Einleitung
Ausgangspunkt dieses Textes sind Erfahrungen, die ich im Zuge einer „Kunst“-Aktion Ende März 2013 machen durfte. „Kunst“ möchte ich in diesem Zusammenhang in Anführungszeichen setzen – nicht, weil ein künstlerisches Scheitern oder eine ironische Distanz markiert werden soll, sondern da dieses In-Anführungszeichen-Setzen bereits auf den Kern der theoretischen Auseinandersetzung verweist, die ich im weiteren Verlauf ausführen werde. Doch beginnen möchte ich mit einer Beschreibung dieser „Kunst“-Aktion.
Über den 31. März und 1. April 2013 hatte das Maxim-Gorki-Theater (MGT) zum 6. Osterfestival der Kunsthochschulen nach Berlin geladen. Thematisch eingerahmt wurde die Veranstaltung mit dem Titel Aufstand proben. Die Nachwuchskünstler*innen aus den Kaderschmieden des deutschsprachigen Theaters wurden in der Einladung zum Festival dazu angehalten, in ihren Arbeiten den kommenden Aufstand zu reflektieren und der Frage nachzugehen, wofür man heute auf die Straße gehen würde, um das Wort zu erheben, denn, ich zitiere die Eigendarstellung des Festivals: „Nicht nur in der arabischen Welt, in Griechenland, London und in den USA wird über den kommenden Aufstand geredet. Occupy ist längst auch vor unserer Haustür angekommen.“ (Maxim-Gorki-Theater, 2013) Das Festival wurde damit beworben, den jungen Künstler*innen die Möglichkeit zu bieten, ihre Arbeiten einem breit gefächerten Publikum zugänglich zu machen, und zwar in einem professionellen Rahmen und ohne Druck. Bei genauerem Studium der Ausschreibung wurde allerdings deutlich, dass sich das MGT an keinerlei Kosten beteiligen würde – weder an Produktion, Unterkunft noch an der Anfahrt. Gagen oder zumindest Aufwandsentschädigungen waren ebenfalls nicht eingeplant. Der professionelle Rahmen erschöpfte sich in der Bereitstellung der Bühnen, der Unterstützung von Seiten der Haustechnik und der Möglichkeit, ein renommiertes Stadttheater zu bespielen.
Aus diesen Gründen beschloss die Vollversammlung der Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft im Oktober 2012 fast einstimmig, das Osterfestival geschlossen zu boykottieren. Allerdings wurde die Möglichkeit offen gelassen, dass sich eine Gruppe interessierter Studierender zusammenschließen könnte, um einen kreativen Umgang mit der Situation zu finden und auf die Diskrepanz zwischen politischem Anspruch und ökonomischer Realität des Festivals hinzuweisen. In den folgenden Monaten formierte sich eine Arbeitsgruppe zu der auch ich gehörte, die sich unter anderem mit den Themen prekäre Arbeit, Aufmerksamkeitsökonomie in der Kulturindustrie, aber auch grundlegenden Fragen wie der nach dem Wert und der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst auseinandersetzte – immer in Hinblick auf das anstehende Osterfestival und eine Aktion, die man dort durchführen könnte. Ergebnis der Zusammenarbeit war eine Aktion, die, getarnt als 60-minütige und damit den Vorgaben entsprechende Performance, beim Festival angemeldet wurde, und das unter dem etwas sperrigen Titel: Leaving the 21st century – Sozialistische Schauspieler waren schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen (Ist jetzt aber nicht mehr so!). Boycotts are now much easier! Unter dem Vorwand, dass der Bühnenaufbau sehr zeitintensiv sein würde, war es möglich, den Beitrag als Eröffnungsaufführung des Festivals auf der Hauptbühne zu platzieren.
Die Besetzung – Kunst oder politische Aktion?
Was um 15 Uhr am Samstag den 31. März 2013 begann, erschien – zumindest in der ersten halben Stunde – wie eine Performance, welche die eigenen Produktionsbedingungen zum Gegenstand hatte. Neben der Verlesung der Eigendarstellung des Festivals und einer Begriffsdefinition des Boykotts im Allgemeinen erstellten die dreizehn Performer*innen an der Bühnenrückwand jeweils eine individuelle Kalkulation für die Beteiligung an der Aufführung. Dabei wurden unterschiedliche Posten wie „Unterbringung und Anfahrt“ aber auch „Talent“ oder „Selbstmanagement“ in Rechnung gestellt, von denen auch wieder einzelne gestrichen wurden, so dass am Ende jede/r Performer*in 100 Euro veranschlagte. Die Summe der einzelnen Kalkulationen ergab 1300 Euro Produktionskosten, die aber, wie den Zuschauer*innen mitgeteilt wurde, durch eine Förderung der Hessischen Theaterakademie und der Fachschaft der Angewandten Theaterwissenschaft gedeckt wären. Allerdings wurde auf der Kostenseite ein weiterer Posten als „Stück“ vermerkt und mit 1000 Euro veranschlagt. Auf der Einnahmenseite wurde hingegen die nicht vorhandene Unterstützung des MGT mit null Euro angegeben. Die daraus folgende Differenz von 1000 Euro wurde wie folgt erläutert: Eigentlich hatte man eine Performance geplant, in der die Zuschauer*innen die Möglichkeit gehabt hätten, gegen die Performer*innen in Spielen anzutreten, um am Ende die besagten 1000 Euro zu gewinnen. Durch die fehlende finanzielle Unterstützung vom MGT wäre diese Performance nicht durchführbar. Jedoch hätte man sich Gedanken gemacht und wäre zu einer Alternative gekommen: Anstatt gegen die Performer*innen anzutreten, könnten die Zuschauer*innen nun gemeinsam mit den Performer*innen gegen das Maxim-Gorki-Theater um das Geld spielen.
Zu diesem Zweck würde die Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum aufgehoben. Um 15.33 Uhr wurde die Bühne als besetzt erklärt und die Zuschauer*innen darauf hingewiesen, dass sie allein aufgrund ihrer weiteren Anwesenheit Teil der Aktion wären. Doch erst als die Besetzung die vorgegebenen sechzig Minuten für die Performance immer deutlicher überschritt, wurde endgültig jedem klar, dass die Programmplanung des Festivals nicht durchführbar sein würde – die nächste Performance auf der besetzten Bühne war auf 17 Uhr angesetzt. Bis 23 Uhr wurde die Hinterbühne des Maxim-Gorki-Theaters von durchschnittlich siebzig bis neunzig Personen besetzt, wobei das Vorgehen im Plenum von allen Anwesenden – Unterstützer*innen wie Kritiker*innen – basisdemokratisch entschieden wurde. Die Aktion entwickelte enorme Sprengkraft. Übergreifend auf alle Beteiligten des Festivals entbrannte eine Diskussion darüber, inwieweit die Besetzung gerechtfertigt wäre, welchen Wert Kunst hätte und ob dieser überhaupt ökonomisch messbar wäre. Die Institution Stadttheater zeigte die Zähne, verschloss sich der Verhandlung über die Forderung der Besetzer*innen und versuchte durch verschiedene Aktionen eine Ende der Besetzung zu erzwingen. Der geprobte Aufstand hatte sich in einen realen verwandelt.
An dieser Stelle könnte genauer auf den Umgang des MGT mit der Aktion eingegangen werden, um ein Schlaglicht auf die Institution Stadttheater zu werfen und der Frage nachzugehen, inwieweit dessen Strukturen es zulassen, politisch Theater zu machen. Auch wäre es möglich, über prekäre Arbeit und neoliberale Arbeitsmodelle in der freien Szene beziehungsweise in der Kulturindustrie zu referieren. Doch soll hier ein anderer Aspekt der Aktion beleuchtet werden, der bereits angeklungen ist und die Unterscheidung zwischen realem und geprobtem Aufstand in den Fokus rückt. Dafür möchte ich auf zwei bemerkenswert widersprüchliche Aussagen verweisen, die während der Besetzung wiederholt als Kritik gegenüber der Aktion geäußert wurden:
Besonders in den ersten Stunden der Besetzung wurde behauptet, die Aktion wäre nicht Kunst, sondern in erster Linie politisch und es wurde die Frage gestellt, ob man als Theaterschaffende nicht in der Lage gewesen wäre, die Kritik am Festival künstlerisch zu thematisieren.
Als entschieden wurde, die Besetzung um 23 Uhr mit dem Feierabend der Bühnentechniker zu beenden, obwohl der – aus einer fiktiven Kalkulation entstandenen – Minimalforderung von 1000 Euro nicht nachgekommen worden war, äußerten diverse Personen (auch solche, die am Anfang der Aktion den ersten Punkt angebracht hatten) die Kritik, dass man ja doch nur Kunst gemacht hätte und gar nichts hätte verändern wollen.
Augenscheinlich hatte das Theater seinen ästhetischen Rahmen gesprengt und sich mit einer politischen Aktion verknüpft, der es allerdings an Konsequenz fehlte. Dies führte bei vielen Zuschauer*innen zu deutlicher Verunsicherung. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und Politik ließe sich leicht als Schwäche der Arbeit abtun, was auch von unterschiedlichen Seiten als Kritik an die Initiator*innen herangetragen wurde. Doch im Gegensatz dazu möchte ich an dieser Stelle ansetzen, um zu fragen, ob nicht genau diese Verunsicherung als Ergebnis einer künstlerischen Strategie zu fassen ist, welche produktives Potential für das Denken eines politisch gemachten Theaters bieten könnte.
Die politische Differenz
Untersucht man den kunstpolitischen Diskurs der letzten Jahre, lässt sich nach dem Ende des 20. Jahrhunderts eine Dringlichkeit in Theorie und Praxis hinsichtlich neuer Artikulationsformen des Politischen in der Kunst konstatieren. Zahlreiche Künstler*innen – ob in den Bereichen Performance, Theater oder bildende Kunst – entwickelten diverse Strategien, die weniger politische Inhalte als vielmehr die Verfasstheit der Kunst selbst und deren politisches Potential in den Fokus rückten. Ob Lars von Trier im Film, Performancekollektive wie das Nature Theatre of Oklahoma und Rimini Protokoll oder die russischen Kunstaktivist*innen von Voina, all diese Beispiele vereint die Reflexion über die eigenen Ausdrucksmittel.
In der kunsttheoretischen Auseinandersetzung lässt sich, trotz der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Versuche, eine zentrale Denkfigur dieser heterogenen künstlerischen Strategien identifizieren: die politische Differenz. Diese unterscheidet zwischen Politik und dem Politischen (etwa Müller-Schöll, Schallenberg und Zimmermann 2012 oder Deck und Sieburg 2011).
Diese Denkfigur entstammt der politischen Philosophie und bildete in letzten Jahrzehnten den Kern diverser Ansätze, die ein Denken des Politischen versuchten – so zum Beispiel in den Arbeiten Jean-Luc Nancys, Alain Badious, Giorgio Agambens oder Jaques Rancières. Sie lassen sich als Reaktionen auf eine postfundamentalistische historische Konstellation begreifen, die besonders mit dem Zerfall des real existierenden Sozialismus 1989 und der aktuellen Finanzkrise ein Ende oder zumindest ein Brüchigwerden der Gewissheiten beschreibt, auf denen sich Gesellschaft gründete. Trotz ihrer jeweiligen Eigenständigkeit führen all diese Ansätze die politische Differenz ins Feld, um die Abwesenheit des Sozialen für politisches Denken produktiv zu machen. Vereinfacht formuliert steckt dahinter die Idee, dass gerade durch die Abwesenheit einer Letztbegründung für Gesellschaft eine Leerstelle entsteht, die einen stetigen Kampf um zumindest temporäre Neugründungen notwendig macht (Marchart 2010, 7ff.).
Wie kann das Begriffspaar Politik und das Politische, die beiden Seiten der politischen Differenz unterschieden werden? Wie Oliver Marchart in seinem Überblickswerk Die politische Differenz schreibt, sagte Pierre Rosanvallon, ein Schüler Claude Leforts, bei seiner Inauguralrede für den Lehrstuhl der modernen und zeitgenössischen Geschichte des Politischen am Collège de France über das Politische:
Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen, d.h. von Macht und von Gesetz, vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität, kurzum: heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert. (zit. n. Marchart 2010, 13)
In dieser Aussage erscheint das Politische in Abgrenzung zur Ausübung von (Staats-)Macht, von Institutionen und Regierungshandeln – kurz: von Politik. Es manifestiert sich in der zivilgesellschaftlichen Verhandlung, einem Gemeinwesen, das sich aus dem Sprechen über die Voraussetzungen von Politik speist. Es steht vor und fragt nach einem Konsens hinsichtlich der richtigen Politik – es besitzt somit eine ethische Dimension und lässt sich, im Sinn eines postfundamentalistischen Denken, nur als steter Prozess fassen. Denkt man diese Figur weiter, wird deutlich, dass die politische Differenz das Politische nicht nur von der Politik unterscheidet, sondern dass das Politische und die Politik sich gegenseitig ermöglichen, im Sinn einer sich kontinuierlich neubegründenden Gesellschaft. Denn während Politik institutionalisierend, rechtssetzend und –erhaltend wirkt, befragt das Politische kontinuierlich diese Strukturen hinsichtlich ihrer ethischen Voraussetzungen, wirkt somit entsetzend und ist zugleich der Ort zivilgesellschaftlicher Konsensfindung, die wiederum Voraussetzung von Politik ist.
Kunst und die politische Differenz
Welche Konsequenzen lassen sich aus einem Denken der politischen Differenz für politisch gemachte Kunst beziehungsweise speziell für politisch gemachtes Theater ziehen? Und in welchem theoretischen Verhältnis steht die Sphäre der Kunst zur Sphäre des Politischen?
Hans-Thies Lehmann schreibt in seinem Aufsatz „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ über das Theater: „Das Politische ist ihm eingeschrieben, durch und durch, strukturell und ganz unabhängig von seinen Intentionen.“ (2011, 32) Zwar sei es nicht direkt politisch, da es aufgrund seiner Produktionsweise zu langsam sei, um auf die Tagespolitik Einfluss zu nehmen, es sei „aber doch in der Praxis seiner Entstehung und Produktion, seiner Darbietung und seiner Rezeption durch die Zuschauer eine eminent soziale, eine gemeinschaftliche Sache.“ (32) Die Analogie zum Politischen, das als ein vorinstitutionelles Übereinkommen und die Konstitution eines Gemeinwesens jenseits von Machtausübung beschrieben wurde, scheint offensichtlich. Natürlich lässt sich einwenden, dass Theater-Machen in einem Verhältnis zur Institution Theater steht und als Praxis nicht immer unabhängig von zum Beispiel Hierarchien ist. Das Osterfestival der Kunsthochschulen im Maxim-Gorki-Theater ist ein Beleg dafür. Doch möchte ich vorerst einen weiteren theoretischen Exkurs wagen, der die Einschreibung des Politischen in den Strukturen des Theaters erhellen soll.
In seinem geschichtsphilosophischen Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ untersucht Walter Benjamin das Verhältnis von Recht und Gewalt (1965). Dabei konstatiert er, dass das moderne Staatswesen sich auf dem Rechtsvertrag gründe. Die Bürger des Staates gingen mit diesem einen Vertrag ein, in dem sie ihr natürliches Recht auf Gewaltausübung an das Gewaltmonopol des Staates abgäben, der ihnen dafür den Anspruch und den Schutz ihrer bürgerlichen Rechte garantiere. Doch in der weiteren Analyse schlussfolgert Benjamin, dass „eine völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann“ (45), mit welchen friedfertigen Absichten er auch geschlossen sei. Jeder Rechtsvertrag beruhe nämlich darauf, dass einer vertragsbrüchigen Partei Konsequenzen drohen – in Form von Gewalt. Und nicht nur der Effekt, sondern auch der Ursprung jedes Rechtsvertrags beinhalte Gewalt. Denn die Macht, die ihn garantiere, sei ebenfalls gewaltsamen Ursprungs, da sie sich erst aus der Möglichkeit von Gewaltausübung speise. Auch Institutionen gründeten so – da sie Ergebnis beziehungsweise Agenten rechtssetzender und rechtserhaltender Praxis seien – auf Gewalt (46). Dabei seien rechtssetzende beziehungsweise rechtserhaltene und damit gewaltsame Mittel immer Mittel zum Zweck. Zum Beispiel dienten die Befugnisse der Polizei dem Erhalt von Ordnung und Sicherheit; oder die Kontrollfunktion eines Verfassungsgerichts dem Erhalt des den Staat konstituierenden Rechtsvertrags selbst (29ff.).
Anhand dieser Beispiele lässt sich eine Analogie zum Denken der Politik innerhalb der politischen Differenz ziehen. Wenn Politik die Ausübung von Macht, das Handeln von Institutionen oder die Konkurrenz von Parteipolitik beschreibt, kann sie der Sphäre des Rechts und somit einem gewaltsamen Ursprung zugeordnet werden, deren Mittel immer einem Zweck dienen. Politik will Recht setzen und erhalten, ist angewiesen auf Institutionen und versucht diese daher zu verteidigen.
Benjamin stellt den gewaltsamen Mitteln zum Zweck die zweckfreien und gewaltlosen reinen Mittel gegenüber. Diese meint er in „Verhältnissen zwischen Privatpersonen“ zu finden, „wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat“ und gibt dafür einige Beispiele wie „Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen“, die er als die „subjektive Voraussetzung“ der reinen Mittel benennt (47). Besonders die Unterredung beschreibt er als solch eine Technik der zivilen Übereinkunft. Diese reinen Mittel wirkten rechtsentsetzend, wie er am Beispiel des proletarischen Generalstreiks deutlich macht, den er den reinen Mitteln zuordnet, da er keine sozialpolitischen Forderungen kenne. Seine einzige Aufgabe sei die „Vernichtung der Staatsgewalt“ selbst (51). Der proletarische Generalstreik beinhalte keine sozialpolitischen Reformbestrebungen, da die Parteigänger jede Reform als bürgerlich ansähen. Damit sei der proletarische Generalstreik gewaltlos, da er nicht neues Recht setze, sondern im Gegenteil mit der Vernichtung des Staates das Recht entsetze. Dahinter stehe der Entschluss „nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wieder aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streiks nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht.“ (51)
Dieses Beispiel des Streiks scheint aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar und kann kritisiert werden, denn es beruht auf einem marxistisch geprägten geschichtsphilosophischen Denken. Außerdem wäre zu fragen, wie ein gewaltloser Streik ohne Forderungen vorstellbar sein könnte. Doch bedenkt man Benjamins Aussagen hinsichtlich der Unterredung als reinem Mittel zur zivilen Übereinkunft, könnte man gerade die Sphäre der Kunst als prädestinierten Ort solch gewaltloser Verhandlung anführen, da diese im Sinn einer Rechtssetzung oder des Rechtserhalts keinem Zweck dient.
Theater und Potentialität
Das Theater verfügt über eine besondere strukturelle Disposition des Entsetzens. Die Potentialität des Theaters beschreibt der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll in seinem Text Theater der Potentialität wie folgt:
Das Theater stellt die eigene Theatralität aus und macht so die Suspension des historischen Wissens erfahrbar, auf die die Rede vom Ende der Geschichte in allen ihren Variationen hinweist – eine Suspension im Widerstreit zwischen zwei Polen: Zwischen einer Ereignishaftigkeit, die wir in unserer Darstellung nicht greifen können, auf der einen Seite und einer Produktion von nur fiktiven Erzählungen auf der anderen. (1999, 73)
In dieser Aussage wird der Als-ob-Charakter des Theaters in einen geschichtsphilosophischen Kontext gerückt. Denn selbst wenn die Geschehnisse auf der Bühne auf historische Ereignisse verweisen, können wir letztere nicht wirklich fassen, was uns umso mehr die Fiktionalität des Bühnengeschehens erfahren lässt. Mehr noch: dieser Als-Ob-Charakter birgt ein eigenes Potential der Verhandlungsfähigkeit des Theaters.
Zur Verdeutlichung ein Verweis auf die Sprechakttheorie: Dort kann der performative Akt als schlechthin „absoluter, präkonventioneller, Konventionen und Rechtsverhältnisse allererst setzender“ und somit – nach Benjamin – rechtssetzender Akt gelesen werden, wie Werner Hamacher in seinem Text Afformativ, Streik schreibt (1994, 345). Dazu ein berühmtes Beispiel: Wenn der Standesbeamte erklärt: „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau“, hat das Konsequenzen für den Rechtsstatus der nun verheirateten Personen. Geschieht dieser Sprechakt allerdings auf einer Theaterbühne, entsetzt der Als-Ob-Charakter des Kunstrahmens eben diese Konsequenz. Der Zweck des Sprechakts wird suspendiert und kann – im besten Fall – einen Verhandlungsraum öffnen, der etwa nach der gesellschaftlichen Funktion von Ehe oder der Bevorzugung hetero-normativer Beziehungsmodelle fragt. Lehmann nennt diese Funktion in seinem schon zitierten Aufsatz über das postdramatische Theater die „eigentümliche Charakteristik des ästhetischen Handelns, nicht wirklich Handeln zu sein.“ (2011, 38) Der Unterredung bei Benjamin ähnlich, erscheint das Theater somit als eine Praxis des zweckfreien und gewaltlosen Verhandelns. Doch unterscheidet es sich in einem wesentlichen Punkt von der Unterredung. Während Benjamin letztere als zivilgesellschaftliche Praxis der Konsensfindung versteht, suspendiert der Als-Ob-Charakter des Theaters diese Konsensfindung und stellt diese gleichsam aus.
Theater und das Politische
Die vorangegangen Ausführungen sollten verdeutlichen, wie die Aussage Lehmanns, dass das Politische dem Theater strukturell eingeschrieben sei, zu verstehen sein könnte. Es ist diese besondere Fähigkeit des Entsetzens und der Verhandlung, die Nähe zur Unterredung bei Benjamin, die dem Theater als bestimmter Versammlungsort eigen ist, und somit in einer genuinen Beziehung zum Politischen steht. Es wäre aber unproduktiv zu behaupten, dass aufgrund dieser Verfasstheit bereits das politische Potential von Kunst beziehungsweise Theater per se erfasst wäre. Diese Aussage würde implizieren, dass jede Form von Theater a priori politisch und somit das Theater als Praxis mit der Unterredung bei Benjamin gleichzusetzen wäre. Doch das Politische sei das, was, wie Lehmann schreibt, „von der Sprache bis zu den Gesetzen, Rechten und Pflichten – ein gemeinsames Maß gibt, eine Regel, die Gemeinsamkeit konstituiert, ein Regelfeld für potentiellen Konsens.“ (35) Innerhalb dieses Regelfelds würden aber die Ausnahmen nicht berücksichtigt. Es gäbe Stimmen, die dort nicht angehört würden, da sie nur außerhalb des Konsens hörbar seien, beziehungsweise unter Allgemeingültigkeit subsumiert würden und somit in ihrer Singularität verstummen müssten (35). Hier nimmt das postdramatische Theater für Lehmann eine besondere Stellung ein. Denn im Gegensatz zum politischen Diskurs, dessen Agenten oftmals eine scheinbare Feindschaft, ein Gut gegen Böse inszenierten um zum Beispiel mit Rückgriff auf Moral Entscheidungen der Politik zu rechtfertigen (man denke etwa an den Krieg in Afghanistan und den Hinweis auf die Menschenrechte), kritisiere das politische gemachte Theater diesen moralpolitischen Diskurs, um durch die Unterbrechung des Politischen auf die „schwankende Voraussetzungen des eigenen Urteils“ (37) zu verweisen. Damit schärfe es den Sinn für die Ausnahme. Denn nur die Ausnahme der Regel ließe uns die Regel erkennen (37f.).
Doch wie denkt Lehmann dann ein dezidiert politisches Theater? Welche Strategien bietet er an? Das politisch gemachte Theater definiert er nicht über den politischen Inhalt, sondern die Form, die ein politisches Potential in sich birgt und nicht „übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik von Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (35) – ein Plädoyer für das postdramatische Theater.
Verständlich wird dies erst, wenn man berücksichtigt, dass Lehmann letztendlich die Verbindung des Theaters zum Politischen zieht, indem er Guy Debord folgend eine Ausweitung der Sphäre des Ästhetischen in alle Bereiche der Gesellschaft zu erkennen meint. Denn in Debords Gesellschaft des Spektakels ist für den Bürger das gesamte öffentliche Leben zum Schauspiel geworden (1996). Lehmann schlussfolgert daraus: „Insofern nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene; nur ein Theater also, dass das Theater der Schaustellung unterbricht.“ (2011, 35) Die Unterbrechung des Politischen ist in Lehmanns Denken also eine Unterbrechung von ästhetischen Regeln. Er fordert ein Theater, welches das eigene ästhetische Programm angreift. Das Potential für das Politische im Theater könnte man unter anderem folgenden künstlerischen Strategien zuordnen: die Brechung von Sehgewohnheiten, die Verschiebung des Repräsentationscharakters, wenn zum Beispiel Performer*innen keine Figuren darstellen, sondern sich selbst repräsentieren, oder die ästhetische Intervention in das Reale wie es in Formen des site-specific-theatres durchgespielt wird.
Versucht man sich einen Überblick über die Theorien politisch gemachter Kunst beziehungsweise politisch gemachten Theaters der letzten Jahre zu verschaffen, erkennt man die immense Wirkung dieser Überlegungen Lehmanns. Politisch gemachtes Theater wird oft auf dessen Fähigkeit zur ästhetischen Unterbrechung hin untersucht (etwa Müller-Schöll, Schallenberg und Zimmermann 2012 oder Deck und Sieburg 2011). Doch dieser Ansatz kann die Besetzung des Maxim-Gorki-Theaters nur ungenügend fassen. Zwar kann man auch in dieser Aktion eine Unterbrechung des Ästhetischen erkennen, denn die Aktion berührte etwa die Frage nach der Produktionsweise und deren ökonomischen Voraussetzungen und kommt ohne Figuren aus. Doch mit dem Übergang in eine reale Besetzung inszenierte diese Aktion nicht nur Realität, sondern wurde zu einer scheinbar originär politischen Aktion. Denn wenn laut Lehmann ästhetisches Handeln im eigentlichen Sinn kein Handeln ist, wird deutlich, dass die Besetzungsaktion im MGT die Sphäre des Ästhetischen verließ.
Doch findet man bei Lehmann auch Beobachtungen hinsichtlich solcher Öffnungen hin zum Politischen. Er nennt unter anderem die Aktionskunst Christoph Schlingensiefs, „die im besten Fall durch konsequente Ununterscheidbarkeit zwischen Unsinn und politischem Ernst […] eine Verknüpfung von theatralischer Bestimmung und politischer Aktion [herstellt].“ (2011, 34) Lehmann grenzt solche Öffnungen von einem Theater, das einfach nur politische Inhalte vermitteln möchte, klar ab, bezeichnet letzteres gar als im eigentlichen Sinne unpolitisch:
Gegenüber solch riskanten Eröffnungen (deren Gelingen im Einzelnen diskutabel bleiben wird, sogar muss) mit ihren veränderten Wahrnehmungs- und Diskurspotential bleibt die Vermittlung von politischen Ansichten, Einstellungen und Gestimmtheiten der Autoren oder Regisseure in einem genauen Sinn unpolitisch. Und zwar in dem Maße, in dem nicht die Form des Theaters selbst angegriffen wird. (34)
Jenseits des Theaters
Doch wie lässt sich das politische Potential solcherlei Öffnungen erfassen und welche Strategien verknüpfen theatrale Bestimmung und politische Aktion? Zwei Jahre vor Erstveröffentlichung des Aufsatzes „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ führte Christoph Schlingensief in Wien eine Kunst-Aktion durch, die als paradigmatisch für die von Lehmann beschriebene Öffnung – und meines Erachtens als die vielleicht denkbar radikalste Unterbrechung der Form – gelten kann. Um diese These zu stützen, möchte ich die Aktion Schlingensiefs kurz umschreiben, sie mit der Aktion im MGT abgleichen und beide Arbeiten auf ihre jeweiligen künstlerischen Strategien hin untersuchen.
Im Jahr 2000 realisierte Christoph Schlingensief bei den Wiener Festwochen die Kunst-Aktion Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche, vielen besser bekannt unter dem Titel Ausländer raus. Eine Woche lang wurden dafür mehrere kameraüberwachte Container auf einem Platz neben der Wiener Staatsoper aufgestellt. In diese Container zogen zwölf angebliche Asylbewerber. Auf dem Dach eines Containers wurden Flaggen der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), sowie ein Transparent mit der Aufschrift „Ausländer raus“ gehisst. Schlingensief, der selbst während der Aktion als eine Art Moderator auftrat, erklärte den neugierigen Wiener*innen, dass sie nun – ganz ähnlich dem damals sehr erfolgreichen Fernsehformat Big Brother – die Möglichkeit hätten, per Telefon jeden Tag zwei unliebsame Bewohner aus den Containern herauszuwählen. Diese würden daraufhin direkt in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Die Ereignisse im Container wurden live ins Internet übertragen. Dem am Ende übrig bleibenden Asylbewerber würden eine Geldprämie und die Möglichkeit auf ein Bleiberecht winken. Letzteres allerdings nur gesetzt den Fall, dass sich eine heiratswillige Einheimische finden würde. In den folgenden Tagen entwickelten sich auf dem öffentlichen Platz turbulente Szenen. Einige Schaulustige stellten öffentlich ihre rassistischen Ressentiments zur Schau, wobei ihnen Schlingensief auch gerne das Mikrophon überließ. Zudem formierte sich eine Protestgruppe aus links-autonomen Aktivisten, die vor Ablauf der Aktion die vermeintlichen Asylbewerber aus ihrer misslichen Lage befreiten (Schlingensief 2000; Poet 2002).
Folgt man Lehmann dahingehend, dass Theater, das nur die politischen Ansichten des Künstlers wiedergibt im eigentlichen Sinn unpolitisch sei, da ein solches nur eine moralische Position innerhalb des politischen Diskurses einnehmen würde, wird deutlich, inwieweit sich Schlingensiefs Aktion einer klaren moral-politischen Position entzog. Hier schien gerade die Behauptung einer – wenn auch aus linkspolitischer Sicht – unmoralischen Position Kern der Aktion zu sein, die nicht rückführbar war auf die Gesinnung des Künstlers. Für eine implizite moralische Wahrheit hinter dem Geschehen bot die Aktion keine Hinweise. Zwar war sie scheinbar moralische Setzung – Ausländer sollten abgeschoben werden – allerdings verblieb hier, im Sinn des entsetzenden Charakters der Kunst, diese Setzung in einer Potentialität. Denn das Setting war derart konstruiert, dass der Kunstcharakter der Aktion nicht gänzlich aufgelöst werden konnte.
Im Falle der Besetzung des MGT erweist sich solch eine Analyse als schwieriger. Denn hier hatten die Künstler*innen die Moral anscheinend auf ihrer Seite. Sie forderten auf einem Festival für junge Künstler*innen, dessen Publikum in erster Linie aus jungen Künstler*innen bestand, eine angemessene Bezahlung für Künstler*innen – eine Forderung, die bei allen Beteiligten also erst einmal zustimmendes Kopfnicken hätte hervorrufen müssen. Jedoch darf man nicht außer Acht lassen, dass es anderen Gruppen durch die Besetzung nicht möglich war, auf dem Festival ihre Kunst zu zeigen. Erst dieser Umstand macht die heftigen Reaktionen auf die Aktion erklärbar. Die Fragen, die aufgeworfen wurden, konnten nicht endgültig durch die Aktion aufgelöst werden: Ist die Forderung der Künstler*innen richtig? Sind die Mittel zur Durchsetzung der Forderung richtig? Ist es richtig oder überhaupt möglich, politisches Theater in diesem Rahmen zu machen? Und wenn nicht, ist es dann nicht auch richtig, die anderen Künstler*innen zu boykottieren? Ganz im Sinne Lehmanns wurden hier anscheinend die Voraussetzungen für ein eigenes Urteil ins Schwanken gebracht.
Doch wieso meine ich in den beiden Beispielen die vielleicht sogar denkbar radikalste Unterbrechung der theatralen Form zu entdecken? Die Beantwortung dieser Frage verweist auf das In-Anführungs-Zeichen-Setzen von Kunst im Titel dieses Textes.
Ich möchte die These aufstellen, dass in beiden Aktionen mehr als eine Unterbrechung innerhalb der ästhetischen Sphäre zu entdecken ist. Vielmehr ist es die ästhetische Sphäre selbst, die suspendiert wird. Während ihr Als-Ob-Charakter das Gezeigte oftmals in Anführungszeichen setzen mag, wird hier die Kunst selbst in Anführungszeichen gesetzt. Zwar mögen sich die Arbeiten in ihren Strategien unterscheiden, doch im Ergebnis sind sie durchaus vergleichbar. Bei Schlingensief war es die Behauptung einer realen Konsequenz – die angebliche Abschiebung der Asylbewerber – die zwar angezweifelt wurde, aber eben nicht endgültig als fiktional aufgelöst werden konnte. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine Protestgruppe meinte, die Containerbewohner befreien zu müssen. Im Falle der Besetzung des MGT war es die reale Präsenz der Besetzer*innen auf der Bühne, die das Zeigen anderer Aufführungen unmöglich machte und somit die vorgegebene Festivalstruktur sprengte.
In beiden Fällen wurde der Kunstcharakter, der fiktionale Rahmen selbst, aufs Spiel gesetzt. Ganz aufgelöst wurde er dabei nicht – und darf er hinsichtlich dieser Strategie meines Erachtens auch nicht. Denn wenn die jeweiligen realen Setzungen ihren Behauptungscharakter verlieren, würden die Aktionen wirklich zur Institution oder (partei-) politischen Position im politischen Diskurs werden. Schlingensiefs Container wären dann nichts anderes als ein besonders perverses und reales Abschiebegefängnis. Und die Besetzung des MGT wäre einfach eine politische Aktion, die in ihrer Konsequenz zum Beispiel die Gründung einer Künstlergewerkschaft nach sich ziehen müsste. In diesem Sinn würden beide Arbeiten schlicht auf moralische Positionen zurückgreifen – ohne deren Voraussetzungen ins Schwanken zu bringen. Der Boykott in Berlin, könnte man einwerfen, war ab dem Zeitpunkt der Überschreitung der angesetzten Dauer der Performance nichts anderes als eine Besetzung und somit politische Aktion. Doch möchte ich diesem Einwand entgegen halten, dass die Beendigung der Besetzung an die Forderung von 1000 Euro geknüpft war – eine Forderung, die aus einer fiktiven Kalkulation resultierte. Zudem wurde die Aktion recht inkonsequent um 23 Uhr abgebrochen und im Anschluss in einer Art Kritikgespräch im Foyer des MGT besprochen. Außerdem hatten die Initiatoren für die Dauer der Besetzung Spiele vorbereitet, die eine Rezeption der Arbeit als ausschließlich politische Aktion unterminierte.
Fazit
Politische Aktion oder Kunst – in beiden Beispielen ist eine Unterscheidung nicht möglich. Es kann sogar als Kern der ihnen zugrunde liegenden künstlerischen Strategie gelten, diese Ununterscheidbarkeit zu generieren. Eine Strategie, die im Vergleich mit den verschiedenen Ansätzen eines politisch gemachten Theaters eine besondere Wirkmächtigkeit entfalten kann. Denn diese Strategie umgeht ein grundsätzliches Problem politisch gemachter Kunst, welche die Unterbrechung innerhalb der Sphäre des Ästhetischen sucht. Diese Kunst braucht für ihre Unterbrechungen immer zuerst eine ästhetische Setzung, die sie unterbrechen kann. Doch was passiert, wenn die Strategien der Unterbrechung selbst zu ästhetischen Setzungen geworden sind? Sind die von Lehmann beschworenen Formen des postdramatischen Theaters nicht längst Teil unserer Sehgewohnheiten geworden? Und ist nicht gerade das Osterfestival im MGT ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine Institutionalisierung der politischen Kunst? Frei nach dem Motto: Seid politisch (auch gerne postmodern), aber bitte im Rahmen der Voraussetzungen, die wir euch bieten. Dagegen erzeugt die Unterbrechung der ästhetischen Sphäre eine Ununterscheidbarkeit zwischen dem Als-Ob-Charakter der Kunst und einer realen Konsequenz, was eine Vereinnahmung und damit Konsumierbarkeit doch zumindest stark erschweren sollte.
Des Weiteren kann die Unterbrechung innerhalb der ästhetischen Sphäre den politischen Diskurs, und damit die rechtssetzende Gewalt nach Benjamin, nur dahingehend entsetzen, dass sie die Regelfelder des darunter liegenden moralischen Diskurses offenlegt beziehungsweise brüchig werden lässt. Dagegen verfügt die Unterbrechung der ästhetischen Sphäre selbst über das Potential, sich in ein direktes Verhältnis zu dieser Gewalt zu setzen und diese spürbar zu machen. So war das Maxim Gorki Theater durch die Besetzung gezwungen, sich selbst als Institution zu verteidigen beziehungsweise mussten die anderen Künstler*innen sich fragen, zu welchem Preis und mit welchen Mitteln sie ihr Recht durchsetzen könnten, um das Zeigen ihrer Arbeiten zu ermöglichen. Und die Gewalt von Ausgrenzung und Abschiebung wurde bei Schlingensief nicht einfach nur offengelegt, sondern zugleich als reale Handlung mit deren Konsequenzen erfahrbar.
Berücksichtigt man diese Beobachtungen, erscheinen die heftigen Reaktionen auf beide Arbeiten nicht verwunderlich, da die beschriebene künstlerische Strategie eine einfache Zuschauerposition verhinderte. Denn gerade durch die scheinbare Setzung von moralischen Positionen wurde der moralpolitische Diskurs ausgesetzt, wobei diese Art der Unterbrechung weitere Äußerungen fast zwangsläufig einforderte. Beide Aktionen stehen daher für ein politisch gemachtes Theater jenseits des Theaters, das im besten Sinn politisiert.
Quellen
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Debord, Guy. 1996. Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat.
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Hamacher, Werner. 1994. „Afformativ, Streik.“ In Was heißt ‚Darstellen‘?, hg. von Christiaan Hart Nibbrig, 346-360. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lehmann, Hans-Thies. 2011. „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ In Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, hg. von Jan Deck und Angelika Sieburg, 29-40. Bielefeld: Transcript.
Marchart, Oliver. 2010. Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp.
Maxim-Gorki-Theater. 2013. „Aufstand proben. 6. Osterfestival der Kunsthochschulen.“ http://www.gorki.de/spielplan/6_osterfestival_der_kunsthochschulen/
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Müller-Schöll, Nikolaus, André Schallenberg und Mayte Zimmermann, hgs. 2012. Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin: Theater der Zeit.
Poet, Paul (Regie). 2002. Ausländer Raus! – Schlingensiefs Container. Bonus Film, DVD.
Schlingensief, Christoph. 2000. „Bitte Liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche.“ http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t033
Michael Neil McCrae, geb. 1985, ist seit 2007 Student der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Vor und neben dem Studium hat er als Assistent in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Produktion gearbeitet und eigene Performance-Projekte realisiert.