Learn not to burn

Zur Metonymie der Asche im Kontext von Heiner Müllers Manuskripten zu LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI

„Learn not to burn“[1]

„Charcoal grills can be deadly“[2] – Holzkohlegrille können tödlich sein, wie man auch auf der Homepage der Iowa State University anhand folgender Meldung nachlesen kann: „In 1997 an Iowa couple died from breathing carbon monoxide from a charcoal grill […]. The couple was camping with friends. After grilling hamburgers on a table-top grill, they […] placed the grill in a storage area underneath their camper, watched the news and went to bed. The coals re-kindled and the carbon monoxide from the grill penetrated the floor of the camper, killing the couple.“[3]Abschließend heißt es dort: „Carbon monoxide is especially dangerous because it has no odor and cannot be seen. […] Those who do not die can suffer headaches, drowsiness, dizziness, weakness, nausea, vomiting, confusion, disorientation or collapse. Some people have permanent damage, including memory loss or personality change.“[4]

Die Vorbeugung derartiger Vorfälle ist nicht nur im Sinne des Agrartechnikers Thomas Greiner, der sich des oben zitierten Unglücks aus didaktischen Gründen erinnert, sondern in den USA seit etwa 30 Jahren fester Bestandteil des Lehrplans für die Vorschulerziehung. Das Präventionsprogramm trägt den markenrechtlich geschützten Titel „Learn not to burn“[5], unter dem auf eine spielerische und nicht bedrohliche Art der sichere Umgang mit Brandquellen erlernt werden soll.

Ein anderer Imperativ. Nicht aus dem Land, das laut Müller seine Erfahrung mit Landschaft grundlegend prägte[6], sondern für den Raum der Städte geschrieben. Brechts Verwisch die Spuren, mit der für unseren Kontext interessanten letzten Strophe:

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst

Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst

Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt

Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt!

Noch einmal:

Verwisch die Spuren![7]

Die beiden Imperative – „Learn not to burn“ und „Verwisch die Spuren“ – mögen an dieser Stelle willkürlich assoziiert scheinen. Sie bilden jedoch eine Klammer, die in ihrer metaphorischen sowie metonymischen Lesart in Beziehung zu dem Kontext steht, den ein Vergleich zwischen der Szene LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI und den betreffenden Manuskripten herstellt; vor allem in ästhetischer und methodischer Hinsicht. Ästhetisch, da in diesem Kontext der Begriff der Asche verwendet wird, der textimmanent auf eine künstlerische Praxis der Moderne schlechthin verweist. Methodisch, insofern ein Vergleich zwischen Drucktext und Manuskript auf das schreibprozessuale Verfahren der Auslassung deutet. Beide Seiten kulminieren dabei in dem inhaltlichen Punkt, der die Diskussion über die Frage eines Schreibens nach Auschwitz im Sinne der Dialektik der Aufklärung fortführt.

„This is your fire-inspector“[8]

Die Druckfassung der Szene LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI benennt im ersten Abschnitt die „Asche, die aus den Büchern weht“[9]. Innerhalb des in Versalien gesetzten Textblocks, der den zweiten Abschnitt apokalyptisch beschließt, heißt es „STUNDE DER WEISSGLUT“[10], wobei dieser Hinweis auf eine Brandquelle deutlich abstrahiert erscheint. Beschwört die Verbindung der Begriffe „Asche“ und „Bücher“ unweigerlich Assoziationen zur Bücherverbrennung, lässt sich mit der „STUNDE DER WEISSGLUT“ keine konkrete Vorstellung verknüpfen. Durch die damit gegebene Diffusität wird jedoch ein drohender Gestus erlangt. Möglicherweise erscheint allein dies in der Rezeption als bedrohlich, insofern sich die Interpretation einer größeren Freiheit ausgesetzt sieht bzw. eine Lektüre dieser Stelle sich einem weiteren Interpretationsspielraum verpflichten muss. Dasselbe Prinzip gilt allerdings auch für die Verknüpfung zwischen Asche und Büchern, will man sie nicht aus ihrem Kontext reißen. Denn die oben genannte Assoziation zur Bücherverbrennung ist gleichzeitig weder zwingend noch abwegig in einem Satz, der lautet:

30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen.[11]

Es wird also in dem Lessing-Sprechtext eine Begriffskette entspannt, zwischen dem Staub aus den Archiven, der Asche, die aus den Büchern weht, einem bisher noch unterschlagenen Brandherd und der Sehnsucht nach Schweigen. Dem entgegengestellt wird der präventive Versuch, sich mit Worten aus dem Abgrund zu halten. Was als resignative Rückschau auf die fiktive Autorenbiografie gelesen werden kann, muss jedoch genauer untersucht werden.

Während der Staub aus den Archiven und die Asche aus den Büchern noch als metonymische Variablen eines memento-mori-Motivs gelesen werden können, das sich auf die Verschränkung von Gedächtnis und Vergessen bezieht[12], stehen sich die rahmenden Satzteile paradoxal gegenüber: Der Versuch, sich mit Worten aus dem Abgrund zu halten wird trotz oder aber bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Schweigen durchgeführt. Die Gleichzeitigkeit von Erinnern und Vergessen – oder: des Sich-Erinnerns trotz Vergessen-wollens – eröffnet die Frage danach, ob es sich bei den Worten um Sprache im Allgemeinen handelt oder ob damit auf eine Unterscheidung zwischen Worten und Worten hingewiesen werden soll, was nicht zuletzt der folgende Satz im Lessingtext provoziert, in dem es heißt: „Ich habe die Taubstummen um ihre Stille beneidet im Geschwätz der Akademien“.[13]

Ist mit den Worten also Geschwätz gemeint? Macht es im Kontext der offensichtlichen Gedächtnisproblematik einen Unterschied, wie man sich der Worte bedient? Und was beschreibt davon abhängig der Begriff vom Abgrund? – Da es uns weniger um die Beantwortung dieser Frage im immanenten Sinne geht, sondern um das Verhältnis zwischen Druckfassung und Manuskript, ist es an der Zeit, sich Müllers Entwürfen zu widmen, also Worte mit Worten zu vergleichen.

Sämtliche Bezüge zur Asche und zum Brand, die bis jetzt aus der Druckfassung zugrunde gelegt wurden, finden sich bereits nach einem ersten Blick in den Manuskripten wieder – jedoch und vor allem, weil man sie in ihrem dortigen Kontext schwerlich übersehen kann. Neben den „cries of burning people“[14]und „nichts als d. Flammen (die) Stunde der Hochöfen / Licht d. / the light of (the) weißglut“[15] erfährt die STUNDE DER WEISSGLUT aus der Druckfassung rückwärtig gelesen ihren historischen Bezug durch die Notizen „Nathan / (der alte Narr, der Auschwitz nicht wahrhaben wollte“ sowie

Nathan in Auschwitz

wird, während er die Ringparabel rezitiert

für d. Ofen eingekleidet, rasiert

geschoren usw.

von Sängerknaben

(Mozart s[ingend?])[16]

 

Durch die Manuskripte hindurch wird darüber hinaus der Bogen über die kollektive Vernichtung zum Individuum gespannt, das seinen „Kopf in alle Gasherde der Welt gesteckt“[17] hat. Der historischen Katastrophe gegenüber tritt das „Denken vom (individuellen) Tod aus“[18] und „Der Mensch als Museum seiner Vergangenheit“[19], das Ich als „meines Todes Leib“.[20]

Hier wird bereits sehr deutlich, wohin die oben genannte Frage nach dem Abgrund führt. Der Abgrund ist dabei kein getrennter, kein einerseits individueller und andererseits überindividueller, also historischer. Die Entscheidungen des Individuums sind unauflösbar mit dem Begriff von Geschichte verbunden, aber Geschichte erscheint hier nicht als derjenige Abgrund, in den das Individuum hinabschaut. Der Abgrund, der hier konkret mit dem Ereignis der Shoa verknüpft wird, konstituiert sich durch das Individuum und hat in ihm seinen Platz: als „destruction of future“[21] und „crying on unfulfilled promises of history“[22].

Die Katastrophe schlechthin unterminiert das emanzipatorische Projekt schlechthin: die Aufklärung. Da beide Seiten ihrer dialektischen Verschränkung unter historischen Gesichtspunkten nicht zu entheben sind – galt Nathan der Weise doch als Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons während der NS-Zeit –, lässt sich vielleicht die Frage nach den Worten, die sich aus dem Lessingtext ergibt, genauer stellen: Gibt es Wörter, die nicht in die Katastrophe führen? Kann man lernen, sich nicht zu verbrennen?

Nathan in Auschwitz und Schreiben als Verlust

Wenn Müller in seinen Manuskripten Nathan in Auschwitz umkommen und damit stellvertretend das Toleranzprojekt der Aufklärung, das sich in der Ringparabel spiegelt, in Flammen aufgehen lässt, so entspricht das, im Vergleich zur Druckfassung, nur vermeintlich einer radikaleren szenischen Variante.

Nimmt man die Ringparabel als Beispiel für die aufklärerische Toleranzlehre und entschlackt sie um eine idealisierende und sozialromantische Interpretationstradition, so ist festzuhalten, dass ihr als Konzept von Beginn an der Verlust eines allgemein verbindlichen Wahrheitsanspruchs eingeschrieben ist. Dies trifft insofern zu, als dass die Glaubensfrage, die hier die monotheistischen Religionen betrifft, nur dadurch im Sinne einer Toleranz relativiert werden kann, wenn man im vorhinein unterstellt, es gäbe keinen eindeutigen und zwingend allumfassenden Gottesbezug mehr. Das bedeutet gleichfalls auch, dass die Verwaltung von Glaubensfragen nicht einer überirdischen Gnade überantwortet werden kann, sondern zur immanenten und damit variablen Größe wird, die auch Intoleranz sowie ein immer mögliches Scheitern dieses Projekts notwendig mit einschließen muss. Und umgekehrt: Sollte das dahinter liegende Konzept einer Ethik so erfolgreich sein, wie es von idealisierender Seite interpretiert werden kann, so müsste es in aller erster Linie an seiner Selbstabschaffung interessiert sein. Denn die Idee einer vollkommenen und totalen Toleranz kann nur dann aufgehen, wenn sie den Moment der Intoleranz sowie des möglichen Konflikts ignoriert und damit ahistorisiert. Es läge dann nicht nur in ihrem Ziel Geschichte abzuschaffen, sondern sich vor allem über den Verlust allgemein verbindlicher Regeln und Verweise hinweg zu täuschen. Geschichte entspräche dann einer kybernetischen Maschine, die es dem handelnden Subjekt erlauben würde, blind und „auf toten Gäulen ins Ziel“[23] zu reiten. Im puren Glauben an ein solches Selbstregulativ würde Auschwitz nur noch der Leugnung anheim fallen können. Dies entspräche einer Utopie, die Geschichte abzuschaffen sucht und mit dem Versuch korrespondiert, die Dinge auf ein Ziel hin gerichtet festzuschreiben. Es entspräche darüber hinaus dem Anspruch, alles Dagewesene zu fixieren und somit einem allumfassenden Archiv zu überantworten, das – einmal ad acta gelegt – dem Staub ausgesetzt wird. Bevor wir jedoch diesen Punkt weiterführen, wollen wir uns noch einmal dem oben beschriebenen Verlustmoment zuwenden.

Der aufklärerischen Toleranzlehre lässt sich als Analogie das Konzept moderner Ästhetik an die Seite stellen. Nicht aus dem Grund, weil beide Projekte aus einer ‚Schule’ stammen, sondern weil beide Felder durch eine traumatische Einschreibung gekennzeichnet sind. Was aufseiten der Ethik durch das Ausbleiben einer gerechten göttlichen Instanz nachwirkt, spiegelt sich hinsichtlich der Ästhetik in der Begründung der Urteilskraft. So wenig simpel, wie sich für eine Gemeinschaft eine unmittelbar geltende Sittlichkeitslehre erschließen lässt, wird ästhetischen Urteilen eine sichere Referenz dargeboten, insofern das betrachtete Objekt dem Betrachter nichts darüber zu sagen weiß.

Die Problematik der Urteilskraft lässt den kennzeichnenden Verlust möglicherweise deutlicher erscheinen, wenn es um die Charakterisierung des Geschmacksurteils geht: Wo das Subjekt dazu aufgefordert ist, sein eigener Richter über ein Objekt zu sein, erhält das Urteil gerade aufgrund einer fehlenden ursprünglichen wie eindeutig notwendigen Referenz einen totalen Anspruch. Die Totalität, die der subjektiven Urteilsermächtigung durch das Ausbleiben einer unmittelbaren Begründbarkeit eingeschrieben wird, bildet dabei die Kehrseite einer Trauer, die sich der Freiheitsbildung ausgesetzt sieht. Was betrauert wird oder als traumatischer Kern durch seine Abwesenheit die Urteilskraft begleitet, trägt in Kants Aufsätzen den Namen „Natur“. Kant setzt den Naturbegriff an genau die Stelle, aus dessen Argumentationsperspektive einzig die Negation wirksam sein müsste und besetzt damit den Ort einer Vorstellung vom Ursprung neu. Dieser Hilfskonstruktion muss jedoch das volle Bewusstsein darüber unterstellt werden, dass dieser Platz eigentlich verloren ist. Die moderne Ästhetik bildet sich über einen traumatischen Gründungsakt: Gerade das Einsetzen sowie der Gebrauch des Begriffs „Natur“ implizieren eine Trauerarbeit, die in der Kritik der Urteilskraft mitgeschrieben wird und die immer wieder eine Leerstelle offen legen. Ein volles Bewusstsein über diese Problematik muss auch insofern unterstellt werden, da dieses Konzept didaktisch angelegt ist. Die Didaktik tritt als Kompensationsprojekt dem Verlustmoment der Natur entgegen:

Schwerlich wird ein späteres Zeitalter jene Muster [einer Propädeutik zu aller schönen Kunst; Anm. d. Verf.] entbehrlich machen; weil es der Natur immer weniger nahe sein wird, und sich zuletzt, ohne bleibende Beispiele von ihr zu haben, kaum einen Begriff von der glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Kultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihren eigenen Wert fühlenden freien Natur in einem und demselben Volke zu machen im Stande sein möchte.[24]

Was für die Zukunft bleibt, ist die völlige und absolute Durchsetzung des Lebens mit Kultur. Aufseiten ethischer wie sittlicher Konzepte, die immer mit einer Propädeutik zur Urteilsbildung in Verbindung stehen[25], hat dies zur Folge, dass sämtliche Ansätze, die einen Naturzustand des Menschen unterstellen – wie beispielsweise der Rousseausche –, ihrer Gültigkeit enthoben werden.

„Natur“ als stellvertretender Begriff für eine die Kultur begleitende traumatische Erscheinung, wird hiermit für alle Zukunft zu Grabe getragen, womit sich ihre letzten Spuren in Asche auflösen. Gerade diese Asche ist es aber, die als Abgrund im Projekt des Humanismus wirkt und dessen Bibliotheken und Archive begleitet. Einer Propädeutik, die ihren äußersten Referenzpunkt in Aufzeichnungen und Schriftlichkeit findet, ist der Naturbegriff als nicht wieder herstellbarer Rest eingeschrieben. Gesellschaft und Individuum sind ab diesem Zeitpunkt vollständig der Historie überantwortet, die umgekehrt den einzigen Referenzpunkt für Kunst bilden wird. Gleichzeitig – und damit berührt Kant das Aufklärungsprojekt in aller Radikalität – wird damit auch ein dauernder Moment der Krise beschrieben. Die Krise selbst ist es, die jene Konzepte des Sittlichen und Ästhetischen erzwingt, was Kant zu seiner indirekten Frage veranlasst, ob es der modernen Kunst möglich sein wird, dieses Verlustmoment, ohne dass sie nicht sein könnte, aufrecht zu erhalten.[26]

Indem Kunst über die anhaltende Krise in ein unauflösliches Verhältnis zur Geschichte gebracht wird, würde eine Überwindung dieser Krise – beispielsweise als Ziel einer romantischen Teleologie – ausnahmslos zu ihrer Vernichtung führen. Da die moderne Kunst nicht ohne Geschichte auskommt und umgekehrt Geschichte als Teil von Kultur sich nicht des Zugriffs durch die Kunst erwehren kann, da sie deren einzigen Referenzrahmen bildet, stehen Nicht-Kunst und die Abschaffung der Geschichte auf der selben Seite.

Die Überwindung von Geschichte, im Sinne einer utopischen Ideologie, trüge dabei allerdings das gleiche Gesicht wie eine zur Vollkommenheit strebende Didaktik, die beispielsweise mit dem totalen Archiv als Praxis der Kanonisierung verglichen werden kann. Sowohl das Abschaffen des historischen Prinzips auf der einen als auch sein Totalitätsanspruch auf der anderen Seite bilden demnach die äußersten Grenzpfeiler des Möglichkeitsrahmens für Kunst.

Insofern ist es unter ästhetischen Kriterien unmöglich, sich an Wörtern – um auf die weiter oben gestellte Frage zurückzukommen – nicht zu verbrennen. Denn die Unterschlagung des Verlusts, der auch die Möglichkeit einer Brandquelle oder Katastrophe einschließt, die Lüge um eine vorweg zu denkende Zukunft, würde das Ende von moderner Kunst herbeiführen. Ein „learn not to burn“ kann in kultureller Hinsicht nur in ein Immer-besser-Scheitern umgedeutet werden, insofern der modernen Kunst allein durch ihre traumatische Konstituierung das Prinzip der Subversion zugehört.

Ein weiterer Gedanke, den diese Schlussfolgerung einschließt, zielt darauf, dass mit der Unterstellung eines geschichtlichen Telos das Ideal von Kontinuität einhergeht. Eine Vorstellung, die nur dann ihre volle Berechtigung entfalten könnte, wenn der Ursprung von moderner Kultur nicht eine Leerstelle bilden würde und demzufolge nicht-traumatisch wäre. Da dem Gründungsakt der modernen Sittlichkeitslehre und Ästhetik aber keine ursprüngliche Tradition eingeschrieben ist, von der aus sich ein Anfang und ein Ende vermessen ließen, ist als dynamisches Prinzip dieser traumatischen Genese die Diskontinuität der ständige Begleiter von Kultur als Krise. Durch diese Diskontinuität ist die Möglichkeit und die Gefahr eines Verbrennungspotentials immer schon enthalten. Es veräußert sich in den Katastrophen und den so genannten zivilisatorischen Brüchen entgegen dem Prinzip, das durch eine lückenlos angelegte und kontinuierlich gedachte Didaktik kanonisierte Archive schafft, mittels derer es sich einem historischen Ziel treuer verbunden glaubt. In dieser Hinsicht erscheinen auch die Worte, mit denen man sich aus dem Abgrund zu halten sucht, als von einer Bewegung gezeichnet, die dem Kontinuitätsglauben folgt. Anders ausgedrückt: Das Immer-wieder-aufs-Neue-verbrennen ist der traumatisch geprägten Dynamik der Diskontinuität von Kultur implizit, wenn es nicht einem ideologischen Konzept von Geschichte Recht zusprechen will.

Nachdem die Frage nach der Art des Umgangs mit den Wörtern, die durch die oben zitierte Passage des Lessingstexts provoziert wird, zu einer explizit modernen Problematik von Ästhetik und Urteilskraft geführt hat, sollten wir zum Verhältnis zwischen Druckfassung und Manuskript zurückkehren.

Verwisch die Spuren

Eine Fragestellung, die wir bis jetzt unterschlagen haben, lautet: Warum haben die Notizen aus Müllers Manuskripten keinen Ort in der Druckfassung? Hierzu ist es notwendig, sich einem weiteren inhaltlichen Punkt zuzuwenden, der in den Manuskripten angeboten wird. Den Ausgangspunkt dafür soll der Schlussabsatz von LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI bilden, in dem die Lessingfigur gleichsam bei lebendigem Leibe zum Denkmal gemacht wird und – dadurch stumm geschaltet – im Applaus des Theaterpublikums untergeht.[27]

An den Stellen in den Manuskripten, die mit APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT in Verbindung stehen, finden sich die Notizen „Phantasietötung“[28] und „Kommission f. Unsterblichkeit“[29]. Ferner umschreibt Müller dort den Theaterbezug:

Unzufriedenheit der Schauspieler

unterbeschäftigt

Publikum dto unterbeschäftigt

Schauspieler verlieren Fähigkeit

Erfahrungen zu machen

keine Stücke die mit ihrem Leben

zu tun haben ——[30]

 

Daran anschließend heißt es in einer weiteren Notiz:

In unsern alten (überkommenen, geerbten)

+ neuen Theaterngebäuden muß man vielleicht

noch spielen, weil sie so viel gekostet

haben, schreiben (Wirklichkeit beschreiben)

kann man für sie nicht mehr.[31]

Zum einen wird also eine Theatersituation problematisiert, in der keinerlei Erfahrungen mehr hervorgebracht werden können, da der Apparat auf eine Wirklichkeit ausgerichtet ist, die jede künstlerische Notwendigkeit untergräbt und obendrein den „Traum vom Theater in Deutschland“[32] für unmöglich erklärt. Zum anderen wird mit der „Kommission f. Unsterblichkeit“ inhärent auf eine Archivierungspraxis hingewiesen, die aus einer kulturellen Kanonisierung hervorgeht. Eine besondere Praxis dieser Kanonisierung wird in den Manuskripten mittels einer verworfenen Szene beschrieben, in der es offensichtlich um ein Interview mit Lessing geht. Sie führt wieder zurück zum Lessingtext des ersten Abschnitts:

Herr L. was halten Sie von

Lessing, was ist ihre Meinung zu                                                                       Ich habe nichts zu schaffen mit

halten Sie für repräsentativ                                                                                eurem Paradies für Dauerredner[33]

 

Die Meinung darüber, was repräsentativ und damit kanontauglich sein könnte, wird von der Lessingfigur mit „Paradies für Dauerredner“ kommentiert, wobei diese Replik die Frage nicht beantwortet, sondern zurückweist und sich ihr verweigert. Bereits die Worthälfte „Dauer“ schließt erneut das Prinzip der Kontinuität ein und setzt es in eine Beziehung zu einer Paradiesvorstellung, einem Erlösungsglauben. Die Synthese dieser Begriffsverknüpfung bezeichnet demnach nichts anderes als die so genannte Fortschrittsgläubigkeit. Auch sie ist neben der Praxis des Kulturkanons als Zielscheibe für Kunst in Müllers Manuskripten wieder zu finden:

 

einschießen v. Anachronismen bis

zur Sprengung v. Kontinuität

([nuum?])

z.B. Kriegserinnerungen aus

d. 2. world war                        [?]

Theatererfahrungen. Verbot U                                           national-

Unmöglichkeit, Scheitern v. hope f.                  theater[34]

Da Müller in diesem Auszug mehr oder weniger seine Schreib- und Montagetechnik kommentiert, ist es nicht verwunderlich, dass diese Notiz in keiner Form in der Druckfassung präsent ist. Sie verdeutlicht allerdings zusammenfassend, warum im veröffentlichtten Stücktext alle anderen oben aufgeführten Verweise aus den Manuskripten abwesend sind und weshalb dies mit der traumatischen Konstitution von moderner Ästhetik korrespondiert.

Erstens verdeutlicht das Verhältnis zwischen Manuskript und Druckfassung, dass Müllers Schreibprozess dem Prinzip der fortschreitenden Auslassung folgt. Die Arbeit am Stück kreiert eine Ästhetik des Verlusts, indem durch das schreibend vorangetriebene Ausstreichen konkreter Verweise eine größere Offenheit geschaffen wird, die sich allzu konkreten und festschreibenden Assoziationen versperrt. Der Anspruch einer lückenlosen Aufklärung historisch bedingter Zusammenhänge wird unterwandert, so dass es eben nicht zur „Phantasietötung“ kommt. Ebenso wird ein erzieherisch motiviertes Lehrstück unterschlagen, das in seiner diesbezüglichen Didaktik scheitern würde, erhebe es im Gedanken an einen unfehlbaren Humanismus den Anspruch – inhaltlich gesprochen – eine zukünftige Generation ‚über Auschwitz hinweg’ zu erziehen. Gleichzeitig wird durch den Prozess der Auslassung eine höhere Dichte geschaffen, die keiner kontinuierlichen Logik mehr folgt und die Technik fortschrittsorientierter Geschichtsschreibung entlarvt sowie als inhaltliche Widerspiegelung formal-ästhetischer Abwesenheit gelesen werden kann. Der in schreibtechnischer Hinsicht damit verbundene Imperativ eines „Verwisch die Spuren“ eröffnet eine Entgrenzung der Kontextualisierung zugunsten einer zukünftigen Lesbarkeit und bedient sich damit der paradoxalen Notwendigkeit des dialektischen Möglichkeitsraumes, den die moderne Ästhetik aufgrund ihrer Ursprungslosigkeit hervorbringt. Die Technik des Spurenverwischens steht somit ganz im Zeichen eines Geschichtsbewusstseins, das die zwangsläufige Verbindung von Vergangenheit und Zukunft im Kontext der Gedächtnisfrage anerkennt: Die Spuren, die von Müller in den Manuskripten gestreut wurden, kehren nicht wieder, sondern kehren sich wider eine eindeutige Interpretation und Festschreibung. Indem sie nicht anwesend sind, können sie auch in der Druckfassung keine Ausschließungen generieren. Hierin geht die Metonymie der Asche auf: Als eine Spur, die sich auflöst, zu keiner Verortung mehr führt und damit gleichzeitig alle Richtungen offen lässt.

Zweitens ist im arbeitsprozessualen Spurenverwischen ein Einspruch zu dem enthalten, was im Kontext von LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI inhaltlich verhandelt wird. Lessings Leben ist datiert, Nathan der Weise ist im Sinne eines humanistischen Bildungsideals interpretiert worden und sein Werk gilt sowohl an Schulen wie Theatern als dem Kanon zugehörig – in diesem Zusammenhang ist alles der Genese eines Kontinuums überantwortet worden. Seine Vermessung durch „Debattierposen“[35] entspricht derjenigen Denkmalsetzung, die im letzten Teil zur Verstummung des Autors führt: Die Büste bildet das Grab und die kanonisierte Interpretation generiert die vermeintlich deutliche Schrift, eine Lesbarkeit ohne Widersprüche. Beides führt zur Anzeige und Überführung, die mit der unausweichlichen Fixierung des Autors endet, die von einem nahezu automatisierten Applaus begleitet wird: „WELCOME TO THE MACHINE“.[36]

Die aus dem Verhältnis von Stücktext und Manuskript hervorgehende Schreibtechnik Müllers kann folglich auch als Reflexion über das Archiv als textimmanente Problematik gelesen werden. Form und Inhalt werden so einander in größtmögliche Nähe gebracht, ohne gleichzeitig zu behaupten, es gäbe eine historische Abschließbarkeit hinsichtlich der kulturellen Traumata, die im Text verhandelt werden, womit der Denkmalpflege eine Absage erteilt wird und das Denken sich öffnen muss. So entsteht eine Bewegung, die darauf drängt, das Gedächtnis dem Staub und der Patina zu entreißen, um es einer immer wieder neu zu beschreibenden Zukunft zu überantworten und es vor der Illusion einer Ahistorie zu bewahren, die einen jeden Brandherd der Geschichte leugnet. Eine solche Illusion würde sich auf die Beteiligten der Geschichte ebenso auswirken wie der Vergiftungsprozess fortglühender Kohlen auf das eingangs zitierte, grillende Ehepaar aus Iowa: Wie das Kohlendioxid im genannten Beispiel, so führt auch die durch Fortschrittsgläubigkeit erzeugte Betäubung eines Geschichtsbewusstseins zum Gedächtnissturz.

 

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1.  Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  2.  Ebd.
  3.  http://www.extension.iastate.edu/Pages/communications/CO/grill.html, 15.08.2008. Sowie als Notiz in: Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  4.  Ebd, Hervorhebung d. Verfassers.
  5.  http://www.gnb.ca/0276/fire/prog-e.asp, 15.08.2008.
  6. Vgl. Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1999, S. 284.
  7.  Brecht, Bertolt: Aus einem Lesebuch für Städtebewohner, in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. 8, Gedichte I, S. 268.
  8. Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  9.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  10.  Ebd., S. 36.
  11.  Ebd., S. 34, 35.
  12.  Vgl. zur Metonymie der Asche: Derrida, Jacques: Feuer und Asche, aus dem Französischem von Michael Wetzel, Berlin 1988.
  13.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  14.  Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  15.  Ebd., „Ch. M.“, ebd.
  16.  Beide ebd., „tv mein fenster“, ebd.
  17.  Ebd., „[Nagel?] (knife) in head“, ebd.
  18.  Ebd., „D. Hamlets“, ebd.
  19. Ebd., „Ein […?] der Inszenierung“, ebd.
  20.  Ebd., „D. Hamlets“, ebd.
  21.  Ebd., „Lessing + d. Inzest“, ebd.
  22.  Ebd., „Lessing Schl. / Tr. / Schr.“, ebd.
  23.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 34.
  24.  Kant, Immanuel: Von der Methodenlehre des Geschmacks, in: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, S. 300.
  25.  Vgl. ebd., S. 301.
  26.  Vgl. Horowitz, Gregg: Sustaining Loss.Art and mournful Life, Stanford, California 2001, S. 55.
  27.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 36, 37.
  28.  Aus Signatur 3394, „,engbrüstig´ – halb erstickt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  29.  Ebd., „Vorleser, Sprecher“, ebd.
  30.  Ebd., „Unzufriedenheit der Schauspieler“, ebd.
  31.  Ebd., „LEBEN GUNDLINGS“, ebd.
  32.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 34.
  33.  Aus Signatur 3394, „mit den Gesten v.“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  34.  Ebd., „Kopf zuschnüren“, ebd.
  35. Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  36.  Ebd.
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