Ein Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele
Alexander Kerlin: Frau Thiele, im Team von Claus Peymann haben Sie in den neunziger Jahren bis 2001 am Wiener Burgtheater und am Berliner Ensemble als Dramaturgin gearbeitet. Im Kontext verschiedener Arbeiten sind Sie dort auch Elfriede Jelinek und Einar Schleef begegnet. Wie haben Sie Herrn Schleef, wie Frau Jelinek kennengelernt?
Rita Thiele: Meine erste Begegnung mit Elfriede Jelinek hatte ich im Zusammenhang mit der ersten Jelinek-Uraufführung überhaupt an der Burg. Das war Totenauberg. Der Text lag der Dramaturgie im Theater vor, und ich war absolut fasziniert. Es galt, einen Regisseur für diesen
Text zu finden. Das war gar nicht so einfach, um ehrlich zu sein, weil damals diese Art von Dramatik, die ja nicht psychologisch ist, Avantgarde war, also noch sehr ungewöhnlich. Peymann hatte großen Respekt vor dem Stück, aber auch Skrupel, ob er selbst ein guter Uraufführungsregisseur dafür wäre. Er hat dann Regisseure zu mir in die Dramaturgie geschickt, und wir haben das Stück gemeinsam gelesen und diskutiert. Seitdem war ich an der Burg für die Jelinek zuständig. Es gab zwei Regisseure, die sofort auf den Text angesprungen sind und ihn sehr faszinierend fanden: Hans Neuenfels und Manfred Karge. Letztendlich hat dann Manfred Karge dieses Stück am Wiener Akademietheater uraufgeführt. Das war eine sehr spannende Arbeit, und wir haben viele Publikumsgespräche zum Stück und zur Inszenierung geführt. Und in diesem Zusammenhang habe ich Elfriede Jelinek persönlich kennengelernt.
Die zweite Arbeit war dann glaube ich Raststätte. Claus Peymann hat Regie geführt, ich war Produktionsdramaturgin. Das war eher schwierig. Peymann ist zwar ein toller Komödienregisseur und Kirsten Dene und Maria Happel, die die beiden Frauen gespielt haben, waren wirklich gut. Aber die Schauspieler haben mit Peymann ihre Figuren dann doch sehr im Innerlichen, Psychologischen gesucht. Der Schlüssel, wie mit Jelineks Sprache umzugehen ist, was für andere Spielweisen sie verlangt, wurde nicht wirklich gefunden. Castorfs Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus war, denke ich, die bessere Aufführung.
Meine Begegnung mit Schleef war Ende der neunziger Jahre. Elfriede Jelinek hatte Ein Sportstückgeschrieben und sich Schleef als Uraufführungsregisseur gewünscht. Dieser Bitte sind wir gefolgt. Wir haben ihm das Manuskript nach Berlin geschickt, Schleef kam daraufhin sofort nach Wien. Das erste Arbeitstreffen fand in der Wohnung von Claus Peymann statt, Elfriede Jelinek war nicht dabei. Das Stück ist wirklich ein Opus Magnum, und als Peymann und Hermann Beil, sein langjähriger Vertrauter, diese 140 Manuskriptseiten gelesen hatten, fanden sie es sehr fraglich, wie dieses Stück aufzuführen sei. So waren wir sehr neugierig, wie Schleef reagieren würde. Schleef kam dann sehr erschöpft vom Flughafen. Als erstes erzählte er, daß er sich an einem Küchenstuhl hätte anbinden müssen, um diesen Text zu Ende zu lesen, daß er die Lektüre auch als Folter erlebt hätte, aber daß er diesen Text für grandios halten würde und die Herausforderung der Autorin annehmen möchte. Er hat später auch den Schauspielern gegenüber oft betont, daß die Autorin uns da einen riesigen Felsbrocken hingerollt hätte, und der Fels müsse nun eben zurückgerollt werden. Ich glaube, daß das wirklich eine kongeniale Kombination war, diese beiden Menschen. Das Stück war wie für Schleef geschrieben.
Meike Hinnenberg: Ist das Sportstück für Sie die wichtigste Arbeit in der Kombination Schleef/Jelinek gewesen? Oder gibt es andere Projekte, die für Sie einen ähnlichen Stellenwert besitzen?
RT: In der Kombination Schleef und Jelinek habe ich das Sportstück gemacht und später in Berlin nochMacht nichts. Exakt eine Woche vor der Premiere hatte Schleef einen Herzinfarkt. Die Premiere mußte ausfallen und Schleef hat sich von diesem Infarkt letztendlich nicht mehr erholt. Makabrer Weise hat das Stück ja den Untertitel „Eine kleine Trilogie des Todes“. Natürlich hat diese letzte Zusammenarbeit für mich einen ganz besonderen, traurigen Stellenwert. Bei Macht nichts kannte ich Schleef bereits länger, das war für mich die intimere und vertrauensvollere Zusammenarbeit. Das Sportstück wird für mich unvergeßlich bleiben, weil ich Schleef hier kennenlernte und ich vollkommen fasziniert vor diesem Theatermacher stand. Bis heute bleibt Schleef für mich die künstlerische Persönlichkeit am Theater, die mich am meisten beeindruckt hat.
Während des Sportstückes hatte ich bei Schleef noch einen schweren Stand, weil er unbekannten Menschen gegenüber sehr mißtrauisch war, vor allem Mitgliedern der Theaterleitung gegenüber. Das hatte sicherlich mit seiner Vergangenheit in der DDR zu tun und seinem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber Menschen, auch Kulturschaffenden, mit Macht. Zu Theaterdirektoren und Direktionsmitgliedern, also auch zu Dramaturgen, von denen er befürchtete bespitzelt zu werden für die Direktion, hatte er ein ambivalentes Verhältnis.
AK: Im Schleef-Arbeitsbuch, das im Verlag Theater der Zeit erschienen ist, beschreiben Sie ausführlich das erste Treffen zwischen Jelinek und Schleef in Wien, bei dem Sie dabei gewesen sind. Sie berichten von einer merkwürdigen Befangenheit zwischen den beiden. Was hat Ihrer Einschätzung nach Jelinek an Schleef, was Schleef an Jelinek so fasziniert oder irritiert, daß es zu dieser Befangenheit kommen konnte?
RT: Die Befangenheit hatte sicher etwas mit gegenseitiger Faszination oder sogar Adoration zu tun, und für Schleef gab es sicherlich auch einen ganz unspektakulären Grund, ein bekanntes Phänomen: Regisseure haben oft die Befürchtung, daß Autoren, wenn sie zu früh Proben besuchen und ihre Erwartungen nicht erfüllt finden, irgendwie in den Probenprozeß einzugreifen versuchen, auf was für Wegen auch immer. Schleef hatte damit ja auch einschlägige Erfahrungen. Mit Herrn Hochhuth ist er wegen seiner Inszenierung von Wessis in Weimar ja fast vor dem Kadi gelandet. Bei Schleef war es also beides, eine Angst vor Einmischung durch die Autorin – sein ausgeprägtes Mißtrauen habe ich bereits erwähnt – und eine große Bewunderung. Später, nach der Uraufführung, war das Verhältnis zwischen den beiden entspannter: Beim Premierenapplaus ist Schleef nach vorne gegangen und hat eine persönliche Liebeserklärung an Wien und die Wiener formuliert, an die österreichische Literatur im allgemeinen und im besonderen an Elfriede Jelinek.
Elfriede Jelinek war mit Schleefs Frankfurter Regiearbeiten, auch mit seiner Literatur, gut vertraut. Sie schätzte Schleef ungeheuer – nach Faßbinder war er für sie das zweite deutsche Genie der Nachkriegszeit –, kannte ihn vor dem Sportstück aber nicht persönlich. Als Schleef dann live vor ihr saß, war sie wohl einigermaßen erstaunt. Irgendwie hatte sie sich, glaube ich, einen anderen Menschen vorgestellt. Dazu kam, er war an diesem Tag nicht gerade höflich, und das im Land der traditionell höfischen Höflichkeit. Die Art der Deutschen, sehr direkt ihre Gefühle zu artikulieren ist den Österreichern eher fremd.
Schleef und ich waren vorher den Schloßberg Sans Soucis hinunter gerannt, es war ein sehr heißer Tag. Er hatte sich unter einen Rasensprenger gestellt, bevor wir im Verabredeten Café eintrafen. Er war also klitschnaß und hochrot und sah wirklich ein bißchen aus wie ein Penner, auch wegen der Plastiktüten mit den Sportstück-Manuskripten, die wir dabei hatten. Dazu war er müde von der Probe und ein bißchen aufgeregt.
Sie haben sich dann schlichtweg angeschwiegen. Vielleicht hat er sich gedacht, erst mal ruhe ich mich aus. Vielleicht wollte er auch nicht gleich wieder losstottern, es war nicht gerade sein stotterfreier Tag. Für beide war das wohl eine eher anstrengende Begegnung.
Vor der Premiere vom Sportstück haben sich sie sich dann noch ein zweites Mal getroffen, bei einem Abend mit dem Titel Jelinek liest Schleef. Schleef liest Jelinek, eine von Peymann initiierte Einführungsveranstaltung für die Zuschauer. Elfriede hatte für diesen Abend ein Kapitel aus Droge Faust Parsifal ausgewählt, in dem Schleef über sein Kasperle-Spiel schreibt, über seine Kasperle-Puppen. Sie hat sehr schön gelesen. Schleef sollte im Gegenzug dazu aus dem Sportstück lesen, aber er liebte Überraschungen. Statt dessen hörte man zum ersten Mal die siebzig Schauspieler des Sportstück-Ensembles im Chor Passagen des Textes skandieren. Das war eine super Veranstaltung. Aber auch damals sind sich Jelinek und Schleef aus dem Weg gegangen. Hinterher saß Schleef mit seinem Ensemble in einer nahegelegenen Kneipe, die Autorin saß in der Kantine des Akademie-Theaters. Ich weiß nicht einmal, ob Schleef sich verabschiedet hat. Es war kein Krieg zwischen den beiden, aber irgendwie funktionierte ihre Beziehung über eine Distanz, sehr vorsichtig. Ich glaube, Schleef wollte so kurz vor der Premiere einfach nicht hören, was Elfriede Jelinek zu seiner Arbeit zu sagen hatte. Und Elfriede Jelinek ist ein sensibler Mensch, sie spürt, wenn Berührungsängste da sind. Außerdem war es ja nicht der erste Regisseur, mit dem sie konfrontiert war. Nach der Premiere hat sich alles total entspannt: öffentliche Liebeserklärungen von Schleef an Jelinek und umgekehrt, die Befangenheit war plötzlich weg.
MH: In der Sportstück Inszenierung gibt es eine Szene, in der Einar Schleef den Monolog der Elfi Elektra bzw. der Figur der ‚Autorin‘ spricht, während er langsam von der Brandmauer aus auf die Zuschauer zugeht. Auf dem Bodentuch, das die Bühne bedeckt, ist der Monologtext komplett aufgemalt. Auf einer bestimmten Textebene könnte man sagen, daß Frau Jelinek sich in diesem Monolog selbst als Autorin und Tochter thematisiert und sich in ein spannungsgeladenes Verhältnis zu der Figur der Elektra setzt, die den Mord ihrer Mutter Klytemnästra an ihrem Vater Agamemnon nicht ungesühnt lassen will. Bei mindestens einer Aufführung war Elfriede Jelinek ja auch selbst mit auf der Bühne, Hand in Hand mit dem vortragenden Schleef. Wie ist es zu dieser Szene gekommen?
RT: Schleef wollte von Anfang an, daß die Jelinek den Schlußmonolog selber spielt. Sie hat aber sofort gesagt, daß sie das nicht kann, sie sei zu aufgeregt dazu. Das könne sie wirklich nicht, zumal bei einer solch wichtigen, schon im Vorfeld viel besprochenen Uraufführung. Die nächste Idee, die Schleef dann verfolgte, war zwei ältere Schauspielerinnen zu fragen, Mutterfiguren eigentlich, Großmutterfiguren fast. Eine von beiden meinte, sie könne sich diesen Text nicht merken, woraufhin Schleef diesen Buchstabenboden erfunden hat, einen Teppich, auf den er den Text hat schreiben lassen.
Beide Schauspielerinnen haben letztendlich abgesagt. Da hat Schleef gesagt, dann mach ich’s eben selbst. Er hat diesen Monolog vor uns nie geprobt. Zum ersten Mal ist er drei Tage vor der Premiere auf die Bühne gegangen. Er hat das sicherlich zuhause geübt, für sich alleine, aber wir im Regieteam haben das eigentlich bis zum Schluß nicht zu sehen bekommen. Er hat sich von seiner engsten Vertrauten, Susan Todd, sagen lassen, ob er richtig im Licht steht und ist dann vor der Premiere den Text ein-, zweimal auf der Bühne durchgegangen. Ziemlich laut, wenn ich das richtig erinnere.
Wir hatten die Inszenierung bereits ein paarmal gespielt, da hat Schleef für Droge Faust Parsifal den Bremer Literaturpreis bekommen. Am Tag der Verleihung war aber bereits eine Sportstück-Aufführung disponiert. Schleef hat noch mal darum gebeten, daß Elfriede Jelinek den Text liest, wenn er nicht da ist, ihn also vertritt. Das war bereits ein paar Wochen nach der Premiere. Sie hatte noch immer großen Respekt und große Angst, hat aber schließlich eingewilligt. Sie hat sich nicht auf den Buchstabenteppich verlassen, sondern ist mit Manuskript rausgegangen und hat den Text mit Hilfe eines Mikroports gesprochen.
Und dann gab es eben diese Aufführung, in deren Anschluß ein Publikumsgespräch stattfinden sollte. Schleef und Jelinek waren beide da. Die Jelinek stand hinter der Bühne, und der Schleef auch. Ich habe dann den Vorschlag gemacht, daß beide gemeinsam rausgehen sollen. Als Hänsel und Gretel im Blätterwald. Dann sind sie Hand in Hand als Geschwisterpaar, wie Elektra und Orest, nach vorne gegangen und haben nach „Papi“ geschrieen, ein Wort, das sich im Text ständig wiederholt. Daß beide gemeinsam auf der Bühne standen, war also eigentlich Zufall. Heiße, konzeptionelle Diskussionen waren dem nicht vorangegangen. Es war aber auch ein Zeichen ihres Annäherungsprozesses.
MH: Was hat diese beiden Künstler noch verbunden, auf thematischer Ebene? Warum hat es diese Affinität gegeben?
Zum einen ist da natürlich die Figur des Chores, die bei Jelinek gerade im Sportstück im Vordergrund steht und die das künstlerische Lebensthema von Schleef gewesen ist. Auch die Figur der Mutter, die imSportstück im Zentrum steht: Droge Faust Parsifal läßt sich dazu fast als Sekundärliteratur lesen. Hier spricht Schleef von der Verdrängung der Frau aus dem Zentrum des tragischen Konflikts. Mit Jelinek kehrt die Frau ins Zentrum zurück. Das war sicher auch ein Aspekt, der ihn an diesem Stück interessiert hat.
Darüber hinaus gibt es biographischen Übereinstimmungen zwischen Schleef und Jelinek, die diese Affinität erklären könnten. Jelinek ist eine Autorin, die zeitlebens mit ihrer persönlichen Geschichte zu kämpfen hatte, und in ihrer Literatur findet das natürlich Niederschlag. Womit ich nicht sagen möchte, daß ihre Literatur und ihre Lebensgeschichte zu verwechseln wären. Aber natürlich ist die Auseinandersetzung mit ihrer Familie sehr bestimmend für ihre literarische Tätigkeit. Das kann man auch über Schleef und seine künstlerische Arbeit sagen. Er hat sich immer wieder mit Sangerhausen, seinem Herkunftsort im Thüringischen, und mit seiner Familie auseinandergesetzt. Da war wirklich eine Haßliebe, aus der er viel geschöpft hat für seine Kunst.
Die Auseinandersetzung mit einem kranken Vater ist auch etwas, was beide eint. Jelineks Vater wurde manifest psychisch krank, kurz bevor sie Abitur machte, und Schleefs Vater war herzkrank, wenn ich das richtig verstanden habe, jemand, der sehr früh bettlägerig wurde und ein Pflegefall war. Beide beschreiben das Gefühl, vom Vater im Stich gelassen worden zu sein, die Wut des Kindes gegenüber dem Vater, der, weil er krank ist, das Kind alleine läßt. Andererseits gibt es auch Schuldgefühle: Da ist jemand krank geworden oder aus dem Leben gegangen, dessen Ansprüchen man vielleicht nicht genügt hat. Ich glaube, das ist auch etwas, was Schleef und Jelinek vereint.
AK: Noch mal zu der angesprochene Szene aus dem Sportstück. Wenn ich den Videomitschnitt der Inszenierung anschaue und Herrn Schleef wiederholt und lautstark „Papi“ rufen höre, dann meine ich, da untergründig eine ganz persönliche Ebene mitklingen zu hören, Schleef also irgendwie auch seinen Vater anruft. Wäre das nächste große Projekt Schleefs die Auseinandersetzung mit der Figur des Vaters gewesen, nachdem in seinem Werk bis dahin die Auseinandersetzung mit der Figur der Mutter im Zentrum stand?
RT: Ich wage keine Behauptung darüber aufzustellen, was derzeit Schleefs Thema wäre. Ich finde aber, daß die Auseinandersetzung mit seinem Vater bereits passiert ist. In einem Roman wie Gertrud steht natürlich die Mutter im Zentrum, der Roman ist nach ihr benannt. Ich kenne aber sehr viele Texte über Schleefs Vater und ich habe nicht das Gefühl, daß mir der Vater weniger präsent als die Mutter wäre. Tatsache ist natürlich, daß der Vater früher verstorben ist. Tatsache ist auch, daß Schleef seine Mutter 1976 alleine in der DDR zurückgelassen hat. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater schon beerdigt und sein Bruder bereits im Westen. Die Mauer stand noch, 1989 war noch weit weg. Schleef mußte einfach davon ausgehen, daß er im schlimmsten Falle seine Mutter vor ihrem Tod nicht noch einmal wiedersehen würde. Er konnte ja auf keinen Fall zurück in die DDR reisen, da er Republikflucht begangen hatte. Und ob die Mutter in den Westen ausreisen durfte, war zumindest fraglich mit zwei republikflüchtigen Söhnen. Schleef mußte 1976 also davon auszugehen, daß seine Mutter in diesem Sangerhausen – ohne Söhne, ohne Mann – allein auf ihren Tod zugehen würde. Das hat ihn sicherlich belastet und in den ersten zehn Jahren im Westen sehr deprimiert, das kann man in seinen autobiographischen Texten nachlesen. Auch deshalb hat die Mutter wahrscheinlich so eine zentrale Stelle in Schleefs Werk eingenommen.
Um noch einmal auf die Auseinandersetzung Schleefs mit seinem Vater zurückzukommen: Schleef beschreibt in seinen Tagebüchern, wie sein Vater mit ihm nach Berlin fährt, um für ihn einen Studienplatz zu suchen, und mit ihm ins Kino und ins Theater geht. Das ist rührend, da merkt man, der Vater war auch stolz auf seinen Sohn und hat sich um ihn gekümmert.
Schleefs Vater war Baumeister und hat sich viel mit Kirchenarchitektur beschäftigt. Schleef hat Bühnenbild studiert. Es gibt durchaus eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Berufen. Schleefs Begabung für Räume, sie zu bauen, zu malen, zu gestalten, mag er vom Vater haben.
Und noch eine Anekdote: Schleef hat einmal gesagt: „Wenn die Leute ins Theater kommen und sagen, sie verständen kein Wort, zum Beispiel bei so einer Autorin wie Jelinek, dann sind sie selbst schuld. Die Leute müssen sich aufs Theater vorbereiten. Bevor wir ins Theater gegangen sind, hat sich mein Vater früher auch mit mir hingesetzt und den Schauspiel- oder Opernführer gelesen“. Sie sehen, die Beziehung zum Vater war durchaus wichtig.
Aber letztendlich gilt: Der Elfi Elektra Monolog ist weder ein Text von Jelinek über ihren Vater noch ist seine Realisierung durch Schleef im Sportstück eine Performance über seinen. Es geht in erster Linie um die Figur Agamemnons, nicht um die biologischen Väter Schleef und Jelinek. Es ist ein literarischer Text. Ich bestehe deshalb darauf, weil Autoren ja oft fälschlicherweise mit ihren Figuren identifiziert werden. Und es wäre mir unangenehm, die komplexen Zusammenhänge dieses Textes zu verkürzen auf die Aussage, Elfriede Jelinek hätte da einen Text über sich und ihren Vater geschrieben oder Einar Schleef hätte seinen Vater gemeint, wenn er nach „Papi“ geschrieen hat. Bei Jelinek darf man ihr ironisches Potential nicht vergessen. Der Name Elfi Elektra spielt ja auch auf die elektrische Jelinekpuppe in Castorfs Raststätten-Inszenierung an. Und Schleef war derjenige, der den Bezug zum antiken Elektrastoff in seiner Inszenierung besonders deutlich gemacht hat, indem er Szenen aus Hoffmannsthals Elektra mit den Schauspielern zusätzlich einstudierte, und diese Szenen zum Teil als Film, zum Teil auch live den jeweiligen Vorstellungen zufügte.
MH: Gerade vor dem Hintergrund dieser Agamemnongeschichte finde ich folgendes interessant: Schleef hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die Verdrängung des Chores aus dem Theater mit der Verdrängung der Frau aus dem Theater einhergeht. Mit Jelinek kehrt die Frau ins Zentrum der Bühne zurück, wie Sie es angedeutet haben, aber ihr Text wird in dieser Szene dann wieder von einem Mann gesprochen. Beide kommen Hand in Hand auf die Bühne, und Elektra wartet ja auch auf Orest, den Bruder, den Rächer, den Mann, der endlich handelt.
RT: Mag sein, daß Schleef auch an Orest gedacht hat, als er mit Jelinek gemeinsam die Szene gespielt hat. Davon abgesehen, er ist damals ja öfter als Performer aufgetreten, zum Beispiel mit seinem Nietzschemonolog Ecce Homo.
MH: Ich habe in einem Interview mit Ihnen gelesen, daß Sie Jelinek und Schleef gerade deshalb schätzen, weil die beiden auf dem Theater eine Kunstsprache sprechen. Was gibt es für eine Verbundenheit zwischen den beiden über die Sprache, das Sprechen, oder noch etwas weiter gefaßt: über den Text?
RT: Zunächst glaube ich, daß Schleef die Flächigkeit der Texte von Elfriede Jelinek entgegenkam. Sie kennzeichnet ihre Texte selbst als Sprachflächen. Ich glaube, wenn sie eine dialogische Autorin wäre, das hätte ihn gar nicht so interessiert. Ihn hat das Monolithische der Textblöcke fasziniert. Ob das die Figur der Mutter oder die chorische Figur ist, die spricht, diese Texte waren für die Art und Weise, wie Schleef mit Sprache umgegangen ist, einfach wunderbar geeignet. Das sind extrem musikalische Texte, Texte, die sich rhythmisch gut auflösen lassen, wenn man die Vokale oder die Silbenendungen untersucht. Schleef hat sie für die Schauspieler mit einer Art Notenschrift versehen, Betonungen geübt, Tempoanzug, Tempodehnungen, Sprechpausen festgelegt, wo ein Akzent liegt und wo nicht. Das geht nicht mit jedem Text, aber mit Jelinektexten funktioniert das wunderbar. Schleef ist kein Freund der Bühnenpsychologie gewesen. Auch die anderen Abende, die er bei uns inszeniert hat, also zum BeispielWilder Sommer nach Goldonis Trilogie der schönen Ferienzeit, waren keine psychologischen Arbeiten. Alle diese Inszenierungen haben mit der chorischen Figur und immer eher mit monologischen Strukturen als mit dialogischen Strukturen gearbeitet. Und Schleef war – wie Elfriede Jelinek – extrem musikalisch. Das war in all seinen Inszenierungen deutlich zu spüren.
AK: Wo wird denn im Geiste Einar Schleefs produktiv weitergearbeitet? Kennen Sie Nachwuchstheatermacher, die versuchen, seine Ansätze zu verfolgen?
RT: Es gibt einige, die versuchen, zu kopieren, wie er gearbeitet hat, was zumeist ärgerlich ist, weil sie niemals an die Präzision rankommen, mit der er gearbeitet hat, und mit welcher Wucht der Umsetzung. Er hat von den Schauspielern fast Unmenschliches verlangt, in der Koordination von Bewegungen und Sprache etwa, 35 Minuten Kampfsport auf der Bühne und gleichzeitig komplizierte Textpartituren skandieren.
Aber es gab natürlich schon vor Schleef Chöre auf der Bühne. Immer wenn man ein antikes Stück inszeniert, muß man sich ja mit Chorfiguren auseinandersetzen. Schleef war es, der der Theaterszene hier neue Impulse gegeben hat, auch durch seine theoretischen Essays wie Droge Faust Parsifal. Hier faßt er sein Theater theoretisch und interpretiert bestimmte Stücke, wie zum Beispiel Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, auch chorisch. Aber wenn Einar Schleef jetzt leider nicht mehr arbeiten kann, muß der Chor nicht von der Bühne verschwinden, weil alles Nachfolgende Plagiat wäre, das meine ich nicht. Es gibt einfach sehr flache, niveaulose Imitationsversuche, genauso, wie es auch flache Versuche gibt, Herrn Castorf zu imitieren. Das passiert allen stilbildenden Künstlern.
Anders zum Beispiel habe ich es bei der Nibelungen-Inszenierung durch Andreas Kriegenburg in München erlebt. Andreas Kriegenburg ist ein origineller Künstler mit einer wirklich eigenständigen Handschrift. Auch bei den Nibelungen gab es einen Anfangschor, 12 oder 16 Männer, das war sehr nah an Schleef. Trotzdem war da eine sehr intelligente Ironie des Zitierens im Spiel.
Ansonsten gibt es einige Regisseure, die sich immer wieder mit dem Chor befassen, so zum Beispiel Volker Lösch, seine Weber– oder Dogville-Inszenierung etwa. Aber das ist so weit weg von Schleef, das würde ich nicht als Kopie bezeichnen, ungeachtet dessen, ob es einem gefällt, oder nicht.
AK: Das heißt, daß es niemanden wirklich gibt, der sich den losen Enden von Schleefs Arbeit widmete?
RT: Doch, ich habe ja gerade einige Beispiele genannt. Aber es ist natürlich schwer, einen eigenständigen Weg zu finden. Außerdem überblicke ja auch nicht die gesamte Theaterlandschaft. Es kann ja sein, daß Herr Märki in Weimar mit Chören arbeitet, und ich bekomm das gar nicht mit. Ein weiteres Beispiel ist Patrick Schlösser. Der war Regieassistent bei Schleef und hat die Jungfrau von Orleans bei uns in Düsseldorf mit einem Chor gearbeitet. Das war eine sehr von Schleef beeinflußte Arbeit, was Patrick auch immer so benennen würde. Oder Martin Oelbermann, der Die Liebhaberinnenbei uns als Chorarbeit gemacht hat, was in diesem Fall aber weniger mit Schleef und seiner Art, die Sprache zu rhythmisieren, zu tun hatte, sondern sich aus der Analyse des Jelinek’schen Textes ergab.
Bernd Freytag, seinerseits ehemaliger Chorführer bei Schleef, weiß vielleicht noch am besten, wie Schleef seine Chöre gearbeitet hat. In Düsseldorf hat er die Chöre für Anna Badoras Antigone-Inszenierung einstudiert. So etwas kann schiefgehen. Der Schleef-Chor ist keine Bühnenbildfarbe, die man beliebig auf jedes Theaterprodukt auftragen kann. Mir ist es lieber, wenn sich Künstler von Schleefs Arbeit inspirieren lassen, aber ihren eigenen Weg gehen. Zum Beispiel Ihre Generation, die zwischen zwanzig und dreißig Jahren ist. Die wenigsten von Ihnen haben Schleefs Theater live miterleben können. Das finde ich spannend, wie Sie sich von seinen Texten inspirieren lassen. Das wird dann anders aussehen als bei Schleef, weil Sie seine Theaterarbeit nicht aus konkreter Anschauung kennen können.
Ich glaube letztendlich, daß in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt die Chorfigur auf der Bühne allgemein wieder an Bedeutung gewonnen hat. Ich möchte mich nicht zu großen politischen Behauptungen versteigen, aber sowohl bei Schleef wie auch bei Jelinek steht hinter ihren chorischen Arbeiten der Versuch, ein Thema gesellschaftlich anzugehen. Sich nicht auf die Psychologie der Kleinfamilie zu beschränken, sondern die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu bekommen. Insofern ist das Chorische immer mit einem politischen Blick auf die Realität verbunden. Und dann läßt sich fragen, wann solch ein Blick wieder aktuell wird, sogar notwendig ist. Wir bewegen uns auf Zeiten zu, die nicht nur mit kleinen Küchengeschichten erzählt werden können. Nichts gegen Küchengeschichten, aber da können wir angesichts der gesellschaftlichen Lage nicht stehen bleiben.
MH: Sie gehen ab der Spielzeit 2007/08 als Chefdramaturgin nach Köln. Werden Schleef und Jelinek dort eine Rolle spielen?
RT: Ganz bestimmt. Wir fangen zwar gerade erst an, den Spielplan zu konzipieren, aber Karin Beier und ich schätzen beide Künstler sehr. In Düsseldorf hatten wir nicht nur Die Liebhaberinnen im Spielplan, sondern auch Macht Nichts von Elfriede Jelinek. Und dann haben wir Schleefs eigene Theaterfassung von Gertrud uraufgeführt. Das war eine tolle Inszenierung von Thomas Bischoff mit Anke Hartwig, einer absolut beeindruckenden ‚Gertrud‘. Ich habe auch vor, mit Elfriede Jelinek über Köln zu reden. So oder so wird diese Autorin meine Arbeit weiterbegleiten. Und auch Schleef: Ich habe mir gerade die neuen Tagebücher für die Ferien gekauft. Ich war schon ganz wild darauf, daß sie endlich erscheinen. Seine Stücke lese ich immer wieder und überlege zum Beispiel, wie man seineNachtasyl-Variante, also Die Schauspieler, inszenieren könnte. Oder Totentrompeten, die auf der einen Seite den Präsidentinnen von Werner Schwab ähneln, auf der anderen Seite sehr DDR-spezifisch sind. Schleef hat ja auch mal Der Fischer und sin Fru dramatisiert. Das ist jetzt als Mitspieltheater von Milan Peschel in Berlin inszeniert worden. Schleefs Texte sollte man einfach immer wieder lesen und für die Bühne prüfen. Ich denke, daß noch ein paar andere Autoren in meinen Rucksack passen. Aber die beiden werden mich weiter begleiten, so oder so.
Thewis: Frau Thiele, wir danken Ihnen für das Gespräch.