Ausgang ist ungewiss: Ziel des Spiels wäre es, 520 Tage Isolation in einer Gruppe von sechs Menschen auszuhalten. Das kann auch scheitern, wie ein früherer Testlauf zeigte, der nach einigen Wochen abgebrochen werden musste. Es werden keine Güter hergestellt, es ist also auch unproduktiv, zumindest wenn man unter Produktivität nur die Herstellung von Waren versteht.

Am Interessantesten aber scheint mir das Verhältnis von Regel und Fiktion im Mars-Experiment. Analysiert man ein Spiel, ist die Frage ‚Woher kommen die Regeln?’ zentral. Es gibt Spiele mit abstrakten Regeln, die sich aus sich selbst erklären und aus sich selbst einen fiktiven Rahmen schaffen, aber keinen Bezug zu Dingen außerhalb des Spiels haben, etwa das Mühlespiel. Diese Spiele sind mit Caillois’ fünftem Definitionspunkt von der Regelbasiertheit der Spiele angesprochen. Der sechste Punkt dagegen lautet: „[Das Spiel ist] eine fiktive Betätigung, die vom spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder in Bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.“ (16) Weiter schreibt er: „Obwohl diese Behauptung paradox klingt, würde ich sagen, dass […] die Fiktion, also das Gefühl des als ob die Regel ersetzt und genau die gleiche Funktion erfüllt.“ (15. Herv. i. O.)

Die Fiktion erhält den gleichen Stellenwert wie die Spielregel. Das ‚als ob’ stellt sich ein, weil dem Spiel eine Fiktion zugrunde gelegt wird, die es strukturiert. Das ‚als ob’ ist eine Regel. Hält man sich nicht an diese Regel, dann funktioniert das Spiel nicht, dann ist es zu Ende. In der Spielzeit von 520 Tagen und auf dem Spielfeld der Containeranlage ist es die Fiktion, welche den Spielverlauf gestaltet. Allerdings sind die fiktionalen Hypothesen, dennoch auf die reale Welt bezogen, etwa die Regel der Spieldauer. Zum Mars und zurück dauert es 520 Tage, daraus ergibt sich die Regel der Spieldauer. Weitere solche Annahmen geben den Fahrplan des Projekts vor. Zum Beispiel tritt das Raumschiff nach acht Monaten in die Umlaufbahn des Mars ein, daraufhin wird das Landungsmodul vorbereitet und die Marsonauten fliegen damit zur Marsoberfläche. Die aus einer wissenschaftlichen Hypothese abgeleitete Fiktion strukturiert das Handeln und Denken der spielenden Versuchspersonen. Wenn Caillois von einem „Gefühl des als ob“ (15) im freien Spiel spricht, bedeutet das, dass das Spiel einerseits darin besteht, das Leben nachzuahmen, aber andererseits auch darin, innerhalb des Spieles Regeln zu etablieren, die eine andere Wirklichkeit produzieren. Diese Regeln leiten sich aus Fiktionen ab. Wenn Polizeibeamte eine des Raubüberfalls verdächtigte Person verfolgen, dann ist das kein Spiel. „Räuber und Gendarm“ hingegen ist ein Spiel. Die Regel des Spiels lautet: Die Gendarmen verfolgen die Räuber. Sie leitet sich einerseits aus der Lebenswelt der Spielenden ab, in der es tatsächlich Polizisten und Polizistinnen gibt, die Verdächtige verfolgen. Andererseits sind die Beteiligten selbst in den meisten Fällen weder Polizeibeamte noch Straftäter, sie ahmen die Verfolger-Verfolgter-Struktur im Spiel lediglich nach. Im Spiel wird also nie ganz das Bewusstsein dafür verloren gehen, dass die Haltung eine fiktionale ist. Nach Caillois bewirke das Bewusstsein der absoluten Irrealität das gleiche wie die willkürliche Gesetzgebung anderer Spiele: Die Abtrennung vom gewöhnlichen Leben (15). Das Eintreten in das Spiel, in die Illusion, das Eintauchen in die Fiktion, in die Immersion ist das, was das Spiel ausmacht. Wenn die Probanden nach mehreren Monaten scheinbar auf dem Mars ankommen, freuen sie sich aufrichtig und echt.

Auf der Seite des Instituts für Biomedizinische Probleme findet man einen Fragebogen, den fünf der Crewmitglieder nach 365 Tagen in der Isolation ausgefüllt haben. Eine Frage interessierte mich besonders: „Did you feel yourselves really flying to another planet?“ (IBMP 2011; gilt auch für alle weiteren Zitate des Absatzes; das gesamte Interview zur Nachlese: http://mars500.imbp.ru/en/520_crew_interview.html). Das chinesische Crewmitglied Wang Yue antwortet: „Sometimes I have a feeling like this.“ Auch die beiden Europäer beschreiben dieses ‚als ob’-Gefühl. Romain Charles hält fest, dass er zwar nicht das Gefühl hatte, dass er zum Mars geflogen sei, aber dass es ihm schwer gefallen sei, sich vorzustellen, dass da draußen, außerhalb der Container, ein Vorort von Moskau wäre. Es wäre ihm eher vorgekommen als müsste er sich in einer abgeschiedenen, einsamen Weltgegend befinden. Auch er reiste also in der Vorstellung, zwar nicht zu einem anderen Planeten, aber in die Wüste, die Einsamkeit. Die Antwort des italienischen Probanden Diego Urbina ist besonders bemerkenswert. Er antwortet: „ […] when we were arriving to Mars it felt a lot like we were arriving there.“ Es hätte für ihn innerhalb der Versuchsanordnung Mars500, innerhalb des Spiels ein tatsächliches Ankommen auf dem Mars gegeben. Er schreibt: „when we were arriving to Mars…“. Er wusste gleichzeitig, dass es nicht der echte Mars war, das zeigt sich im zweiten Satzteil „…it felt a lot like we were arriving there“. Und doch war es ‚ein Mars’. Die Marsonauten tauchten tief in ihr Spiel ein, so tief, dass sie von ihrer Tätigkeit absorbiert und vereinnahmt waren. Auf ihrem Spielfeld waren sie von der Außenwelt so sehr abgeschirmt, dass sie gar nicht anders konnten, als sich ganz von ihrer Tätigkeit einnehmen zu lassen. Sie changierten ständig zwischen dem Bewusstsein, dass das alles nicht echt ist – und dem Glauben an die Fiktion ihres Spiels.

Ich fasse meine Beobachtungen zusammen. Mars500 lässt sich wie ein Spiel beschreiben. Es gibt ein hermetisch vom normalen Leben abgetrenntes Spielfeld, das nicht verlassen werden kann. Die Raumschiffscontainer sind eine Umgebung, die für die Beteiligten, die hier zu Mitspielern werden, eingerichtet wurde. Sowohl die Dinge in dem Container als auch die am Experiment beteiligten Personen weisen einander gegenseitig Bedeutung zu. Diese Bedeutung generiert sich durch die Fiktion der Mars-Reise, welche das Geschehen während der klar begrenzten Zeit von 520 Tagen lenkt. Das System wird durch die Fiktion strukturiert.

Beachtenswert ist hier, dass das, was die Forscher in einem Vorort von Moskau aufgebaut haben, zunächst einmal ein Gedankenspiel ist: Was wäre, wenn eine Gruppe von Menschen zum Mars reisen würde? Wie würde sich diese Reise gestalten? In der Versuchsanlage werden diese Gedanken verräumlicht. Allen Bauvorhaben geht eine Planung voraus, die eine Gedankenleistung darstellt. Alle geplanten Bauwerke werden zu Gegebenheiten und werden als solche von den Menschen in verschiedener Weise benutzt. Der Gedankenraum, der in Mars500 manifest wird, unterscheidet sich aber von anderen Räumen dadurch, dass er ein abgeschlossenes System darstellt, das – mit einem zentralen Punkt der Spieldefinition von Johan Huizinga gefasst – als „außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird.“ (2006, 22) Mars500 ist ein Raum-im-Raum, der in sich funktioniert und in dieser Abgeschlossenheit anders funktioniert als andere Räume. Aus ihm spricht eine Absicht, nämlich jene, für etwas zu stehen und etwas zeigen zu wollen.

Einleuchtender wird diese Annahme, wenn man sich vom wissenschaftlichen Experiment entfernt und Kunsträume in den Fokus nimmt. Es gibt Räume der Kunst, die als Spielwelten ähnliche Qualitäten haben wie Mars500: Sie sind Raum-im-Raum-Konstruktionen; sie sind in sich geschlossene Systeme, die außerhalb des normalen Lebens stehen; sie verräumlichen eine Vorstellung, sind auf diese Idee hin absichtsvoll eingerichtet und werden von Menschen besucht und benutzt.

Habitat als künstlerische Spielwelt
Allan Kaprow verwendet Anfang der Sechzigerjahre in einem Essay über die New Yorker Happening-Szene einen Begriff, um Kunsträume zu beschreiben. Er bezeichnet sie als Habitat, als Wohnstätte und Lebensraum der Kunst.

The place where anything grows up (a certain kind of art in this case), that is, its ‚habitat’, gives to it not only a space, a set of relationships to the various things around it, and range of values, but an overall atmosphere as well, which penetrates it and whoever experiences it. (1993, 18)

Er bringt damit einige Dinge ins Spiel, die mir im Blick auf die darstellenden Künste wichtig scheinen: Das Habitat ist ein der Ort, an dem etwas wächst, es gibt einen Raum frei, innerhalb dessen spezifischer Bedingungen sich etwas entwickeln kann und soll. Es schafft Beziehungen und Verbindungen zwischen den Dingen, die sich innerhalb dieses Raums befinden. Der eingerichtete Raum hat eine Atmosphäre, von der er selbst und alle, die ihn erleben, durchdrungen werden. Das Kunsthabitat wird durch die Atmosphäre erlebt und diese wird durch die Bedeutungszusammenhänge geschaffen.

Als Gegenstand der Forschung interessieren mich künstlerische und künstliche Habitate, die durch eine Praxis des Menschen entstehen. Unter einem Habitat verstehe ich: Ein Setting von Gegenständen, Figuren und Beziehungen. Ein eingerichteter, begrenzter Ort als Welt. Eine bewohnte Welt. Ein Ort, der zeitlich begrenzt ist oder zumindest eine Zeitlichkeit hat. Es ist ein Setting mit einem mindset, mit einer Denkhaltung und einer Mentalität, mit Regeln, Abläufen, gegenseitigen Bedingungen.

Das Habitat ist ein Gehäuse. Jene Denk- und Arbeitsstube, in der Albrecht Dürer seinen Heiligen Hieronymus in dem Kupferstich von 1514 wohnen lässt, ist eine sinnbildliche Darstellung eines Habitats. Hieronymus sitzt am Schreibpult; neben den beiden schlafenden Tieren sind auch allerlei Gerätschaften und Bücher sorgsam im Raum platziert.; Kardinalshut, Kreuz, Kürbis, Totenschädel, Bücher, sie alle weisen auf die inhaltlich zentrale Figur, auf Hieronymus hin. Wir sehen eine Figur, umgeben von ihren Dingen. In dem Raum wird festgehalten, was Hieronymus’ Lebenswelt ist. Sie drückt sich durch die Dinge aus, denen Bedeutung zugewiesen wird. Die Dinge stehen füreinander ein. Der Hut, der an der Wand hängt, wird erst zum Kardinalshut, weil es Hieronymus’ Hut ist, Hieronymus selbst aber wird durch den Kardinalshut erst erkennbar als der kirchliche Würdenträger Hieronymus. Ich betrachte den Kupferstich und bekomme einen Einblick in und eine Übersicht über die Lebenswelt dieser Figur. Das Habitat ist für mich beobachtbar, es ist beobachtbar weil ich es von Aussen betrachte oder als Gast besuche, weil ich es dadurch ganz erfassen kann. Das Habitat ist für meinen Kontext ein gemachter Raum. Es ist ein geschlossenes System, das durchlässig ist, in Wechselwirkung treten kann, aber nicht muss. Es ist ein Habitat neben vielen, ein Habitat in vielen.

Habitate in der darstellenden Kunst können sich parasitär einnisten, sich als soziale Gefüge einbinden in das öffentliche Leben, sie können sich mit dem Nicht-Kunstraum in ein direktes Spannungsverhältnis setzen und ihn damit thematisieren. Mich interessiert aber zunächst eine auf den ersten Blick wesentlich einfachere Ausgangslage, nämlich tatsächlich Räume, die in andere Räume hineingebaut wurden.

Einem solchen Raum begegne ich in Rimini Protokolls Situation Rooms (Von mir besuchte Vorstellung: Frankfurt LAB, Künstlerhaus Mousonturm, 31. Oktober 2013). In einer großen Theaterhalle finde ich mich – zusammen mit neunzehn weiteren Gästen – einer zweistöckigen Konstruktion gegenüber. Ausgerüstet mit einem Tablet und Kopfhörern sollen wir als Gäste die Hauskonstruktion betreten und den Anweisungen von Bildschirm und Kopfhörern folgen. Auf dem Bildschirm läuft ein Film, der in genau den Räumlichkeiten spielt, in denen ich mich selbst befinde. Es geht darum, die Figur zu verfolgen, die mich durch das Haus führt, indem ich den Gebäudeausschnitt, den ich auf dem Bildschirm sehe, mit jenem im Hier und Jetzt in Deckung bringe. Immer wieder wechselt mein Reiseführer durch dieses Labyrinth, ich hefte ich mich an die Fersen verschiedener Personen, deren Biografien mit dem globalen Waffenhandel verstrickt sind. Ich folge unter anderen einer russischen Kantinenköchin, die in einer Rüstungsfabrik arbeitet, einem deutschen Parcours-Schützen, einer Flüchtlingsfamilie in ihrer Asylunterkunft oder einem Schweizer Waffeningenieur.

Wie bei Mars500 hat man es auch hier mit einem geschlossenen System zu tun. Hier werde ich als Zuschauerin zur Akteurin in dieser Anordnung, ich werde zum Gast dieses Raumes. In Situation Rooms bin ich eine Mitspielerin und erkunde dabei das von Rimini Protokoll geschaffene Spielfeld. Innerhalb der Raum-im-Raum-Konstruktion finde ich eine Welt vor, die für jemanden eingerichtet wurde. Die Räume wurden mit Dingen ausgestattet, die auf die am Projekt Beteiligten verweisen: Fotos an der Wand, Kleider auf der Wäscheleine, Notizzettel auf dem Schreibtisch. So wie die Dinge in Dürers Kupferstich auf Hieronymus verweisen, so verweisen die Dinge in Situation Rooms auf die verschiedenen Menschen, die mit dem Waffenhandel zu tun haben. Ihr Leben erzählt sich in Aspekten durch die Gegenstände, die Räume. Jetzt, wo die Menschen weg sind, trete ich als Gast an ihre Stelle und setze mich zu den Räumen und Dingen in Bezug. Ich betrete eine inszenierte Lebenswelt.

Ich habe eine Aufgabe, die ich innerhalb dieses vorgegebenen Raums und innerhalb einer vorher bestimmten Zeit erfüllen muss: Die Anweisungen, die ich via Bild und Ton aus dem Tableterhalte, vermitteln mir, dass ich mich immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden muss und die richtigen Dinge tun soll. Wenn ich der Kantinenköchin Irina folge, dann bin ich aufgefordert, es ihr gleichzutun und aus einem großen Suppentopf einen Teller voll zu schöpfen und auf den Tisch zu stellen, wo ein anderer Gast schon sitzt und beginnt die Suppe zu essen. Später folge ich dem Schweizer Ingenieur und setze mich an genau diesen Tisch und jemand stellt mir eine Suppe hin. Mir wird das Gefühl vermittelt, dass ich den Ablauf der Handlung blockiere, wenn ich die Anweisungen nicht befolge, sei es absichtlich oder weil ich sie nicht verstehe. Versage ich, werde ich zur Spielverderberin. Die Orientierung ist nicht immer einfach, Anweisungen sind manchmal zu schnell und ich muss mich konzentrieren, keine Fehler zu machen. So bewege ich mich durch die verschiedenen Räume dieses Filmsets. Ich stehe auf einer Dachterrasse, wo Wäsche hängt, gehe hinunter in einen Hobbykeller, in einen Schiesstand, befinde mich in einem Aufzug und dann wieder in einem Sitzungszimmer oder auf einem Friedhof. All diese Räume umgeben mich ganz, sie sind naturalistisch-akkurat eingerichtet und bis in das kleinste Detail durchplant. Dadurch, dass sie mich vollständig umgeben und zugleich ständig etwas von mir fordern, tauche ich tief in diese Spielwelt ein. Ich werde zur Akteurin in dieser Welt, sie wird für mich erst durch mein Handeln lesbar.

Jene, die diese Räume geplant und aufgebaut haben, sind nicht mehr da. Jene, deren Lebenswelt in diesen Räumen inszeniert wurde, waren da, aber sind jetzt weg. Ihre Spur findet sich nur noch auf dem Bildschirm. Wir als Gäste betreten diese verlassene Raumlandschaft und durch unsere Anwesenheit und unser Handeln in den Räumen erfüllt sich die Absicht dieser Spielwelt.

Sowohl die Versuchsanlage von Mars500 als auch das Multiplayer Video-Stück Situation Rooms sind Raum-im-Raum-Konstruktionen, die Menschen, Gegenstände und Räume zueinander in Beziehung setzen. In beiden Fällen geschieht dies losgelöst vom täglichen Leben und unter der genauen Beobachtung und Betrachtung der beteiligten Personen. So verraten die beiden sehr verschiedenen Ausgangslagen viel über das, was wir ohne viel darüber nachzudenken als Wohnen und Bewohnen bezeichnen. Die genaue Betrachtung der beiden Beispiele könnte Aufschlussreiches verraten: Wir wohnen. Aber wie genau?

Quellen

  • Caillois, Roger. 1982. Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a. M.: Ullstein.
  • Huizinga, Johan. 2006. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 20. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
  • IBMP (Institut für Biomedizinische Probleme). 2011. „Interviews with crew.“ http://mars500.imbp.ru/en/520_crew_interview.html.
  • Jaspers, Karl. 1971. „Der Halt im Begrenzten: Die Gehäuse.“ In Psychologie der Weltanschauungen, hg. von demselben, 304-326. 5. Aufl. Berlin: Springer.
  • Kaprow, Allan. 1993. „Happenings in the New York Scene (1961).“ In Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von demselben, 15-26. Berkeley: University of California Press.

Abbildungen

Bettina Rychener, geb. 1984, BA, ist derzeit MA-Studentin der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsgebiet: Spiel- und Raumkonzepte im zeitgenössischen Theater. Arbeit an journalistischen und literarischen Texten, Features und Hörspielen, zuletzt Autorin des Kurzhörspiels „Frank Wedekind – Zwischen Tingeltangel und Zensur“ (Ursendung hr2, 2011).

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