Veronika Darian und Peer de Smit eröffnen einen neuen Forschungsschwerpunkt in ihrem Sammelband Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven.
In dem Sammelband Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven (2020), herausgegeben von Veronika Darian und Peer de Smit, wird Gestisches als Bewegung ohne bekanntes oder benanntes Ziel, als Aktion oder Verhaltensweise und als Lücke oder Bruch einheitlicher Konzepte und eindeutiger Bedeutungszusammenhänge befragt. Angelehnt an Jean-Luc Nancy wird der Begriff der Geste verstanden als eine Disposition: „eine Weise, sich irgendwohin zu bewegen oder etwas kommen zu lassen, […] – einladender Wink oder Sich-entziehen [dérobade]“ (Nancy, 2014) (S. 9). Geste ist hier nicht mehr als Zeichen zu verstehen, sondern als Verhalten, als Art und Weise miteinander in Beziehung zu treten. 16 Autor*innen nähern sich ausgehend von diesem Zitat und aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage des Gestischen und stecken in einer Art Suchbewegung das Forschungsfeld der Gestischen Forschung ab.
Darian und de Smit beginnen ihr Vorwort mit einer historischen Kontextualisierung. Lange seien Gesten einem sinn- und bedeutungsstiftenden Codesystem zugeordnet gewesen, das die Rhetorik der Antike in ihrer Überzeugungskraft untermalen sollte. Diese Praxis der eloquentia corporis, der verhaltenden Beredsamkeit (Darian) setze sich in den Darstellungen des theatrum mundi der europäischen Herrscherhöfe weiter fort und wurde in Handbüchern zu höfischen Benehmen sowie auf Gemälden festgehalten, die die Angehörigen dieser Höfe in immer gleichen Posen der Repräsentation von Macht und Würde zeigten. Die Codierung des Körpers gipfelte in den Gestentafeln der Physiognomik, anhand derer körperliches Verhalten normiert, domestiziert und schließlich pathologisiert wurde (S. 9-11).
Im 19. und 20. Jahrhundert sei die Forschung über Gesten in erster Linie sozialpsychologisch ausgerichtet gewesen und Gesten wurden als kulturabhängige und durch Sozialisation bedingte nonverbale Zeichen der Kommunikation gedeutet. Erst mit Theoretikern wie Maurice Merleau-Ponty, Giorgio Agamben, Roland Barthes, Jean-Luc Nancy und im besonderen Maße Walter Benjamin rückte die Geisteswissenschaft von dem Verständnis der Geste als entzifferbares Zeichen ab. Geste wurde als Unterbrechung von linearen, chronologischen, kausalen und teleologischen Erzähl- und Forschungszusammenhängen bestimmt. An dieses Denken knüpft der vorliegende Sammelband an (S. 14).
Die Autor*innen des Bandes setzen sich in ihren Texten von der in der Theaterwissenschaft breit vertretenden und von Erika Fischer-Lichte prominent gemachten Deutungsweise der Geste als Zeichen ab (S. 14). Stattdessen möchten Sie eine Gestische Forschung initiieren, die den Schwellencharakter von Gesten, ihre Vagheit und Undefinierbarkeit miteinbezieht und auch das eigene Scheitern, die sprachlich mögliche Unmöglichkeit des Schreibens über Geste, mitthematisiert. In diesem Verständnis liege das Potenzial das Gestische von der Geste als Zeichen zu emanzipieren. Ausrichtung und selbsterklärtes Ziel des Bandes sei es, Gestische Forschung nicht von der Geste, sondern vom Gestischen und dessen Potenzialen aus zu denken und nicht über Gesten zu arbeiten, sondern mit ihnen; Gestisches solle als Praxis beziehungsweise als Bündel von Praktiken begriffen werden (S. 15).
Gestische Forschung sei hier als transdisziplinäre Perspektive zu verstehen, die sich aus jeder fachlichen Disziplin oder künstlerischen Praxis heraus öffnen könne. Die Autor*innen der Essays kommen dementsprechend auch nicht ausschließlich (wenn auch maßgeblich) aus der Theaterwissenschaft, sondern bringen mit Angelika Jäkel als Architektin, Melanie Haller als Kultursoziologin und Michael Wehren als Künstler der freien Performancegruppe friendly fire andere Perspektiven und Disziplinen mit ein. Eiichirô Hirata, Professor am Institut für Germanistik an der Keio-Universität in Tokio, erweitert den ansonsten aus deutschen Autor*innen bestehenden Kreis um eine japanische Perspektive. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslagen konzentriere sich der Band, wie die Herausgeber*innen in ihrem Vorwort betonen, auf künstlerische, ästhetische und erkenntnistheoretische Bezugsfelder (S. 15). Hiermit stellt sich die Frage, inwiefern die Gestische Forschung tatsächlich als transdiziplinär hervorzuheben ist oder, ob eine sich als kritisch verstehende Theaterwissenschaft nicht per se immer schon über das Theater im Sinne seiner Aufführung hinausdenkt und gesellschaftliche, politische, historische, ästhetische und philosophische Fragestellungen zusammenbringt.
Unterbrochen werden die 16 Artikel des Bandes durch die sogenannten Echo-Graffitos Rée de Smits, die in ihrer Ästhetik und in ihrem Einsatz an Grafiken Cy Twomblys in Roland Barthes Buch Das Reich der Zeichen (1981) erinnern. Mit ihnen soll versucht werden, die im wissenschaftlichen Diskurs nicht sagbaren Dimensionen des Gestischen graphisch als Spur nachzuzeichnen.
Der Sammelband ist in fünf Unterkapitel unterteilt, denen jeweils zwei bis fünf Artikel zugeordnet sind. Im ersten Kapitel „Gestisches Denken, gestisch forschen“ (S. 33-77) ordnen Fabian Goppelsröder und Veronika Darian das Feld der Gestischen Forschung begrifflich und als philosophische Denkrichtung ein. Goppelsröder stellt die Geste als Paradigma eines nicht-objektivierenden Denkens heraus, da sie die Grenzen zwischen Zeichen und Bezeichneten verwische und im Uneindeutigen verbleibe. Der Autor sieht hierin eine Chance für, wenn nicht gar eine Forderung an eine philosophische Denkweise, die sich gegen kategoriale Begriffssysteme und die Behauptung von objektiven Wahrheiten und logischen Eindeutigkeiten wende (S. 40-46). Auch Darian versteht Gestische Forschung als Widerstand gegen hegemoniale Machtstrukturen, die sich aus solchen kategorialen und normativen Zuordnungen speisen, und bezieht ihre Position als Forschende sowie die daraus resultierende Verantwortung mit ein. Sie stellt sich einer Aufgabe: Die Offenlegung des Verstricktseins als Forscherin in die eigenen Forschungsgegenstände. Mit Bezug auf Gayatri Spivak, Judith Butler und Bertolt Brecht macht sie deutlich, dass die Hervorhebung der eigenen Verortung, in ihrem Fall als weibliche, weiß und westlich sozialisierte Akademikerin grundlegend für die Haltung der Gestischen Forschung sei (S. 49). In diesem Sich-ins-Verhältnis-Setzen liege die Möglichkeit der Ansprache des*der Anderen und seiner*ihrer Affizierung ohne seine*ihre Herabsetzung durch ein souveränes Forschungssubjekt (S. 70). Vielmehr biete die Offenlegung der eigenen Position auch die Möglichkeit des Widerspruchs durch die lesende oder zuhörende Person, als auch der Selbstreflexion des*der Forschenden. In dieser Wechselseitigkeit liege der Kern der Gestischen Forschung und auch das Ziel des Sammelbandes, in dem Sinne, dass Darian Gesten des Forschens, als Gesten einer kommunikativen und gegenseitigen Bezugnahme, als Aushandlung und Beziehungsstiftung sowohl zwischen dem*der Forschenden und dem Forschungsgegenstand, als auch zwischen dem*der forschenden Schreibenden und dem*der Lesenden versteht (S. 70-77). Darian nimmt in ihrem Text den eingangs zitieren Gedanken Nancys, Geste als Disposition zu fassen, in dem Sinne ernst, als dass sie das Verhältnis zwischen sich als Forschender und ihren Forschungsgegenständen selbst als gestisch versteht, als ein gegenseitiges Annähern, ins Verhältnis setzen und das eigene Denken immer wieder in Frage stellen.
In den Kapiteln II—IV („II Gestisches in Sprache, Schreiben, Aufzeichnen“ (79-153); „III Gestisches in situ“ (155-190); „IV Gestisches Aneignen, gestisch agieren“ (195-281)) untersuchen die Autor*innen unterschiedliche Felder in denen ihnen Gestisches begegnet. Die Bezüge sind vielfältig, weshalb hier auch nur in Kürze auf einzelne Texte eingegangen werden kann. So fragt de Smit (Kapitel II) nach gestischer Poetologie, tritt in einen Dialog mit seinen eigenen Texten und Gedichten Paul Celans und zeigt in diesen die Brüche innerhalb von Sprache auf, durch die Unsagbares sagbar wird. Isa Wortelkamp (Kapitel II) schreibt über Choreografien Anne Teresa De Keersmaekers und fragt inwiefern sich das Gestische des Tanzes im Schreiben über die Bewegung weiter als Geste im Schreiben fortsetzt. Anhand der Performance Violin Phase (1982) untersucht sie die von einer im Sand tanzenden Tänzerin hinterlassenen Spuren. Durch Wiederholung der Bewegungen werden die Spuren im Sand immer wieder nachgezogen. Gleichzeitig werden die alten Spuren im Sand verwischt oder überschrieben. Wortelkamp interpretiert diese Spuren als eine Art Tanz-Schrift und überträgt das Vorgehen des Schreibens und Überschreibens der Spuren im Sand auf den Vorgang des Schreibens eines wissenschaftlichen Aufsatzes über eine zuvor gesehene Performancearbeit. Auch im Schreiben über eine Performance, erst auf Zetteln während und direkt nach der Performance und schließlich in einem ordnenden Prozess innerhalb des vorliegenden Artikels, gebe es einen Prozess des Schreibens und Überschreibens von Gedanken. Das Gestische sieht Wortelkamp im sich daraus neu Entwickelnden, welches durch das Weiter- und Fortschreiben, aber nie vollständige Überschreiben der zuvor gelegten Spuren entstehe (S. 152f.).
Angelika Jäkel (Kapitel III) beschreibt in ihrem Artikel Architektur als Geste. Architektur trete mit dem sich in ihr bewegenden Körper in Beziehung und lege bestimmte Verhaltensweisen nahe, hierbei sei Architektur zumeist auf Funktionalität ausgelegt (S. 161-163). Jäkel ist hierbei eine der wenigen Autor*innen, die Geste nicht nur als Unterbrechung von normativen und kategorialen Denkmustern versteht, sondern Gesten im architektonischen Kontext als den Körper und seine Bewegungen beeinflussend und regulierend wahrnimmt. Sie beschreibt Geste als etwas, was Zugänge gewährleistet oder verunmöglicht (S. 171). Diese eher negative Lesart von Geste als normierend ist im Sammelband eine Ausnahme.
Inwiefern gestische Praxis zur Umwandlung und Irritation von nationaler Geschichtsschreibung, die auf der Narration der Sieger beruht, führen kann, diskutiert Micha Braun mit Bezug auf Karl Marx und Benjamin. Gestisches Umgehen mit Geschichte bedeutet hier Geschichte als Netz heterogener und sich widersprechender Narrationen und Erfahrungen aufzufassen und als Möglichkeit nationale und identitätsstiftende Geschichtsschreibungen zu unterlaufen, zu unterbrechen oder mindestens zu irritieren (S. 221-226).
Im fünften Kapitel „Gestisches Forschen in actu“ (283-339) schreiben hingegen die Autor*innen stärker aus der eigenen Praxis heraus. Rée und Peer de Smit berichten über ein Studierendenprojekt mit Angehörigen einer psychiatrischen Klinik, in dem Geste in besonderer Weise an ein In-Beziehung-Treten geknüpft war (S. 301-323). Ulrike Haß und Sven Lindholm denken über Szenische Forschung als Geste nach und landen schließlich bei der Bestimmung von Szene als gestenhaft. In dem Moment, in dem eine Szene von einer unabsehbaren Dynamik geprägt sei in der die sich in der Szene befindenden Personen und Objekte sich gegenseitig in ihrem Miteinanderagieren bedingen, kann von ihr als gestisch gesprochen werden (S. 338f.). Dieses Einanderangehen, die Anteilnahme, das Miterzeugen einer Situation durch alle beteiligten Komponenten mache die forschende Szene aus (S. 335 u. 339) – eine Überlegung, die zum Ende des Bandes einen Bogen zu seinem Beginn schlägt, wo Darian die Offenlegung der eigenen Position in die Forschungsgegenstände und deren Öffnung für den*die Andere*n als ethische Haltung der Gestischen Forschung fordert.
In besonderer Weise fällt der Essay Michael Wehrens auf, der sich mit seinem eigenen nächtlichen Schreiben und seinem Annähern an Themen auseinandersetzt, die er später auf der Bühne mit der freien Performancegruppe friendly fire verhandeln wird. Es handelt sich um einen literarischen Text, der in seiner Fragmentierung und Sprunghaftigkeit wie eine Übung der Gestischen Forschung als Praxis funktioniert. Wehren legt in seinem Text die Vorgehensweise sowie die Schwierigkeit des Anspruchs des Sammelbandes Praktiken und Perspektiven der Gestischen Forschung zu formulieren, offen. Er schreibt:
Das Gestische, so können wir schließen, ist ein Zerfallsphänomen. Wo das Ganze zerbröckelt, […] dort tritt das Gestische hervor. […] Gestisch forschen bezeichnet also ein Arbeiten, das riskieren muss, sich selbst und auch seine Aussagen, und zwar auf der Basis von Bruchstücken und Teilen. Es kann, was es tut, nicht unendlich absichern, sondern entschließt sich, im besten Falle fröhlich, sich zu veräußern. Es geht von Gegenständen, Details und Situationen aus, von Fundstücken und Splittern […]. (S. 293f.)
Auch hier taucht das bereits an mehreren Beispielen verdeutlichte Denken des Gestischen als Bruch und Lücke von einheitlichen Denkmustern auf. Das hier von Wehren beschriebene Material und die Ausgangslage der Gestischen Forschung sind Fundstücke, Splitter, Details, Gegenstände und Situationen. Dinge, die irgendwie unzusammenhängend miteinander kombiniert und in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung diskutiert werden. Die zentrale Frage des Sammelbandes ist in Bezug auf dieses Material, inwiefern bruchstückhafte, auf Lücken basierende Beziehungsnahmen als Methode der Gestischen Forschung gedacht werden können. Was unter dem Blickwinkel dieser Methode betrachten wird, ist hierbei offen. Gestisches wird im Sammelband überall gesucht, auf Plakaten, in der Mode, in der Architektur, natürlich auch auf der Bühne. Hierbei verliert die Perspektive der Gestischen Forschung jedoch durch die häufige Kürze der Artikel ihre eigentliche Richtung. Was macht die Gestische Forschung aus, worin unterscheidet sie sich von anderen Überlegungen der Theaterwissenschaft zur Geste in Anlehnung an Brecht, Agamben und Benjamin? Forschen heißt differenzieren, betont Lindholm (S. 328). Doch worin besteht die Gestische Forschung, auf welche Art und Weise charakterisieren sich ihre Praktiken und Perspektiven?
Die Antwort auf diese Fragen findet sich am Ende des Bandes vielleicht durch den von Haß und Lindholm geschlagenen Bogen an den Anfang des Bandes. In Darians Forderung, Forschung als Geste zu verstehen, worunter sie die Offenlegung der eigenen Position im Forschen und das Einstehen für den eigenen Forschungsschwerpunkt versteht, liegt die ethische Haltung der Gestischen Forschung. Die Unsicherheit und Offenheit, die sich ergibt, wenn wir ernsthaft mit Selbstkritik an unsere Fragen rangehen, ermöglicht die Gestische Forschung als eine Forderung für eine Philosophie zu deuten, die sich von der Philosophie als logisches Schlussfolgern absetzt. Dieses Denken ist in der Theaterwissenschaft in Anlehnung an poststrukturalistische Perspektiven nicht vollkommen neu, aber es verdeutlicht erneut die Verantwortung, die wir als Forschende tragen und die darin liegenden Möglichkeiten im Sinne einer Beziehungsnahme zum*zur Anderen, wenn wir uns selbst als Fragende ins Schwanken begeben. Vielleicht liegt hierin das von Wehren formulierte Risiko, die Möglichkeit sich zu veräußern, ohne sich abgesichert zu haben, die Freiheit des Denkens ohne festen Grund.
Veronika Darian und Peer de Smit: Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven. 2020Neofelis Verlag Berlin. Mit Beiträgen von Micha Braun, Till Boettger und Martina Reichelt, Fabian Goppelsröder, Ulrike Haß und Sven Lindholm, Melanie Halle, Eiichirô Hirata, Jessica Hölzl, Angelika Jäkel, Michael Renner, Rée de Smit, Michael Wehren (friendly fire), Maren Witte und Isa Wortelkamp.