Wasser und Black
Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Vielen Dank für das tolle Theatererlebnis. Ich möchte gleich auf Ihre Verwendung des Wassers auf der Bühne zu sprechen kommen. Es gab ja keinen Schauspieler, der nicht zu irgendeiner Zeit sich selber tränkte oder nass wurde. Das Wasser spielt natürlich im Stück eine große Rolle, weil dieser Selbstmordversuch im letzten Viertel des Stückes da steht [Gustchen will sich in einem Teich ertränken; Anm. d. Hrsg.], aber bei Ihrer Inszenierung wurde ja diese Badewanne, in der eigentlich alle einmal versucht haben sich zu ertränken, zu einer Art letzten Ausweg aus diesen Gefängnisräumen. Das hat gezeigt, dass wohl die Verzweiflung nicht nur in einzelnen Figuren liegt, sondern in der ganzen Gesellschaft, dass jeder in seiner Rolle überfordert und verzweifelt ist. Und da würde mich sehr interessieren: War das eine Anfangsidee, das alles so ans Wasser zu knüpfen, oder kam das aus der Notwendigkeit, diesen Ertränkungsaspekt einzubauen und dann hat sich das verselbstständigt?
Roberto Ciulli:
Es ist schwierig für mich, zu rekonstruieren, wie das gekommen ist. Ich denke nur, nach der Beschäftigung mit dem Material dauert es eine lange Zeit vor dem Beginn der Proben und es gibt natürlich bestimmte Entscheidungen zu treffen, auch was die Bühne betrifft. Die ist, wie Sie sehen, zu einem engen Raum gemacht: Die Tafel, die in manchen Szenen ein Gefängnis zeigt, ist auch das innere Gefängnis. Also ist die große Bühne ein Gefängnis in dieser Wiederholung der Objekte, die wir aus der Kindheit oder der Schule kennen und die oftmals mit dem Gefangensein zu tun haben. Und dadurch ist die Tafel wie vielleicht auch die Badewanne ein Gefängnis, wenn man will –
Helmut Schäfer:
Und auch eine Kindheitserinnerung
Roberto Ciulli:
Wasser ist eine Art Befreiung. Aber es ist auch das innere Gefängnis, in dem man ist. Und dann interessierte mich auch die Hitze, ich spüre bei Lenz eine große Hitze. Bei Lenz ist die Hitze, die er gespürt hat, wahrscheinlich die in Moskau, als er dort durch die Straßen ging. Diese Hitze ist ständig präsent und da bin ich auf das Wasser und die Badewanne gekommen. Und dann gibt es da natürlich, wie zum Beispiel auch bei Büchners Woyzeck, den Teich und das Ertränken neben der Hitze.
Judith Schäfer:
Für mich hat dieses Wasser auch sehr viel mit der Verstärkung der Körperlichkeit zu tun, weil durch dieses nasse Derangierte die äußere Form, wie man auftritt, wie man sich in Gesellschaft präsentiert, sich auflöst. Die Haltlosigkeit wird dadurch noch einmal verstärkt und der Körper wird sichtbarer.
Roberto Ciulli:
Wie man sagt: „hitziger Kopf“.
Judith Schäfer:
Ja, ich finde man spürt dann noch mehr, dass auch der Schauspieler einen Körper hat – die Figur und der Schauspieler –, das macht es noch sinnlicher.
Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Lenz hat ja eine Figur auch Robert Hot getauft, das passt ja auch sehr schön, wenn man einmal über diese Hitze bei Lenz nachdenkt.
Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Ich habe mich noch an etwas anderes erinnert gefühlt. Wir haben hier einmal King Lear gesehen und ich musste daran denken, dass wir damals über die Komödien bei Shakespeare gesprochen haben und darüber, dass diese noch sehr viel bitterer oder grausamer sind als die Tragödien, weil es darin wirklich gar nichts zu lachen gibt. Und zu dieser Inszenierung gestern haben wir die Bemerkung gemacht, dass diese Leute fertig sind, die wir sehen. Die sind alle fertig. Aber es gibt einen Schlussmoment, wo ich mich gefragt habe: Gibt es ein Fünkchen Hoffnung? Denn das Kind wird nicht ertränkt am Ende. Wie ist das einzusortieren und wie haben Sie sich dafür entschieden, dass das Kind erst einmal jedenfalls nicht im Wasser landet? Mich würde interessieren, wie Ihre Position dazu ist.
Roberto Ciulli:
Wir haben diese Fassung mit diesem Schluss gestern zum ersten Mal gespielt. Wir haben das Stück sehr lange nicht gespielt. Das war gestern Abend das erste Mal seit vier Jahren. Bei diesen Proben gab es dann die Entscheidung bezüglich des Schlusses zu treffen. Getauft wird ja schon vorher, taufen muss man also nicht mehr. Also müsste man das Szenario in der Badewanne so verstehen, dass von Berg das Kind umbringen will. Und als ich die Vorstellung dann gestern gesehen habe, habe ich sofort gesagt, dass wir es, wenn wir es wieder spielen, offenlassen. Das heißt es wird nicht so enden wie gestern Abend, sondern es wird so enden, dass es offen bleibt. Das Black unterbricht etwas und man weiß nicht: Geht das Kind unter oder kommt es wieder rauf? Das scheint mir jetzt so richtig.
Beitrag aus dem Publikum (Johannes F. Lehmann):
Ich wäre dafür, dass Kind doch wieder herauszuheben, denn Lenz entwickelt hier im Grunde sehr früh ein Modell der Adoption als ein Ausweg aus der Frage nach den Modi der Reproduktion einer Gesellschaft, wie Bildung, Reproduktion und Sexualität voneinander zu trennen sind. Insofern fände ich das einen interessanten Gedanken.
Roberto Ciulli:
Sie wären dafür, es nicht offenzulassen, dass jeder Zuschauer die Freiheit hat, sich zu entscheiden, was für ihn die Zukunft ist?
Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Ich persönlich bin für die Ertränkung und zwar nicht im Hinblick auf Lenz, sondern im Hinblick auf Ihre Inszenierung. Dieser Schluss war für mich so eindeutig ein Verzweiflungstableau, dass es für mich nicht gepasst hat, dass er das Kind wieder herausgeholt hat.
Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Ich möchte für das Black, für die Offenlassung argumentieren. Der Bruch, das Fragment tritt in der Inszenierung immer wieder in diesem Black auf als die Lücke, die gefüllt werden muss, die Lücke in Lenz’ Text, die vom Leser, vom Zuschauer gefüllt werden muss. Ich finde es folgerichtig, eben das am Ende stehen zu lassen, weil ich glaube, dass in der Lücke eigentlich schon die Antwort auf Herrn Lehmans Frage steckt. Nämlich als Nicht-Antwort: Dieses Unterfangen ist unmöglich, es ist nicht möglich, etwas darüber auszusagen. Es ist eine Kapitulation, aber darin auch gleichzeitig eine Antwort.
Musik
Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Mir ist in der Inszenierung vor allem die starke Präsenz der Musik [Philip Glass, Dracula; Anm. d. Hrsg.] aufgefallen. Sie scheint eine Bewegung zu sein, die mit dem Geschehen verbunden ist: Mit der Musik wird die Handlung vorangetrieben beziehungsweise existiert eine Engführung, eine Nähe von Musik und Handlung. Mir scheint es eine bewusste Entscheidung gerade für diese präsente und immer wiederkehrende Musik zu geben. Können Sie, Herr Ciulli oder Herr Schäfer, etwas zu dieser Musik sagen – was ist das für eine Musik, wie ist es zu dieser Auswahl von Musik gekommen, welchen Hintergrund hat diese Musik?
Roberto Ciulli:
Wie immer spielt hier der Zufall eine große Rolle: Vieles geschieht im laufenden Probenprozess; so war die Auswahl der Musik auch mehr oder weniger zufällig. Diese besondere Musik – wir hören während der Proben oft Musik – wurde allmählich bei den Proben entschieden: Mit der Zeit zeigt sich, was das Richtige, das Besondere einer Szene ist. Oft sieht man zuerst das Bild, dann hört man Musik dazu und erkennt, dass es genau die richtige Musik für das Bild ist. Manchmal spielt man Musik während des Probeprozesses und ein Bild entsteht – Bild und Musik passen zueinander.
Die Auswahl der Musik war bei dieser Inszenierung ein Zufall, der eigentlich gar kein Zufall war – das ist das Komplizierte daran. Während einer Inszenierung, an der ich im Iran mitwirkte, wurde ich auf einen Film namens Die rote Violine aufmerksam gemacht. Dieser Film, diese Musik haben mich sehr bei der Arbeit an Lenz’ Hofmeister inspiriert. Im Film selbst gab es eine Verschränkung von Erzählung, Musik und Black. Das Black ist ein filmisches Element [das Ciulli auch in dieser Inszenierung einbaute; Anm. d. Hrsg.].
Helmut Schäfer:
Die Qualität der in der Inszenierung eingesetzten Musik liegt, wie ich es beim Hören rezipiert habe, in dem Getrieben-Sein, welches ein zentrales Motiv in Lenz’ Hofmeister ist. Die ausgewählte Musik bringt in dieser Inszenierung die Wirkung des Getrieben-Seins hervor: Sie schiebt sozusagen die Figuren von einer Szene in die nächste hinein, hat die Möglichkeit, einen Druck auf die handelnden Subjekte auszuüben. Das Getrieben-Sein ist ein Motiv, das bei den meisten Lenz’schen Figuren und bei Lenz selber zum Ausdruck kommt. Im Getrieben-Sein ist der ‚Trieb‘ sprachlich enthalten, worauf Herr Lehmann ja in seinem gestrigen Vortrag hingewiesen hat und Lenz schreibt selbst in seinen Straßburger Vorlesungen über die Konkupiszenz. Dieses Getrieben-Sein wollen wir in der Musik bzw. durch die Musik fortführen; das Getrieben-Sein ist ein Motiv, das die Musik zum Teil transportiert.
Judith Schäfer:
In dem Treibenden und in den Instrumenten selbst entsteht eine Atmosphäre eines Traumhaften und eines Unheimlichen – die ganze Zeit stimmt etwas auf mehreren Ebenen nicht. Die Musik verstärkt diesen Eindruck und erweitert dieses Traummotiv.
Louisa Schückens:
Die Atmosphäre des Unheimlichen, des Traumhaften, des Getrieben-Seins bleibt ständig präsent. Diese Atmosphäre wird durch die Ebene der Musik verstärkt: Die Atmosphäre hallt nach; sie wirkt in einem nach, noch nach der Inszenierung. Die Erinnerung erhält neben der Ebene des Bildes die der Musik, die die Atmosphäre verstärkt und in einem nachwirkt. Deswegen ist die Musik für mich ein sehr ergreifendes und zentrales Motiv in dieser Inszenierung.
Helmut Schäfer:
Und das macht die Musik so präsent – eigentlich ist die Bühne nackt; nur das nackte Geschehen liegt vor uns.
Sebastian Bös:
Mein Eindruck ist, dass die Präsenz der Musik den Raum größer macht; sie bringt ein Volumen in den Raum. Die Musik ist ständig in dem alten Radio auf der Bühne präsent. Auch wenn die Musik das Geschehen so intensiv macht, scheint sie doch nur immer auf dieses kleine Radio Bezug zu nehmen, mit dem vor allem der Sohn spielt. Können Sie etwas zu der Entscheidung sagen, die Musik in einem kleinen Ding, einem kleinen Radio auf der Bühne zu verorten?
Roberto Ciulli:
Was man sieht, ist eine Mischung zwischen Hall und Vision. Die Figuren leben zwischen diesen beiden Ebenen – das ist der rote Faden der Inszenierung. Und diese Mischung hat auch etwas mit Lenz zu tun, in dessen Theater eine Mischung zwischen Sprache und Vorstellung, Innerem und realen Äußerem thematisiert wird. Das, was wir sehen, und das, was wir eigentlich nicht auf der Bühne sehen können; das, was wir hören, und das, was wir eigentlich nicht hören können – der ständige Wechsel zwischen dem Real-Gegebenen und der Vorstellung macht den roten Faden der Inszenierung aus. Es existiert eigentlich kein Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen, Real-Irreal. Hier setzt der Lenz’sche Begriff des Standpunkts ein: Der Zuschauer entscheidet, was für ihn real und was für ihn nicht real ist.
Julia Freytag:
Ich empfand dieses Irreale, auch wie es in der Musik zum Ausdruck kommt, als sehr eindrücklich. Die Ebene des Irrealen hatte ich gar nicht so in der Lektüre von Lenz’ Hofmeister wahrgenommen. Dieses Irreale und die eher körpersprachlich-affektiven Ausdrücke, wie sie in Form von Tagträumen, Gewaltphantasien und sexuellen Phantasien zusammenwirken, beinhalten die sprachlosen Subtexte in Lenz’ Theater. Diese Stimmung, diese Übereinstimmung dieser Ebenen ist in Lenz’ Texten auch zu finden. Für mich waren diese Ebenen, die an die Musik gekoppelt sind, sehr eindrücklich in der Inszenierung.
Geschlossene Räume
Beitrag aus dem Publikum (Johannes F. Lehmann):
In dem Radio sehe ich eine Art Reflexion auf den Text: Es sind eigentlich alles ausschließlich geschlossene Räume, Gefängnisräume: Die Schule, der Karzer, in welchen Pätus tatsächlich gesteckt wird, das Landhaus des Majors, welches vor allem für Gustchen und Läuffer ein Gefängnis darstellt – alle Figuren befinden sich immer in Gefängnissen, in geschlossenen Räumen. In der Inszenierung signalisiert für mich gerade die Schultafel einen abgeschlossenen Raum, die Schule als eine Art Gefängnis. Nur das Radio ist die einzige Möglichkeit eines Kontaktes nach Außen hin, aber nur auf einer virtuellen Ebene. Die Enge der geschlossenen Räume, wie sie in der Inszenierung geschaffen wird, produziert eine sagenhafte Intensität.
Beitrag aus dem Publikum (Marie-Christin Wilm):
Ein weiteres faszinierendes Element in der Inszenierung liegt für mich in der Verwendung des Wassers, in der Badewanne. Dem Wasser kommt erst am Ende von Lenz’ Hofmeister eine tragende Rolle zu, und zwar als Medium des Selbstmordversuchs. Im Laufe der Inszenierung erhält die Badewanne kontinuierlich eine Bedeutung: Jede Figur versucht sich zu ertränken. Die Badewanne wird quasi zum letzten Ausweg aus diesem Gefängnisraum. Es scheint, als würden die Figuren sich denken: „Das alles ist nicht auszuhalten, dann gehe ich doch lieber ins Wasser.“ Dies zeigt, dass die Verzweiflung nicht nur in den einzelnen Figuren liegt, sondern in der gesamten Gesellschaft, in der jedes Individuum mit seiner Rolle überfordert und verzweifelt ist.
Roberto Ciulli:
Die eigentlich leere Bühne spiegelt auch immer das innere Gefängnis – eigentlich erweckt eine große Bühne kein Gefängnis. Der Eindruck des Gefängnisses in dieser Inszenierung liegt in der Wiederholung der Objekte, die wir aus der Kindheit, aus der Schule, aus uns bekannten Situation kennen. In diesen Situationen scheinen wir hängen geblieben zu sein. Die Tafel, die an die Schule erinnert, und die Badewanne, die an die Tortur des Waschens in der Kindheit erinnert, sind Gefängnisse. Aber auch das Radio ist eine Art Gefängnis. Das sind vor allem innere Gefängnisse.
Die stumme Figur Leopold
Beitrag aus dem Publikum (Teresa Witte):
Ich habe eine Frage zu der Figur des jungen Schülers Leopold. Zu Beginn scheint die Rolle ja klar zu sein, da ist er in der Lehre bei dem Hofmeister Läuffer. Und da ist die Figur sehr präsent. Und sie ist auch im ganzen Stück anwesend, hat aber keinen eigenen Sprechanteil und ist mehr ein passiver Beobachter des Geschehens. Für mich war nicht ganz greifbar, was die Funktion seiner stummen Anwesenheit in Ihrer Inszenierung ist.
Helmut Schäfer:
Erst einmal hat man da ein Objekt der Erziehung. Man erlebt diesen jungen Leopold im Zusammenhang mit den Anforderungen des Vaters, des Majors. Dann ist er natürlich gleichzeitig eine Form von Kaspar Hauser: Wir hören ihn nicht, er sagt ja kein Wort in der Inszenierung, und bei Lenz sagt er bloß einen Satz. Diese Sprachlosigkeit ist sehr beredt, denn ihm wird eine Erziehung zuteil, die sprachlos macht, keine Erziehung, die ihn zum Sprechen bringt. Daher komme ich auf Kaspar Hauser, der 1828 mit einem einzigen Satz auf den Marktplatz von Nürnberg kam, „A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is“. Diesen Satz hat man Leopold auch noch ausgetrieben, wenn er ihn überhaupt hatte. Das ist für mich insofern ein wichtiges Motiv, das mit dieser Figur sich verbinden lässt, das aber durch die ganze Inszenierung gedacht ist, nämlich die Folgen des Protestantismus, der in dem Stück immer anwesend ist. Der Protestantismus ist ja, vor allem zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in sehr viele Sekten übergegangen, also nicht nur die großen Sekten wie die von Calvin und Zwingli et cetera, und das hat natürlich enorme Folgen gehabt. Dieser Protestantismus führt, wie Max Weber es in seinem Buch über die Entstehung des Kapitalismus durch den Geist des Protestantismus beschreibt, zu einer Situation, in der das Subjekt sich permanent selbst erzieht. Und das ist ein zum Teil grausiges Geschehen gewesen, wenn Sie sich historische Berichte ansehen, da die Entlastung, die es im Katholizismus zuvor immerhin noch durch die Beichte gegeben hat, im Protestantismus wegfällt; hier machen Sie alles mit sich selbst aus. Und diese schwarze Linie mündet dann in einer solchen Figur wie diesem nicht sprechenden Leopold, dem noch der letzte Buchstabe abhanden gekommen ist.
Roberto Ciulli:
Ich finde immer, wenn eine Figur so gekappt wird, schon am Anfang, stellt sich auch die Frage, wie es möglich ist, sie zu verlängern. Und in einer solchen Konstruktion zwischen real und irreal zu verorten. Der Film I bambini ci guardano [Die Kinder beobachten uns] von Vittorio De Sica erzählt davon, dass die Kinder immer dabei sind, auch im Schlafzimmer, und zuschauen. Und diese Vorstellung ist eine, die auch in Lenz’ Welt des Hofmeister enthalten ist: es schaut immer auch ein Kind zu. Beispielsweise wenn der Hofmeister sich kastriert, ist ein Kind dabei, schaut zu, hat es gesehen. Und das erzählt wie I bambini ci guardano von einer Verantwortung, die aus dieser Anwesenheit entsteht.
Judith Schäfer:
Was mich an der Figur Leopold auch interessiert, ist das hohe szenische Bewusstsein, das Lenz offenbar hat, dass es sich hierbei nicht nur um einen Lesetext handelt. Er schreibt eine Figur, die man schnell überliest, weil sie eben nichts sagt. Es gibt sie fast nur im sogenannten Nebentext, der im Lesen ja oft auch nur überflogen wird. Dabei ist er so ein wesentliches Element, da er auf einer anderen Ebene etwas erzählt, indem eben keine Figurenrede zur Verfügung gestellt wird, und das tritt durch Eure Inszenierung auch ins Bewusstsein.
Roberto Ciulli:
Darin liegt wirklich die große Modernität von Lenz. Diese Vorstellung, die er von Theater hat, reicht bis in die Moderne, nicht nur wegen des Fragmentarischen. Da ist ein Autor und da ist sein Text mit einer ungeheuren Qualität, und auf der anderen Seite ist der Regisseur, der es mit einem Theatertext zu tun bekommt, der umzusetzen seinerzeit schwierig war und einige Jahrhunderte voraus denkt. Für mich als Regisseur ist Lenz sehr modern, weil er seinen Text wie einen ‚Vortext‘ behandelt: Der Text wird gewissermaßen ein Prätext. Für uns ist das heute deutlich, unser Verständnis von einem Text für das Theater ist der eines Prätextes. Im Italienischen ist pretesto etwas, das ich brauche, um etwas zu verändern. In unserem Zusammenhang finde ich interessant, dass man im Theater keinen Text oder keine Literatur braucht, aber ich brauche einen pretesto für mich, um etwas in Gang zu bringen. Und ich glaube, das steht in Einklang mit einem Verständnis von Theater, das auch Lenz oder auch Büchner hatte.
Helmut Schäfer:
Um auf Ihre Frage noch einmal zurückzukommen, kann man auch noch Folgendes überlegen: Einem konventionellen Verständnis nach kann man die Figur des Leopold streichen. Aber man kann es natürlich nicht. Man kann es deshalb nicht, weil diese Figur ja auch die Repräsentation der Generationen in sich trägt. Beim Hofmeister von Generationskonflikt zu sprechen, wäre eine Verharmlosung. Wir sind hier nicht „68“, das war etwas ganz anderes. Das wäre eine Verharmlosung. Man weiß aber nicht, was aus dieser Figur wird. Man hat einige Möglichkeiten der Vorstellung, wie sie sich vielleicht entwickelt, was aus ihr späterhin würde. Würde aus der Figur – so wie wir sie versucht haben zu erzählen – jemand, der sozusagen gegen dieses System, in dem sie großgeworden ist, opponiert? Denkbar. Oder aber ist diese Sprachlosigkeit die ewige Verdammnis?
Distanz und Nähe
Sebastian Bös:
Ich habe eine Frage zur Beobachterperspektive, die in Ihrer Inszenierung mit verschiedenen Figuren einhergeht. Da ist einerseits Leopold, der sich nur in seinen Affekten formulieren kann, auf der anderen Seite gibt es aber noch einen zweiten Beobachter, nämlich den Major von Berg, der hinten sitzt und seiner Frau und dem Grafen Wermut in einer Choreografie zuguckt, die völlig absurd ist und ins Groteske rutscht. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, denn einerseits lädt die Szene zum Lachen ein, aber andererseits gibt es da hinten diesen Beobachter. Ich fand es spannend, dass also sowohl der junge Sohn als auch dieser herrische Vater diese Beobachterposition haben, denn als ich das Stück gelesen habe, habe ich keinen Zusammenhang zwischen Vater und Sohn gesehen. Für mich hat sie nichts verbunden. Gleichzeitig zieht diese Verbindung in Ihrer Inszenierung zwei Ebenen ein: Einerseits gibt es da eine Art von sozialer Realität, die in der Beobachterposition von Major Berg ist, und andererseits gibt es dieses Groteske in der Szene zwischen Frau von Berg und dem Grafen, die in einer Choreografie festhängen.
Roberto Ciulli:
Diese Besonderheit der Figur des Grafen Wermut hat Simone Thoma gefunden, die Körperlichkeit dieser Figur. Sie ist in der Inszenierung entstanden, ohne unbedingt spezifisch genau das zu wollen.
Beitrag aus dem Publikum (Simone Thoma):
Das Stichwort der Modernität finde ich sehr wichtig und möchte das gern noch einmal aufgreifen. Sie, Herr Lehmann, haben gestern von der Distanz gesprochen, in Bezug auf den Standpunkt des Autors und die Figuren. Und dieser Blick des Kindes Leopold oder des Majors in so einer Situation … – das ist ja nicht der Ausstieg des Schauspielers aus der Rolle als Major, sondern Klaus Herzog bleibt ja in der Major-Figur und schaut quasi mit dem Blick des Majors auf diese Situation. Und Leopold ebenso. Roberto sagte, dass das die Modernität ist – das finde ich richtig. Denn diese beiden Figuren sind in bestimmten Situationen immer auf Distanz, schauen mit einer Distanz auf das Geschehen. Und das ist im Grunde auch unsere Rolle. Also sowohl wenn wir als Zuschauer im Theater sitzen, jetzt und gegenwärtig, aber auch wenn wir in die Welt blicken, sind wir, wenn man so will, verdammt auf die Position, dass wir immer Distanz nehmen zu den Dingen. Entweder aus Selbstschutz oder weil wir handlungsunfähig sind, wie auch immer. Und das schlägt die Brücke zur Modernität. Dass das bei Lenz schon die Verdammnis beinhaltet: Sowohl das Kind, das nicht handlungsfähig ist, es ist nicht einmal mündig, und dann eben dieser Major, der in so einer Situation ebenso handlungsunfähig ist.
Helmut Schäfer:
Wir haben hier eigentlich nur zwei Möglichkeiten, das Verhältnis vom Major, seiner Frau und dem Grafen Wermut zu erzählen. Das ist eben dieses zitierte Bild und dann später, wenn Major Berg kommt und erfahren hat, dass mit Gustchen irgendetwas passiert ist. Diese Distanznahme, diesen dort hinten sitzenden Major wahrzunehmen, der nicht die Fassung verliert, das ist glaube ich ein entscheidender Punkt. Graf Wermut kommt herein und wälzt sich zunächst in den Kartoffeln, dann geht er nach Vorne und schnuppert am Bett, das sind so eindeutige Zeichen, und dann kommt die Frau und es ist klar, dass sie und der Graf ein zumindest gespieltes Verhältnis haben, ein illusionäres Verhältnis. Und das erträgt der Major. Da könnte man jetzt vom christlichen Duldungsprinzip sprechen, aber da die Fassung nicht zu verlieren, gefasst zu bleiben, erzählt auch etwas über die Welt, in die wir dort hineinschauen. Und das betrifft auch Leopold, der nur selten, eigentlich nur ein Mal wesentlich, die Contenance verliert, wenn er auf Wenzeslaus einschlägt und Wenzeslaus ihn nimmt und das eher behaglich findet. Und das erzählt etwas von der Welt, von der Lenz erzählen will, wenn wir den Major von Berg in dieser Weise dort in die Betrachterrolle zwingen.
Dieser Text gibt Auszüge wieder aus dem Publikumsgespräch zur Inszenierung des Hofmeister in der Regie von Roberto Ciulii, die am 10. und 11. Mai 2007 im Theater der Stadt Duisburg Premiere feierte.
Das Gespräch fand am 9. Oktober 2016 zum Symposium Lenz-Herbst im Theater an der Ruhr statt. Es wurde moderiert von Sebastian Bös, Julia Freytag, Judith Schäfer und Louisa Schückens.