REZENSION | Regisseur_innen: Genese einer Künstlerfigur

Eine Rezension von Denis Hänzis 2013 erschienener Studie Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie.

Welche Erkenntnisse kann ein Soziologe über die Arbeit von Regisseur_innen gewinnen, fragte sich die Theaterwissenschaftlerin, die ich bin. Denis Hänzi entgeht diese Problematik, denn ihm geht es weniger um die künstlerische Arbeit als vielmehr um deren Auffassung und Bewertung im Hinblick auf historisch-gesellschaftliche Aspekte.

Forschungsgegenstand Regie
Ziel der Studie ist es, „die Entwicklung des Theaterregisseurs zur distinkten Künstlerfigur“ (24) zu vermitteln. Unter dem vierfachen Gesichtspunkt der Kultur-, Geschlechter-, Berufs-, und Kunstsoziologie sucht Hänzi „jene überindividuellen Logiken“ (26) greifbar zu machen, die dem Theater zugrunde liegen. Angelehnt an Bourdieus Habitus- und Feldkonzepte untersucht der Autor den Regieberuf als wechselseitige Bedingtheit zwischen dem Feld Theater und den einzelnen primärsozialen Positionierungen der Regisseur_innen, das heißt etwa, wie sie situiert werden und sich selbst im Hinblick auf soziale Kategorien verhalten (zum Beispiel Klasse, Rasse, gender, Alter etc.). Ausgehend von der These, dass der Regieberuf eine „intermediäre[] Position“ im Feld Theater einnimmt, arbeitet Hänzi heraus, das was er „Strukturierungsmomente“ (24) nennt. Es sind jene historischen Zeitspannen und Wellen, in denen das künstlerische System Theater, wie es heute in Erscheinung tritt, als normatives beziehungsweise normierendes Regelungsensemble hervorgebracht und stabilisiert wird. Dieses System nennte er „die Ordnung des Theaters“ (24). Angelehnt unter anderem an Ilse Seglows Beitrag „Work at a research program“ (1977) und Bourdieus Die Regeln der Kunst (1992) fragt Hänzi nach den feldrelevanten Kapitalien und habituellen Eigenschaften von Regisseur_innen im Kampf um künstlerische Anerkennung. Diese Fragen sind insofern von besonderer Relevanz, weil sie sich zum einem auf weitere elitär gewordene Kunstbereiche wie Tanztheater, Musiktheater, Performance Art oder bildende Künste anwenden lassen und zum anderen Erkenntnisse der Tanz-, Musik- und Theaterwissenschaft ergänzen beziehungsweise deren analytische Instrumentarien erweitern.

Hänzi teilt seine Studie in vier Felder, die jeweils weniger eine Problematik als vielmehr eine Perspektive darstellen. Im ersten Teil „Entwicklung und Verworrenheiten der Theaterregie“ analysiert er die Herausbildung des „idealen Regisseurs“ und fasst Tendenzen des Regietheaters seit dem zweitem Weltkrieg zusammen, bevor im zweiten Teil „Spielfeld, Spielgeld & Co“ auf die konkrete Schaffens- und Produktionsbedingungen eingegangen wird. Im dritten Teil „Geheiligt werde Dein Name“ fragt der Autor nach den institutionellen Logiken und konsekrativen Vorgängen, nach denen Regiearbeit und Regisseur_innen sakralisiert werden. Im vierten und letzten Teil „Disposition und Passungsverhältnisse“ führt Hänzi Interviews mit 22 zeitgenössischen Theaterregisseur_innen des deutschsprachigen Raums. Hier wird der Frage nachgegangen, wie soziale und familiale Herkunft, (Aus-)Bildungswege und Anfangskontext die künstlerische Praxis prägen.

Historiographie der Regie und der Produktion
Für ein Fachpublikum dürfte der erste und zweite Teil am wenigsten erkenntnisreich sein. Gestützt auf Arbeiten von unter anderem Dorothea Kraus, Christopher Balme, Andreas Kotte und Erika Fischer-Lichte rekonstruiert Hänzi eine Chronologie der prägnanten Regisseur_innen seit 1800. Ausgehend von zwei Figuren jeweils um 1800 und um 1900 untersucht der Autor parallel laufende Entwicklungen im Westen und Osten Deutschlands bis zur Wiedervereinigung. Als erste Figuren distinguiert Hänzi den „Ordnungshüter“, die „Autorität verströmende Persönlichkeit“ und das „männliche Originalgenie“ (Gründgens) einerseits, und den „Tyrann“ oder die „Erlöserfigur“ mit seinem Gefolge (Piscator, Reinhardt), die es verstand Person und Werk eng miteinander zu verkoppeln (Jessner) andererseits. In den 50er-Jahren garantiert Gründgens in Düsseldorf für die personale und künstlerische Kontinuität mit der Theaterpraxis der NSDAP. Hier treten die Begriffe Werktreue und Kunstfreiheit jeweils als Inszenierungspraxis und ostentative formale Abgrenzung gegenüber den Interessen des Staates hervor. In den 60er-Jahren grenzt sich eine neue Generation von dieser Theaterauffassung ab. Persönlichkeiten wie Stein, Neuenfels, Zadek oder Löffler knüpfen an Ansätze von Brecht, Jessner und Piscator an und politisieren das Feld Theater durch gezielte Themenauswahl, kollektive Arbeitsweise und neuartige Inszenierungspraktiken. In den 70er-Jahren findet ein exponentielles Wachstum von so genannten gesellschaftlichen Themen statt. Theaterhäuser und Regisseur_innen beider Seiten suchen sich durch Themenfelder, Ensemble oder Arbeitspraktiken zu profilieren. Kanonisierungsprozesse finden durch eine wachsende Personifizierung und Spezifizierung der Regisseur_innen statt, die den eigenen Stil weniger durch künstlerische Autonomie als vielmehr über die Abgrenzung zu den Kolleg_innen beziehungsweise über Selbstreferenzialität erwerben.

Im zweiten Teil untersucht der Autor die Bedingungen und Strukturen der Kulturproduktion. Dabei stellt er drei Fragen: Wie entsteht die Hierarchisierung der Spielorte? Welche strukturellen Veränderungen finden im spezifischen deutschsprachigen Theater statt? Und: Welchen Einfluss üben Schulen aus? (25). Auch wenn keine neuen Erkenntnisse skizziert werden, dienen der erste und zweite Teil als informative Einführung in die Welt des Regietheaters. Ergänzend dazu sei an dieser Stelle der neu erschienene Band Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, herausgegeben von Wolfgang Schneider (2013), erwähnt.

Charisma versus Präsenz
Mit Blick auf das Feld des Theaters kann etwa in der Institutionalisierung einer Schule, die auf einer mit einer konkreten charismatischen ‚Stifterpersönlichkeit‘ verbundenen Idee dessen beruht, was wahres Schauspiel oder richtige Regie ausmacht, als Herausbildung eines solchen sozialen „Dauergebildes“ begriffen werden. (35)

Angelehnt unter anderem an Theorien von Max Weber („charismatische Herrschaft“ 1988 [1922]), Winfried Gebhardt („institutionalisiertes Charisma“ 1993), Ulrich Oevermann („Quelle zur Krisenlösung“, „Handlungsinstanz“ 1999) und Peter Schallbergers („charismatische Grundstruktur“ 2004) versteht Hänzi unter Charisma „eine spezifische habituelle Disposition, deren Genese und Entfaltung von bestimmten Bedingungen und Prozessmustern der Individuation abhängt“ (41). Gestützt auf Schallbergers Motivlagen am Beispiel von Denk- und Handlungsstilen junger Unternehmensgründer_innen – nämlich „eine subversive, autonome, kompensatorische, explorative, narzisstische Motivelage“ und eine „rein charismatische Handlungsorientierung“ (41) – fragt sich Hänzi warum der Regieberuf vom Typus des „kompletten Charismatiker[s]“ (41) absorbiert sei. Von dorther untersucht der Autor zum einen unter welchen Bedingungen ein ausgeprägtes charismatisches Selbstvertrauen ausgebildet wird und zum anderen wie „die Aneignung eines spezifischen handlungsleitenden […] Wissens und mögliche Arten und Formen des ‚Einsatzes‘ spielrelevanter Ressourcen“ (42) entstehen kann.

Die Einführung des soziologischen Begriffs „Charisma“ erweist sich aus theaterwissenschaftlicher Sicht als interessante Kategorie um Subjekte auf historisch-gesellschaftlicher Ebene einerseits und phänomenologisch-performativer Ebene andererseits aufzufassen. Dadurch wird eine Brücke zwischen dem phänomenologisch-performativen Begriff der Präsenz und dem soziologisch-habituellen Positionierungsbegriff geschlagen. Denn obwohl Erika Fischer-Lichtes beziehungsweise Sibylle Krämers dreiteilige Auffassung der leiblichen Präsenz als das schwache Konzept von Präsenz (der Körper als Quelle für die Wirkung der Aufführung, wobei von einem Verführungsverhältnis zwischen Zuschauer_innen und Schauspieler_innen ausgegangen wird), das starke Konzept (in Bezug auf die besondere Beherrschung des Raumes, wodurch Schauspieler_innen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen) und das radikale Konzept (der Moment, an dem Körper und Geist als embodied mind vereinigt in Erscheinung treten) eine theaterbezogene Bedeutungserzeugung zu erklären vermag, ist der Begriff im Bezug auf gesellschaftliche Positionierungen – Klasse, Rasse, gender, Alter – unbrauchbar.

Sakralisierung: Prozesse und Hintergründe
Im Gegensatz zu dem ersten und zweiten Teil, die an ein soziologisches beziehungsweise theaterinteressiertes Publikum adressiert sind, dürften sich der dritte und vierte Teil sowohl für versierte Praktiker wie Sänger_innen, Schauspieler_innen, Tänzer_innen, Performer_innen als auch für Kunst-, Kultur- und Theaterwissenschaftler als besonders erkenntnisreich erweisen. In „Geheiligt werde Dein Name“ zeigt der Autor institutionelle Hierarchisierungs-Mechanismen auf. Am Beispiel von Auszeichnungen für Schauspiel, Regie und Theaterhäuser sowie Studiengänge und Nachwuchsförderung werden Strukturierungsprinzipien wie Geltungsproduktion, Formen der Huldigung und Kriterien der künstlerischen Qualität offen gelegt. Ohne die künstlerische Arbeit auf ausschließlich soziokulturelle Kriterien reduzieren zu wollen, schafft der Autor einen eingängigen Überblick über Grundstrukturen und Prozesse der Sakralisierung.

Es ging mir bei der Auswahl der Interviews […] darum, anhand exemplarischer Fälle in Erfahrung zu bringen, inwieweit unterschiedliche familiale und milieuspezifische Sozialisationsbedingungen und also disparate herkunftsbedingte Startausstattungen mit die Art und Weise zu erklären vermögen, wie sich die Regisseurinnen und Regisseure in dem künstlerisch-beruflichen Bewährungsuniversum des Theaters bewegen und wie sie – unter Einsatz welcherart feldrelevanter Ressourcen – ihren künstlerischen Ambitionen nachgehen. (342)

So eröffnet der Autor den letzten und interessantesten Teil seiner Abhandlung, „Disposition und Passungsverhältnisse“. Ausgehend von den sozialen Unterschieden von 22 interviewten Regisseur_innen arbeitet Hänzi zwei differenzierende Kategorien heraus: Klasse und gender. Am Beispiel von Heribert Stark und Dagmar Kleinfeld zeigt er, wie Regisseur_innen aus einer „bäuerlich geprägte[n] Familie“ über ein „ausgeprägtes Autonomiestreben“ verfügen und schließt auf ihre besondere Fähigkeit zum zweifachen Blick, der zum einen in einer konkreten „Arbeiterinnensicht“ und zum anderen einer abstrakten „Künstlerinnenperspektive“ (349) bestünde. Zur Illustrierung von Regisseur_innen aus Akademiker- und Unternehmer- Familien stützt er sich auf Gilles Flink, Ingeborg Nagel, Greta Hopf und Clemens Kirch. Hier schließt der Autor auf eine „habituelle Gelassenheit und konversationelle Sicherheit“(360) sowie auf eine größere Definitionsmacht der Männer.

Zum Schluss fasst Hänzi Wandlungstendenzen der heutigen Ordnung des Theaters zusammen als eine Ersetzung der Bewahrung von Kunstschaffen durch „aufmerksamkeitsökonomische Aspekte“ (415). Hier herrscht die Erfolgskultur „aus der Welt der Kulturindustrie, des Spitzensports oder der Finanzwirtschaft“ (416) und alteriert sowohl die Produktion als auch die Auffassung von Theater – zum Beispiel „Jungendwahn“ im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität, Kreativität oder Bewunderungskultur. Seit den 90er Jahren nehmen „originelle“ Regiegenerationen die Form eines Showrooms an, „bevor sie sich überhaupt als legitime Künstlerinnen und Künstler hätten unter Beweis stellen können“ (416). Regie-Wettbewerbe und -Preise dienen dabei als stabilisierende und normierende Instanzen, indem sie Kriterien und die „Logik einer Konsekration“ (416) festlegen.

Bilanz
Hänzis Arbeit weist problematische Aussagen auf (etwa die Teilung zwischen Arbeiter_innen-Sicht und Künstler_innen-Perspektive wobei Arbeiterschichten das Abstraktionsvermögen scheinbar selbstverständlich abgesprochen wird, oder etwa der Untertitel „Wer hat Angst vor dem dicken, fetten Regisseur“ in Anlehnung an ein fragwürdiges Spiel aus der Kolonialzeit Deutschlands). Die Schlüsseltermini sind leider oft unzureichend erläutert. So kommt die Ordnung fast ohne Foucault aus, der ideologielastige Begriff der Disposition wird nicht kontextualisiert, der Begriff Positionierung wird ohne Rekurs auf die aktuelle Forschungslage behauptet, sodass prägende Erkenntnisse unter anderem aus der kritischen Weiß-Sein-Forschung und Intersektionalität schlicht ausgelassen wurden.

Anders die Erkenntnisse zur Konstitution des Regieberufs als steter Re-Charismatisierung viriler Genialität in Abgrenzung zum parallel konstruierten Bild einer essentialisierten reproduktiven „ewige[n] Schauspielerin“ (150). Gelungen ist, dass die Erkenntnisse dieser Abhandlung sowohl für ein Fachpublikum als auch für ein interessiertes Laienpublikum von Relevanz sein können. Gut dokumentiert, klar strukturiert, auf viele anerkannte Referenzen rekurrierend, informative Fußnoten, sorgsame Übergänge und Zusammenfassungen am Ende jedes Teils: Denis Hänzis Dissertationsarbeit entspricht formal geradezu musterhaft der Regel einer akademischen Arbeit. Die schlichte Sprache macht die anspruchsvolle Abhandlung doch zugänglich und für ein breites theaterinteressiertes Publikum lesenswert.

Denis Hänzi. 2013. Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. Bielefeld: Transcript.

Daniele Daude, Dr., promovierte 2011 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und am Institut für Musikwissenschaft der Université Paris 8 zum Thema „Opernanalyse als Aufführungsanalyse“ (Transcript 2014). Sie lehrt seit 2008 an deutschen und französischen Hochschulen (Humboldt Universität zu Berlin, Universität der Künste, Campus Caraibéen des Arts) und forscht zu den Themen Geschichte der Opernregie, Opernanalyse, Theatersemiotik und Theorie des Performativen. Neben opernanalytischen Abhandlungen und zahlreiche Inszenierungs- und Aufführungsanalysen verfasste sie Bücher-, und Film-Rezensionen, Übersetzungen und Essays. In ihrem nächsten Forschungsprojekt „(Musik)TheaterMachtIdeologie” befasst sich Daude mit performativen Praktiken als Subjektivationsprozesse und Orte zur Generierung von Ideologie.

WESTEND

1.

Als Einar Schleef am 21. Juli 2001 starb, war ich im 2. Semester und kannte seinen Namen nur vom Hörensagen, eine Inszenierung hatte ich nie gesehen. Ich hatte jedoch das Glück, an einem Experiment teilnehmen zu können, das den Versuch unternommen hat, Schleefs Theaterauffassung erfahrbar zu machen. Es zielte allerdings nicht darauf ab, seinen Formenkanon eins zu eins nachzustellen, sondern sich in der Form zu bewegen, die Schleef wohl am meisten bewegt hat: in der des Chores. Resultat dieses Experiments war die Chortheater-Produktion WESTEND.
Für die Textgrundlage von WESTEND erarbeiteten Studierende einen Fragebogen, der sich mit dem Ruhrgebiet als unserer Umgebung beschäftigt. Aus den über 200 Rückläufen entstand ein Textkorpus, der mit Bergmannsliedern, Gedichten und Texten rund um das Ruhrgebiet und den Bergbaumythos ergänzt und erweitert wurde. (Unter 8. und 9. können zwei ausgewählte Fragebögen zum Thema „Textproduktion“ eingesehen werden.) Auf der Grundlage dieser Vorarbeit formierte sich unter der Leitung von Gotthard Lange, einem ehemaligen Chorführer von Einar Schleef, ein 22-köpfiger Chor aus Studierenden der Theaterwissenschaft.

2. Viele Stimmen, eine Sprache

WESTEND ist schon in seiner Anlage ein vielstimmiger Text, ein Querschnitt durch die Befindlichkeiten von Ruhrgebietsbewohnern und ihren Wahrnehmungen von der Landschaft sowie dem sozialen und kulturellen Umfeld, in dem sie leben. Der Text versucht, diese Vielstimmigkeit durch die Komposition verschiedener individueller Stellungnahmen zu erfassen, um eine Region beschreibbar zu machen, die in ihrer Pluralität und Unbestimmtheit kaum darstellbar ist.

Fragt man Menschen von außerhalb, wo sie am liebsten leben würden, wird das Ruhrgebiet kaum genannt werden. Der schlechte Ruf der Region, das Land sei zerstört, die Städte häßlich, hält sich hartnäckig, allen regionalen Imagepolituren zum Trotz. Mit Unverständnis und Kopfschütteln reagiert die Außenwelt auf den Lokalpatriotismus vieler Ruhrgebietsbewohner. Ein derartiges Zugehörigkeitsgefühl kennt zwar jede Region, ist aber im Ruhrgebiet schwer nachzuvollziehen. Denn da, wo andere ihren Stolz aus regionalen Besonderheiten wie reizvollen Landschaften oder örtlichen Delikatessen ziehen, müssen die Ruhrgebietler die Vorzüge ihrer Region Außenstehenden gegenüber oft erst verteidigen. Denn die einstige Spezifik der Region, der Bergbau, der Mythos rund um Kohle, Koks und Stahl, wurde schon vor langer Zeit entmystifiziert und verschwindet unaufhaltsam. Alle Aufwertungsversuche, wie die Hervorhebung des dichten Städtenetzes, der Industriekultur und der landschaftlichen Schönheit entlang der Ruhr, wirken im Rahmen dieses Verfallsprozesses hilflos. Auch wenn die Vorurteile bezüglich der Unattraktivität und Verschmutzung der Region eng mit dem Bergbau verbunden sind, so bleiben Bergmannsmythos und Arbeitermentalität nach den Werksschließungen dennoch die wichtigsten Quellen der Identifikation. Gerade deshalb erscheint das Zugehörigkeitsgefühl der Ruhrgebietler zu ihrer Heimat in besonderer Weise sprachlos zu sein, insofern es sich auf etwas bezieht, das kaum noch existiert.

Plötzlich wurde das schwarze Gold in fossile Brennstoffe umbenannt, sein Vorkommen als endlich und sein Abbau als unrentabel bezeichnet. Seitdem änderte das Revier sein Gesicht in eines, das keins mehr ist und dementsprechend mit der hilflosen Wortschöpfung der ‚postindustriellen Landschaft‘ verknüpft wird, die sich gegenwärtig zum zweiten Mal zu realisieren droht. Ohne Gesicht ist es jedoch schwer zu sprechen, jedenfalls schwieriger. (Haß, Ulrike; Reich, Sabine 2004 (II).)

Betrachtet man die verwahrlosten Stadtzentren mit ihren leerstehenden Ladenflächen und Ein-Euro-Läden, die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen, die Baustellenlandschaften und die hohe Abwanderungsrate, so kann tatsächlich der Eindruck entstehen, daß nach dem Stillegen der Bergwerke nun auch die Städte langsam zu „Geisterstädten“ werden, zu Ruinen in einer ehemals vitalen Landschaft. Und doch oder gerade deshalb eint seine Bewohner, vom Gastarbeiterkind in der zweiten Generation über den zugezogenen Studenten der Ruhr-Universität, die Kassendame im Bochumer Schauspielhaus bis hin zum Obdachlosen an der U-Bahn Haltestelle „Rathaus“ ein vielleicht sogar etwas trotziger Stolz der Zugehörigkeit zu dieser Region. Grönemeyer hat diese besungen, und bei seinen Konzerten oder auf Partys singt und grölt der Ruhrgebietschor mit einem Elan mit, der wie ein Befreiungsschrei, wie ein kollektives Atmen erscheint.

Die Konzeption des WESTEND-Textes versucht, die vielen unterschiedlichen Stimmen, die Liebe, den Haß, den Stolz und die Verachtung gegenüber dem Ruhrgebiet einzufangen und so ein Portrait dieser Region und ihrer Bewohner zu zeichnen.

Der Rückgriff auf Einar Schleefs Chorgedanken liegt nahe. In Droge Faust Parsifa beschreibt Schleef die Zugehörigkeit der antiken Chorfigur zur Landschaft. An anderer Stelle schildert er die chorische Bindung am Beispiel der Fan-Gemeinschaft von TAKE THAT. Versucht man, diese Beobachtungen Schleefs auf die beschriebene Situation des Ruhrgebiets und seiner Bewohner zu übertragen, so erscheinen diese in ihrer Zusammengehörigkeit als ein Chor, der – ähnlich dem Fan-Chor von TAKE THAT – von außen nicht verstanden wird. Den Ruhrgebietschor eint die Beziehung zur Landschaft einer Region, die alle anderen Anzeichen von Lebendigkeit eingebüßt hat. Ihm gegenüber steht die Einzelfigur. Sie wird von den Chormitgliedern verstoßen und bekämpft, ebenso wie sie sich selbst vom Chor distanziert.

Das Textmaterial haben die Studierenden, Gotthard Langes Vorschlägen folgend , gemeinsam bearbeitet. (Einar Schleef hingegen hat seine Texte in Zusammenarbeit mit den Chorführern entwickelt. Die Chorführer haben anschließend die Texte mit dem Chor einstudiert.) Für Gotthard Lange gilt bereits die Frage, inwiefern der Chor nicht nur chorisch sprechen, sondern auch chorisch arbeiten kann, als ein entscheidender Prozeß in der Entwicklung des Sprechchores. Diese gemeinschaftliche Bearbeitung des Textes ist einerseits für das Entstehen der Gruppendynamik wichtig (Vgl. hierzu auch die sehr präzisen Ausführungen zur Bedeutung einzelner Probenelemente für die Entstehung des Gruppengefühls im Chortheatertagebuch.) und verändert andererseits die Beziehung dazu, was gesprochen wird und wie sich das Sprechen vollzieht. Die Chormitglieder müssen sich über die Betonung einzelner Wörter, die Lautstärke, die Klangfarbe, das Tempo, die Pausen und den Rhythmus völlig einig werden, damit der Akt des gemeinsamen Sprechens funktionieren kann. Da bereits kleine Variationen der Betonung eine Aussage grundlegend verändern können, muß jeder Satz detailliert bearbeitet und jede Nuance festgelegt werden. (So wurde es zum Beispiel möglich, durch die Betonung des Wortes „Fankurve“ in Form eines sich aufbauenden Spannungsbogens hin zum „n“ und einem anschließenden Abfallen der Stimmen über „kurve“ sowohl die räumliche Anordnung einer Fankurve im Stadion nachzuzeichnen als auch zugleich eine Laola-Welle zu implizieren.) Persönliche Erfahrungen spielen bei der Bearbeitung des Textmaterials eine wichtige Rolle. Trotzdem ist die Entscheidung für oder gegen eine Alternative oft schwierig, da jeder einzelne auch von seiner eigenen Textempfindung Abstand nehmen und sich der Mehrheit beugen muß. Innerhalb dieser Arbeitsprozesse entwickelt der Chor aus der vielstimmigen Anlage des Textes eine gemeinsame Sprache, die ihn zusammenwachsen läßt.

3. Gesprochener Gesang

Durch Tempoänderungen, Betonung, Pausen und das Flüstern oder Schreien einzelner Worte kann der niedergeschriebene Satz laut gesprochen etwas anderes bedeuten, als wenn er, den ‚Konventionen der Satzstellung‘ folgend, ‚vorgelesen‘ würde. (Hiermit ist die gängige Betonung eines Satzes unter der Berücksichtigung von Interpunktionszeichen etc. gemeint.) Vor allem bei schwierigen Passagen ist zu beobachten, daß der Chor zunächst dazu neigt, den Text rhythmisch und/oder melodisch zu ‚verklanglichen‘. Er legt einen Grundrhythmus oder -ton über ein Wort, der mit diesem in keinem direkten Zusammenhang steht und sich nicht aus seiner vermeintlichen Bedeutung heraus ergibt. Ein Reflex, der sich mit der Tradition des europäischen Theaters erklären läßt: In Droge Faust Parsifal beschreibt Schleef die Evozierung einer Bedeutungsvertiefung der Sprache durch ihre Verklanglichung als gängigen Modus der Darstellung auf europäischen Bühnen, der bis hin zum „Verlust des szenischen Anlasses“ exerziert wird. (Vgl. Schleef 1997, S. 50 ff. Den Verlust des szenischen Anlasses stellt Schleef in Beziehung zur Installation der 4. Wand im geschlossenen Theaterbau, mit der die Krümmung der Figuren durch den Verlust der Senkrechten und die Abwesenheit der Götter einherging. Hierin erkennt Schleef die Problematik des bürgerlichen Theaters, die er (u.a.) mit der Figur des Chores zu lösen versucht.) Viel schwieriger hingegen ist die „gedankliche Erhärtung der Musik“ durch das Wort, also eine solche Betonung des Wortes, die seine Melodie, seinen Sound hervortreten läßt und die Schleef als „gesprochenen Gesang“ (Ebd., S. 66.) bezeichnet.

„Gesprochener Gesang“ setzt laut Schleef eine Abkehr von der Schrift-Sprache zugunsten der Sprech-Sprache voraus. Die Schrift-Sprache, das geschriebene, hochdeutsche Wort, ist für ihn Ideologie-Sprache. Es bewirkt eine „Sprachstreckung“ der Sprech-Sprache, die „das Einbringen von Füllworten, das künstliche Aufbereiten der Verstehbarkeit des Textes, die Herausarbeitung seiner gedanklichen Klarheit, die sich als Inhaltsleere herausstellt“ (Ebd., S. 87.), bedeutet. Als Sprech-Sprache bezeichnet er seine Muttersprache (die Sprache seiner Mutter), die eingefärbte, lokale, dialektale Sprache. Um die Sprech-Sprache hinter den niedergeschriebenen Worten eines Autors aufscheinen zu lassen, muß man den Text laut sprechen, da nur durch diesen Vorgang die Sprache des Autors hörbar gemacht werden kann. Schleef betont immer wieder, wie wichtig es ist, diese Sprache ernst zu nehmen. Der Schauspieler muß sich und seinen Willen zur ‚autonomen‘ Darstellung zurücknehmen, um so der Sprache des Autors Raum zu lassen, sich ihr quasi zu schenken.

Wie der Autor die Figuren aus sich herausschickt, so auch deren Sprachen, die alle einem Autor gehören, alle einem Sprachvermögen, alle eine Sprache sprechen. Der normale Sprechtheaterbetrieb ignoriert bewußt diese Zugehörigkeit, die Verbindung der Figuren untereinander, umgeht eine gemeinsame Sprache, versucht die Figuren brutal zu individualisieren, sie damit ihres zusammenhängenden Sprachkörpers zu berauben und untereinander zu isolieren. Die so hergestellten ,Kunstmenschen‘ gehören zwar dem Titel nach noch dem Autor, möchten aber als Sprache, als Figur autonom erscheinen. Diese falsche Autonomie ist zerstörerisch. (Ebd., S. 101. )

Da der WESTEND-Text viele Stimmen vereint, beinhaltet er nicht die Sprache eines Autors, sondern die Sprache vieler Autoren. Die Antworten auf den Fragebögen waren häufig im lokalen Dialekt des „Potts“ (Tatsächlich wurden die Aussagen im Fragebogen häufig im lokalen Dialekt, also mit „Wat / Dat / im Pott / auf Schalke“ o.ä. formuliert.[/i) und fast immer umgangssprachlich, also sprech-sprachlich formuliert. Der Fragebogen verlangte vielfach private und emotionale Stellungnahmen, die in Form der Schrift-Sprache kaum zu artikulieren gewesen wären. Der Text konstruiert keine individuellen Figuren und keine einheitliche Stimme. Die große Vielfalt möglicher Bedeutungen beim Sprechen des Textes läßt sich unter anderem dadurch erklären. Der wichtigste Schritt in der WESTEND-Inszenierung bestand darin, dieser polyphonen Anlage gerecht zu werden. Es war die – von Gotthard Lange implizierte – Aufgabe unserer Gruppe, selbst Autor zu werden. Aus den vielen Stimmen mußten wir eine gemeinsame Sprache entwickeln. Im Akt des gemeinsamen Sprechens dieser Sprache entstand unser Chor-Körper. (Vgl. hierzu: Haß 1999, S. 71-83.)

4. Sprachkörper und Chorkörper

Da im Sprechchor viele Stimmen gleichzeitig eine gemeinsame Sprache sprechen, gelingt es den Choreuten eher als dem einzelnen Schauspieler, sich der Sprache zu leihen. Der Choreut kann nicht auf der Autonomie und Individualität seines Körpers beharren. Der von allen Mitgliedern gebildete Chorkörper entsteht erst während des Sprechens.

Der Chor-Körper entsteht im Vorgang des kontemporären Sprechens. Er ist unverbrüchlich an den Prozeß der polyvoken Stimme gebunden, auch sein Schweigen als seine äußerste Möglichkeit. Außerhalb dieser Vorgänge zerfällt der Chor-Körper, der seine Wirklichkeit in einem Prozeß besitzt, der viel stärker von der Notwendigkeit des Wortes als vom bereits gebildeten Wort ausgeht. (Ebd., S. 80.)

Im Akt des gemeinsamen Sprechens wächst der Chor zu einem Körper zusammen. Bei WESTEND geschieht das, wenn wir nebeneinander in völliger Konzentration auf der Bühne stehen und gemeinsam auf unser Zeichen zum Sprechen, den ‚Einatmer‘, warten. In diesem Augenblick erfährt der einzelne die anderen Chormitglieder als Verlängerung seiner selbst. Es eröffnet sich ein Raum, der über die Grenzen der eigenen Körperlichkeit hinausreicht und der in seinen Dimensionen nur erahnbar bleibt. Denn für das einzelne Chormitglied reicht die Wahrnehmung dieses Körpers nur bis in seine unmittelbare Umgebung (d.h. maximal über drei bis vier andere Chormitglieder in beide Richtungen hinaus). Man spürt jedoch, daß die Ausmaße dieses Körpers größer sind. Die Chormitglieder, die man selbst wahrnimmt, haben wiederum ein anderes Wahrnehmungsfeld, das allerdings den gleichen Rhythmus transportiert. Der Chorkörper spielt auf der Ebene des „körperlichen Kontakt[s] zum Rhythmus“ . (Haß 1999, S. 78.)

Dieser Vorgang spielt sich unterhalb der Ebene der körperlichen Erscheinung ab und auch nicht in einem Körper. Entsprechend bietet sich der Chor dem Blick nicht als Bild dar wie ein ganzer Körper, sondern erscheint fragmentarisch und sedimentiert. (Ebd.)

Der Chorkörper kann nur durch größtmögliche Konzentration und Kraft, nur durch ein gemeinsames Wahrnehmen und Reagieren entstehen. Wenn die Mitglieder nicht aufeinander achten, zerfällt der gemeinsame Körper in 22 Individuen. Als Mitglied des Chores muß man gleichzeitig sprechen und hören. In diesem Prozeß erfährt der einzelne die anderen Stimmen als Potenzierung seiner selbst. Der Akt des gemeinsamen Sprechens einer vom Chor entwickelten Sprache ist selbst die Droge, die seine Bindung ausmacht.

Dieser Gemeinschafts-Körper, Schleef nennt ihn Chor-Körper, ereignet sich nur auf Zeit. Dem unter der Haut mit anderen geteilten Körper ist eigentümlich, daß er immer wieder von neuem geteilt werden muß. Für den Begriff der kollektiven Übertragung wählt Schleef die Metapher der Droge. Sie verbindet diejenigen, die sie einnehmen, zu einer Gemeinschaft. Darüber hinaus verbindet sie nichts. (Ebd., S. 74.)

Durch die gemeinsame Sprache wird es dem Chor möglich, die Sprech-Sprache des Autors hervortreten zu lassen, und so die unendliche Melodie (Vgl. Schleef 1997, S. 117.), den Sound, der hinter oder zwischen dem Laut und seiner Bedeutung liegt, hörbar zu machen.

Das gleichzeitige Sprechen vieler Stimmen evoziert den in der Sprache eingeschlossenen Sound. Das gleichzeitige Sprechen durchquert die Schrift und nimmt Kontakt mit der Sprech-Sprache auf, mit der Mutter-Sprache, wie Schleef sagt, die das Sprachvermögen eines Autors rhythmisiert. Die Sprache des Autors bildet das Element des Zusammenhangs im Chor-Theater. (Haß 2001.)

Die starke Wirkung der sprachlichen Experimente ist untrennbar mit der chorischen Form des Sprechens verknüpft. Der einzelnen Person mangelt es an Kraft, ihrer Sprache fehlt der Sound, der durch das gleichzeitige Sprechen erzeugt wird. Humorvolle Passagen zum Beispiel, die vom ganzen Chor gesprochen unglaublich komisch sind, erscheinen, vom einzelnen vorgetragen, platt und klein. Grund dafür sind die Eindeutigkeit und die eingleisige Verbindung von Sprache und Aussage, die die Rede eines einzelnen stets impliziert.

Für den Unterschied zwischen der Rede des einzelnen und dem Sprechen des Chores soll an dieser Stelle die Arbeit mit dem „Algol-Text“ (Der Name „Algol“ bezieht sich auf einen frühen, bergbau-mythischen Film aus den 1920er Jahren, in dem die Arbeiter unter Tage zu einem Stern namens Algol in Beziehung gesetzt wurden. Unter „Audiovisio“ kann die „Algol“-Passage aus WESTEND eingesehen werden.) exemplarisch beschrieben werden: WESTEND beinhaltet eine Textpassage, die in der Inszenierung von allen Frauen (14 Personen) an der Rampe kniend gesprochen wird. Diese Passage basiert auf dem Gedicht „Die Weber“ von Heinrich Heine (1844), das zur Ruhrgebietsthematik in Beziehung gesetzt und umgeschrieben wurde. Der entstandene Text ist ein Fluch der Bergarbeiter auf die Reichen und Mächtigen, von denen sie ausgebeutet werden. Das Gedicht ist sehr dicht, düster, wütend und zugleich resignativ.

Der erste Versuch, diesen Text zu bearbeiten, führte relativ schnell zu einem Ergebnis, aber nur, weil wir uns zunächst nicht auf ihn einließen: Wir entwickelten einen Klangteppich, bestehend aus mehreren Stimmen, der eine ‚Geräuschkulisse unter Tage‘ durch Zisch- und Kratzlaute implizieren sollte. Dazu ließen wir eine Person aus unserer Gruppe den Text sprechen. Das Resultat war zwar eindrucksvoll, aber oberflächlich. Wir hatten uns davor gedrückt, eine chorische Lösung zu finden. Wir entwickelten keine gemeinsame Sprache, sondern legten nur eine Melodie über den Text.

Erst als uns das chorische Sprechen der Textpassage gelang, wurde die Kraft wahrnehmbar, die der Text während des Sprechens entwickelt. Das Sprechen dieser Passage ist eine körperliche, beinahe schmerzhafte Erfahrung. Die Atmung ist an dieser Stelle sehr wichtig. Sie soll die Atmosphäre eines Schachtes erzeugen, durch den der Puls der Erde spürbar wird. Durch ein sehr tiefes, langsames und kräftiges Atmen versuchen wir, die Melodie dieses Schachtes entstehen zu lassen. Das Sprechen des Textes geht an dieser Stelle mit einer Strapazierung der Atmung einher, die ein Schwindelgefühl, eine körperliche Verausgabung verursacht. Wir haben die Sprache dieses Textes zu unserer Vorstellung vom ausgebeuteten Bergmann gemacht. Wir leihen uns dieser Sprache, empfinden durch die kniende Haltung und die Atmung einen physischen Schmerz. Während des Sprechens erzeugen wir einen gemeinsamen, physisch wahrnehmbaren Körper. Dennoch sprechen wir nicht mit einer, sondern mit vielen Stimmen. Jedes Mitglied assoziiert seine eigenen Erfahrungen mit dem Gesprochenen.

Neben der Bildhaftigkeit des Körpers und der reinen Aussagekraft der Sprache eröffnet der Chor eine weitere Dimension. (Diese Ausdrucksebene ermöglicht die Artikulation von Passion. Vgl. Haß 2004 (I).) Der Rhythmus der Sprache wird im gemeinsamen Sprechen hörbar. Diese Ebene macht dem Zuschauer ein Wahrnehmungsangebot, das über ein visuelles und inhaltliches Verstehen hinausgeht. (Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Ulrike Haß zur polyvoken Stimme. Haß 1999, S. 79.)

Das unsichtbare Theater des Chores spielt an der Nahtstelle von Körper und Sprache. Die Sprache ist hier in ihrer phonischen, metrischen Stofflichkeit akzentuiert, in ihrer bedrängenden Fremdartigkeit, mit der sie sich eher körperlich als sinnhaft realisiert. […] Die Chor-Figur behauptet die Möglichkeit eines Mittels ohne Zweck. Sie führt diese Möglichkeit nicht vor, sondern realisiert sie, lebt sie aus und unterzieht den Theaterraum damit einer energetischen Metamorphose. (Ebd., S. 80.)

Auf dieser dritten Ebene der Wahrnehmung, die sich nur im Akt des chorischen Sprechens eröffnet und die die „energetische Form seines Theaters organisiert“ (Ebd. ), liegt für Schleef die Faszination der Chorfigur begründet.

Der Prozeß der Entwicklung einer autonomen, rhythmisierten Sprache, der sich die Darsteller leihen und die durch sie spricht, ist ein wichtiges Merkmal der Inszenierung von WESTEND. Die Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit des Ausgangstextes bleibt Kennzeichen der Inszenierung, da die Linearität des sprachlichen Ausdrucks durch das Gegeneinanderstellen der Kleinchöre zum einen und das Aneinanderreihen differenter Aussagen zum anderen unterbrochen wird. Widersprüche und Brüche in der Darstellung bleiben ebenso möglich wie unterschiedliche Wahrnehmungen seitens der einzelnen Chormitglieder sowie des Publikums.

5. Chor und Individuum

Einar Schleef hat sich lange mit der Frage nach der Figur des einzelnen und der des Chores beschäftigt. In der antiken Tragödie stehen beide Figuren nebeneinander, sie bekämpfen und bedingen einander.

Der Tempounterschied von Chor und Einzelfigur suggeriert eine Zugehörigkeit zu 2 unterschiedlichen, fast feindlichen Welten. Daß dem Chor nur 2 Tempi zur Verfügung stehen (Sehr schnell und sehr langsam. Vgl. Schleef 1997, S. 275.), rückt ihn dem Tierreich näher, als gehörte er einer weit zurückliegenden Götterwelt und Lebensform an, die die Helden längst hinter sich gelassen haben, die stets an den Palast gebunden, dessen Produkte sind. (Vgl. Schleef 1997, S. 275.)

In seiner Untersuchung des Theaters von der Antike bis zur Gegenwart des bürgerlichen Theaters diagnostiziert Schleef eine zunehmende Abwendung von der Künstlichkeit des Mediums Theater, eine Abwendung, die im Prinzip eine Gleichsetzung mit Film und Fernsehen bedeutet. Eine Wendung hin zur Ausstellung von Privatheit und Individualität auf der Bühne, die nur mißlingen kann. Die ausschließliche Darstellung von Einzelfiguren, die als Objekt des voyeuristischen Zuschauerblickes fungieren, ist Teil dieser Entwicklung. Die Installation der vierten Wand, die Krümmung der Figuren in ihrer Senkrechten durch das Einsetzen der Zentralperspektive, die Abwesenheit der Götter und des Dialogs mit ihnen und die damit verbundene Abkehr von der chorischen Form sind Zeichen dieses Theaters. Als Ursache für diese Entwicklung nennt Schleef das Dogma der Natürlichkeit. Sprache wird so diskreditiert und zur Nebenerscheinung der Darstellung abgewertet. In der Ausstellung von Natürlichkeit, die an eine Möglichkeit der Identifikation mit der einzelnen Figuren geknüpft ist, geht, so Schleef, der „Definitionscharakter der Sprache“ (Schleef 1997, S. 99.) verloren. Die Künstlichkeit der Sprache, ihr Pathos, wird gezielt unterbunden, wodurch die „Figuren liquidiert“ (Ebd.) werden.

Schleef versuchte zeitlebens diese Korrektur der theaterpraktischen Mittel. Er entwickelte einen Formenkanon, der das Grundgerüst eines neuen Theaters bilden sollte, dessen Vorbild in der Antike liegt. Ein entscheidender Bestandteil dieses Kanons ist die Reetablierung des Sprechchores.

In der Gleichzeitigkeit von Sprechen, Hören und Gehörtwerden produziert der Chor, auch ohne Publikum, seine eigene Öffentlichkeit. Innerhalb dieser wird, so Schleef, eine Darstellung von Privatheit und individueller Persönlichkeit erst möglich. Denn der einzelne ist als einzelner nicht denkbar oder darstellbar, ebensowenig wie Individualität. Nur innerhalb eines Umfeldes, daß dem einzelnen eine Basis, eine Landschaft bietet, tritt er hervor. Die protagonistische Einzelfigur steht für sich genommen verlassen im leeren und nicht bedeuteten Raum. Erst mit und in ihrer Gegenüberstellung zum Chor wird sie sichtbar. Der Chor ist Bedingung für die Darstellung des einzelnen. Er ist Folge jenes Opfers, das der Chor gebracht hat, um sich vor seiner Auflösung zu schützen, um seine selbstzerstörerische Gewalt nach außen zu lenken. Der Protagonist ist mit dem Chor verbunden, er ist Teil von ihm und ohne ihn nicht denkbar. In der Konsequenz dieser Erkenntnis macht Schleef den Chor zum Protagonisten seines Theaters und beobachtet ihn in seinem Verhältnis zur Einzelfigur.

WESTEND ist eine Inszenierung ohne protagonistische Einzelfigur. Was passiert bei einer rein chorischen Anlage mit der Figur des einzelnen? Wird sie hier überhaupt noch dargestellt? Oder repräsentiert der WESTEND-Chor nur eine gesichtslose Figur ohne persönliche Merkmale einzelner? Ist ein Chor wie WESTEND ein Chor ‚im Sinne Einar Schleefs‘? Schließlich steht dem Chor keine Einzelfigur gegenüber. Geht mit einer ‚Gleichschaltung‘ der Chormitglieder nicht der Verlust der Besonderheit des einzelnen in der Darstellung einher? (Diese Fragen wurden im Zusammenhang von WESTEND untereinander und mit dem Publikum auf vielfältigste Art und Weise diskutiert, ohne jedoch zu einem Abschluß zu gelangen. Insbesondere die Frage des ausgestoßenen einzelnen (Opfer des Chores) konnte nicht zufriedenstellend geklärt werden. Sie muß an dieser Stelle offen bleiben.)

Auf die Bühne tritt jeder WESTEND-Choreut zu Beginn der Aufführung als einzelner. Zwar atmen alle Darsteller gleichzeitig, sprechen die gleichen Texte, tragen die gleichen T-Shirts, gleichfarbige Hosen, laufen im Gleichschritt und Gleichtakt und sind angehalten, soweit als möglich nicht zu ‚spielen‘. Die Mimik soll sich ausschließlich aus dem physischen Vorgang des Sprechens ergeben. Auch wenn die Darsteller gemeinsam auftreten, die gleichen Bewegungen machen und das Gleiche sagen, liegen trotzdem vier Schläge zwischen dem Auftritt eines jeden einzelnen. In dem Moment, in dem der einzelne Darsteller auf die Bühne tritt, ist er allein. Er läuft an den anderen vorbei an seinen Platz und positioniert sich in der chorischen Anordnung, den Blick nach vorne gerichtet. Erst mit der folgenden Konzentration auf den ‚Einatmer‘ wachsen die einzelnen zum Chor zusammen. Im Akt des gleichzeitigen Sprechens fühlt sich der einzelne als Teil von etwas Größerem. Er spürt den Chor als Haut, die ihn umgibt, geht aber darin nicht auf.

Der einzelne nimmt die unterschiedliche Intensität einzelner Momente auf der Bühne wahr und reagiert auf sie: Ich sehe die Zuschauer, erkenne Bekannte und Freunde und meide deren Blick, während ich fremde Zuschauer direkt anblicke, stellenweise fixiere und ihre Reaktionen beobachte. Jemand macht mit Blitzlicht Fotos, meine Verfassung ändert sich. Meine Konzentration läßt nach, ich werde unsicher. In diesem Moment fühle ich mich durch den Chor getragen, er vermag es, meinen Moment der Schwäche zu verbergen. Ich glaube, dies ist eine der außerordentlichsten Eigenschaften der chorischen Figur. Sie kann den einzelnen tragen und schützen, kann ihm Kraft und Macht geben, kann ihn potenzieren, aber auch zurücknehmen und bremsen. Der Chor reagiert auf einzelne Impulse, ebenso wie der einzelne auf den Chor reagiert. Wenn zum Beispiel eine Person beim Sprechen das Tempo unbeabsichtigt anzieht oder dämpft, so nimmt der Chor dies wahr und geht darauf ein, indem er sich dem einzelnen anpaßt oder das Tempo hält, wodurch der einzelne in die Dynamik der Gruppe zurückgedrängt wird. Der einzelne spürt die anderen Chormitglieder in seiner Nähe und sie spüren ihn. Er löst sich nicht auf in einem Größeren, vielmehr fließen sein Charakter, seine Persönlichkeit, sein Aussehen und seine momentane Verfassung in den Chor ein. Er spürt sich, genauso wie er das Wir des Chorkörpers spürt.

6. Der Sog

In Droge Faust Parsifal beschreibt Schleef die Sogwirkung von Gedichten und von Musik, die aus dem ihnen inhärenten Rhythmus resultieren. Er fordert den Leser auf, die von ihm angeführten Gedichte laut zu lesen, damit der Rhythmus spürbar wird. Er beschreibt detailliert, wo die Sogwirkung einsetzt und welche Barrieren überwunden werden müssen, damit der Sog einen erfassen kann. Schleef besteht auf der Notwendigkeit, sich auf die dem Text eigene Rhythmik einzulassen und persönliche ‚Lesegewohnheiten‘ abzulegen. Beim Lautlesen ergibt sich eine Dynamik, eine körperliche Reaktion auf den Text, der den Leser mitreißt, sobald die Hürde der ersten Silben oder Zeilen überwunden ist. Der Sog, der einen beim Lesen eines Gedichtes packen kann, ist etwas Fremdes, das fesselt. Diese Sogwirkung wollte Schleef auch auf der Bühne erreichen. Der Chor kann einen solchen Sog produzieren, der sowohl für den Zuschauer als auch für die Chormitglieder spürbar wird. Seine Dynamik entsteht in der gemeinsamen Konzentration, im gleichzeitigen Sprechen und Hören, Sehen und Gesehenwerden und im Rhythmus der gemeinsamen Aktion.

In einem Fragebogen, mit Hilfe dessen die Wahrnehmung des Chores durch den Zuschauer erfaßt werden sollte, haben viele Zuschauer von einer Sogwirkung bei WESTEND berichtet. Sie beschreiben die Faszination, die von der Chorfigur und dem Rhythmus der Sprache ausgeht.

Einige Zuschauer beschrieben sogar den Wunsch nach Zugehörigkeit zur Gruppe, das Bedürfnis, selbst Teil des Chores zu sein. Die bisher stärkste Äußerung in diese Richtung stellte die spontane Bildung eines Zuschauerchores dar, der stampfte und skandierend rief: „WIR fanden ES // GUT WIR fanden ES // GUT WIR…“.

Aber nicht jeder Zuschauer kann oder will sich auf den Sog einlassen. Er kann die Barriere zu Beginn eines Textes oder einer Inszenierung nicht überwinden und kämpft gegen den Sog an.

Wer die Barriere nicht überwindet, bleibt außerhalb. Im Fall einer Chorinszenierung ist das Resultat einer solchen Blockade häufig eine negative Wahrnehmung des Chores, dessen Gewaltigkeit und Kraft als ständige Bedrohung wahrgenommen und nicht selten mit dem Faschismus assoziiert werden.

Diese Wahrnehmung geht einher mit der Ansicht, daß der einzelne im Chor untergehe, Teil einer „gesichtslosen Masse“ (Ich bin mir der Schwierigkeit des Begriffes der Masse und der Notwendigkeit einer Unterscheidung zur Form des Chores bewußt. Eine Anführung dieses Begriffes findet hier ausschließlich in bezug auf die Fragebögen statt, die diesen verwenden und die häufig in einer Assoziation des WESTEND-Chores mit dem Nationalsozialismus münden.) werde, die in ihrer Form und Bedrohlichkeit den Inszenierungspraktiken der Nationalsozialisten ähnele.

Einar Schleef formuliert als Grundvoraussetzung zur Teilhabe an einer Sogwirkung die Fähigkeit, sich selbst, d.h. seinen Status als Subjekt, loszulassen und als Objekt Teil der Welle zu werden.

Sich dem Sog eines Gedichtes, der Musik zu widersetzen, verhindert Genuß, schränkt ihn ein. Sogwirkung heute als faschistisch zu bezeichnen, ist Unsinn, wer nicht Objekt sein will, meide den Sog. Meist laborieren diejenigen am Sog, die zwischen Objekt und Subjekt nicht unterscheiden, nicht verstehen, was es heißt, die Welle entweder zu teilen oder von ihr getragen zu werden, dazu muß man schwimmen können oder auszuwerfendes Treibgut sein. (Schleef 1997, S. 119.)

Schleef fordert vom Zuschauer des Chores nicht nur ein Einlassen auf den Sog, sondern Objekt des Soges zu werden. Er fordert das Überwinden der Angst und ein bereitwilliges Hineinstürzen in den Strudel, auch auf die Gefahr hin, sich zu verletzen. Nur wer den Sog und seine Gefahr kennt, „ortskundig“ (Ebd.) ist, kann ohne Verletzung ein- und aussteigen.

7. Krankheit und Heilung

Für Schleef sind der Chor und der einzelne krank. Es besteht ein Konflikt zwischen der Einzigartigkeit des einzelnen und seiner gleichzeitigen Zugehörigkeit zum Chor. Im Unterschied zum Chor verleugnet das „Individuum“ (Ebd., S. 274.) seine Zugehörigkeit und besteht auf seiner Subjektposition. Doch auch in der Akzeptanz der Krankheit und dem damit einhergehenden Eingeständnis der Zugehörigkeit zum Chor birgt die Krankheit immer die Gefahr des eigenen Todes. Die Krankheit des einzelnen besteht demnach in der Verleugnung seiner Zugehörigkeit zum Chor, während die Krankheit des Chores in der Gefahr des Verlustes der Singularität des einzelnen begründet liegt. Die Akzeptanz der Zugehörigkeit des Zuschauers zum Chor ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, im Rahmen einer Inszenierung von seinem Subjektstatus abzulassen und sich dem Sog zu ergeben. Diese Hingabe setzt Schleef mit der Zugehörigkeit zum Chor gleich. Der Chor bezeichnet, geographisch und seelisch, die Landschaft – und im Fall von WESTEND zusätzlich inhaltlich die Landschaft des Ruhrgebiets.

[Schleef] entfaltete […] eine immer wieder neu ansetzende Befragung des Individuums. Er reflektierte gesellschaftliche, ästhetische Bedingungen des Individuellen, und spiegelte die Probleme, die er sich stellte, wohl in einer einzigen, in sich selbst jedoch überaus reichen, vielschichtigen und irreduzibel antagonistischen Denk- und Vorstellungsfigur – eben der Konfrontation und dem Konflikt von Zuschauern und Spielern in ihrer inneren Zwiespältigkeit, zwangsläufig immer zugleich Einzelne und Zugehörige zu sein, den Antagonismus von Vielheit und Singularität in sich zu tragen. (Lehmann 2002, S. 49.)

Im Sich-Einlassen auf den Sog, in der Mit-Teilung der Droge und im Offenhalten der Wunde liegt, so Schleef, das Potential einer Heilung begründet, an der sowohl Spieler als auch Zuschauer teilhaben können:

Noch in der Klassik haftet dem Chor etwas von seiner ursprünglichen, heilenden Bedeutung an, seiner Zugehörigkeit zur Landschaft, zu einer geographischen wie zu einer seelischen, als gingen beide Landschaften im Chor eine Verbindung ein, würden sich gegenseitig bedingen, als würde eine aus der anderen erwachsen. Als wäre das der Ort, in dem sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen kann. (Schleef 1997, S. 12.)

Fragebogen Heimat Ruhrgebiet

Hinweis zur Bearbeitung: Bitte füllen Sie den Fragebogen anonym und rasch aus. Wenn Sie zu einer Frage keine Lust haben, überspringen Sie die Frage. Bei anderen Fragen, die Sie mehr ansprechen, halten Sie sich länger auf. Sie können auch gerne ein wenig ins „Spinnen“ geraten. Wir nehmen alle Sätze gerne entgegen. Bitte geben Sie den ausgefüllten Fragebogen so bald als möglich zurück. DANKE für Ihre Mitarbeit an unserem HEIMAT RUHRGEBIET-Chorprojekt.

ALLGEMEINES/FAKTEN
Männlich/Weiblich
Geburtsjahr: 1979.
Geburts- und Lebensort: geb. in Essen, aufgewachsen in Herne, wohnhaft in Bochum.
Beruf: Geburts-, Lebensort des Vaters: Arnsberg/Herne.
Beruf: Geburts-, Lebensort der Mutter: Arnsberg/Herne.
Beruf des Vaters: Lehrer.
Beruf der Mutter: Lehrerin.
Wann sind die Eltern zusammengezogen (Familiengründung) und wo? Münster 1968.
Wichtige Bewegungen Umzüge der Eltern: Vater war im Internat, studierte in Aachen und Münster. Mutter studierte in Münster. Dann Umzug in Gelsenkirchen (haben dort Stellen gekriegt, dann Essen, Herne).
Wenn Ihre Eltern im Ruhrgebiet leben, wie lange schon? (In der wievielten Generation) In der ersten.
Wo kommt Ihre Familie ursprünglich her? Jede Generation hat einen anderen Ort; Großeltern: Arnsberg/Sauerland; Großvater (Mutter-Mutter): Bayern; Großmutter väterlicherseits: polnischer Adel.
LEBEN IM RUHRGEBIET
Ich bin hier, weil… (Mehrere Gründe sind möglich)
1. hier meine Leute sind.
2. ich meinen Balkon mag.
3. der Fußball toll ist.
Ich will hier weg, weil… (Mehrere Gründe sind möglich)
1. ich hier nicht bleiben will.
2. ich hier nicht arbeiten will.
Ich will hier nicht weg, weil…
ich hier meine Sehnsucht habe.
Was gefällt Ihnen am Ruhrgebiet besonders? Was nicht? Mir gefällt das wunderbare Ruhrtal, Fußballtrash und die Kneipenszene. Mir gefallen nicht die vielen, vielen Menschen, das Provinzgefühl, die Gartenpflege.
Welche Stadt im Ruhrgebiet ist die Schönste? Warum? Düsseldorf. Weltstadt-Gefühl. Hattingen hat einen schönen mittelalterlichen Stadtkern.
Welche Stadt mögen Sie am wenigsten? Warum? Ich hasse das Kommunal-Klein-Klein in Herne, ich hasse die Herner Grünflächenamt-Kahlschläger.
Wo ist das Ruhrgebiet am meisten Ruhrgebiet? In den Kleingärten (Schrebergärten).
Wo ist hier die Mitte? Uni.
Gibt es Stadtteile, die Sie besonders meiden, warum? Nein.
Was ist Ihre Lieblingsstadt? Nennen Sie die wichtigsten Attribute: Bochum: schöne alte Wohnviertel, Parks.
In welcher Stadt würden Sie niemals leben wollen? Und warum? Bochum.
Wie sicher ist Ihre Stadt? Sehr sicher.
Welche Orte besuche ich? Tierpark. Den gefakten Zechenturm vom Bergbaumuseum. Museen überall.
Wo liegt mein Herz? Am Meer.
Wo sind Sie unterwegs? (Unterwegs in Essen, unterwegs in Betten, unterwegs in…) Zu Fuß.
Steht das Ruhrgebiet auf sicherem oder unterhöhltem Boden? Alles bröckelt, aber die Menschen klammern sich an hier.
Wenn Sie Angehörige/r im Stadtrat wären, was würden Sie am liebsten für diese Stadt politisch verändern/herbeiführen? Die häßliche Fußgängerzone verschönern.
Was nehmen Sie mit aus dem Ruhrgebiet? Mich und meine Liebe.
Auf welche Wörter/Begriffe aus dem Pott können Sie nicht mehr verzichten?
1. Maloche
2. Prengel (= Stab, auch: Bratwurst)
3. Hümmelken (kleines Messer)
4. Öselig
Was halten Sie von der Ruhr als solcher? Sie verbindet die Heimat meiner Eltern mit dem Ruhrgebiet.
Welchen Spruch haben Sie zuletzt in der Kneipe/in der U-Bahn gehört, der Ihnen aufgefallen ist und den Sie sich aus diesem Grund gemerkt haben? –
Was hat Sie einmal beim Gang durch die Fußgängerzone erschüttert? (Häuser, Obdachlose, Dreck…)
In der Fußgängerzone nicht, aber der Dreck, der Müll überall, stößt mich ab. Verstehe auch nicht, wie Menschen so sein können, daß sie ihren Müll hinschmeißen.
Wenn Sie an Ihre alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen denken, was fällt Ihnen in Bezug auf die Menschen im Ruhrgebiet ein? Viele, auch aus der Mittelklasse, können sich gar nicht vorstellen, hier wegzugehen. Was die „einfachen Leute“ angeht, finde ich, daß das romantische Klischee, „ungebildet, aber ein gutes Herz“, oft nicht zutrifft, oft sind die Leute verbittert und hartherzig.
Werden die Menschen im Ruhrgebiet Ihrer Meinung nach früher alt? Warum? Nein.
Wann glauben Sie, daß die Menschen hier glücklich waren?
In den 1910ern und 1920ern, da war Herne ein schicker Kurort.
Das Thema Konkurrenz spielt hier (k)eine Rolle: –
Was ist hier krank? –
Was macht mich krank?
Die dicke Luft verursacht mit Asthma.
Wie halten wir den ungeheuren Luftwiderstand aus? Die dicke Luft verursacht mit Asthma.
Wie ertragen wir den Uringestank? Die Luft anhalten.
Kennt man sich? Nicht so.
Wißt Ihr schon, was Ihr trinken wollt? Pils-Bier.
Worauf trinken wir? Auf die Liebe.
Wir sind… anders.
Kann die Kneipe/der Nachtclub ein Zuhause sein? Nein.
Kann die Barfrau meine Freundin sein? Warum? Nein, ich bin alternativ, fragt sich bloß, wozu.
Was bedeutet zuhause? Meine Liebe und ein Garten.
Beschreiben Sie das Haus, in dem Sie wohnen: Fünf Etagen, zehn Parteien, ein „rear-window“-Hinterhof mit Blick auf Knappschaft, Kirche, Schauspiel.
Beschreiben Sie die Straße, in der dieses Haus steht: Noch mehr hohe öselige Mietshäuser.
Bei mir um die Ecke gibt es… die beste Schnitzelkneipe Bochums.
Wo möchten Sie am liebsten ein Haus bauen? Im Grünen in der Stadt.
Was wäre Ihr Traumhaus? Beschreiben Sie: Hölzern, einfach. Es ist Luxus, wenig zu besitzen. Schlicht, skandinavisch.
Die Wände in meinem Haus, in meiner Wohnung, speziell in meinem Zimmer sind dick/dünn/hellhörig, weil… Die Wand ist ganz dünn, weil das angrenzende Zimmer des Nachbarn früher zu meiner Wohnung gehörte.
Wenn Sie in einer hellhörigen Wohnung wohnen, was hören Sie, was vermeiden Sie? Ich höre pubertierende Jungs, die Playstation spielen und vögelnde Lesben.
Was bedeutet für Sie ein Blick aus Ihrem Fenster? Das schönste an meiner ganzen Wohnung.
Was entspricht Ihrem Fenster:
ein Bild an der Wand
ein Ausweg ins Freie
eine Verbindung mit
dem Haus gegenüber, dem
Himmel, der Welt (Flugzeugeinflugschneise)
Was dominiert vor Ihrem Fenster:
das Vertikale/Horizontale
der Tag/die Nacht
Himmel/Erde
(beides).
Natur/Kultur
Bedrohliches/Offenheit
Was spiegelt Ihr Gegenüber wider?
Gott, Kunst, Bergbau (Kirchen, Schauspiel, Knappschaft).
Welches Leben beobachten Sie? Das Leben im großen Hinterhof. Wie der Junge Laufen gelernt hat. Wie sein Vater das Auto repariert. Den schönen Balkon des jungen Mannes zwei Stockwerke darüber. Die alte Freiluftfanatikerin daneben. Die Mauersegler. Wie die Nachbarn ihre Mülltonnen abschließen.
Vervollständigen Sie die folgenden Sätze:
• Eine Stadt ist immer wie ein Versprechen… –
• Rausgehen, in der U-Bahn sitzen… –
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu: –
Ich will herausfinden, auf welcher Seite ich leben will. (Beschreiben Sie die Seiten, zwischen denen Sie sich entscheiden müßten, evtl. auch wie Sie sich dazwischen entscheiden): –
FAMILIE/BEZIEHUNGEN
Die Menschen, die mich zuhause umgeben, sind Freunde/Fremde?
Familie ist für mich ein „heiliger“ Ort bzw. ein Rückzugsort?
Meine Liebe ja.
Ich mußte/muß meine Familie erst finden? Ich werde eine eigene Familie haben.
Familie ist etwas anderes als Blutbande. Leider nicht.
Bin ich der Sohn/die Tochter meiner Eltern? Allerdings.
„Wenn ich bei mir zuhause in die Ecke komme, schmeiße ich nicht nur meine Tasche in die Ecke!“ –
Ausgehend davon, daß jede Familie ein Thema/Trauma hat (z.B. Schicksalsschlag, Verlust, Arbeitslosigkeit, Trennung/Scheidung), welches ist das Thema/Trauma Ihrer Familie?
Großmutter starb an Tablettensucht. Großtante erbte nichts. Mutter depressiv.
Mein Trauma: Scheidung der Eltern.
Wo verorte ich mich selbst? In der Natur mit meinem Liebsten.
Mein Liebesleben ist schwer/leicht zu organisieren, weil… ich endlich monogam geworden bin. Weil ich einen Willen zum Glück habe.
Stehen (Kopf)arbeit, Alltag und Gefühlsleben für Sie im Widerspruch? In welchem? Nein, es gehört doch alles zu mir. Man muß sich aber kleine Fluchten suchen.
Ich will eine Geschichte haben. Eine Geschichte mit einem Ende? Mit welchem Ende? Ich will sagen können, ich hatte ein bewegtes Leben. Ich will Natur und Frieden haben.
Ich will nicht jeden Tag einen neuen Anfang haben. Ich will auch mal auf etwas aufbauen: Mein Liebster ist immer da und meine Liebe zur Natur.
Bin ich gut? Und warum? Ich kann alles, manchmal aber auch nicht.
Ich will nie so werden wie… dumme Weiber.
Wir sind… nicht kompliziert, sondern facettenreich.
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu:
– Bitte füllen Sie den folgenden Abschnitt nur aus, wenn Sie an der RUB studieren oder tätig sind –
UNIVERSITÄT
Stehen (Kopf)arbeit, Alltag und Gefühlsleben für Sie im Widerspruch? In welchem? Nein, es gehört doch alles zu mir. Man muß sich aber kleine Fluchten suchen.
Die Uni ist (K)ein Ort des Aufstiegs: Alle, die hier sind, studieren.
Das Thema Konkurrenz spielt hier (k)eine Rolle: Ja, Blenderei und Dummschwätzertum sind hier zu Hause.
Kann die Uni ein Zuhause sein? Ja.
Die RUB als kleine Stadt (Kino, Mensa, Läden, Bierklause, Radio, Wiesen, Blumen, Kaninchen): Ist Sie bewohnbar? Wenn nein, warum nicht? Ja, sehr gut bewohnbar.
Ist Sie ein Versprechen, daß nicht gehalten wird? Wenn man es versucht, wird das Versprechen sogar gehalten.
Ich bin gerne/nicht gerne an der RUB. Warum? Ich kann mich identifizieren, mit der RUB, meinem Fach, dem Ruhrgebiet.
Was haben Sie bei Ihrer ersten Heißhungerattacke gegessen? Und woher hatten Sie es? Party-Stange aus der GB-Caféte.
Steht die RUB auf sicherem oder unterhöhltem Boden? Welche Gerüchte haben Sie gehört? Was befindet sich unter den Gebäuden der RUB? Wenn man nachts auf dem Campus ist, kriechen die Ratten, Mäuse und Igel aus den Ritzen und Rabatten. Das finde ich sehr tröstlich.
Der Architekt der RUB hat sich die Gebäude der RUB als Schiffe am Hang gedacht. Was transportieren sie Was ist ihr Hafen? Oder bewegen sie sich? Was halten Sie davon? Riesige Segelschiffe oder Galeeren mit Hunderten von Ruderern. Sie fahren durch tausend Stürme Richtung Kemmnader See.
Im Moment bin ich so unkonzentriert, weil… ich so müde bin.
Wenn ich auf den Campus komme, fühle ich mich …, weil…
Happy Days gab es bei mir zuletzt, als…
Sehr oft.
Wir sind…
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu: –

Fragebogen Heimat Ruhrgebiet II
Hinweis zur Bearbeitung: Bitte füllen Sie den Fragebogen anonym und rasch aus. Wenn Sie zu einer Frage keine Lust haben, überspringen Sie die Frage. Bei anderen Fragen, die Sie mehr ansprechen, halten Sie sich länger auf. Sie können auch gerne ein wenig ins „Spinnen“ geraten. Wir nehmen alle Sätze gerne entgegen. Bitte geben Sie den ausgefüllten Fragebogen so bald als möglich zurück. DANKE für Ihre Mitarbeit an unserem HEIMAT RUHRGEBIET-Chorprojekt.
ALLGEMEINES/FAKTEN
Männlich/Weiblich

Geburtsjahr: 18.09.1954.
Geburts- und Lebensort: Bochum, Bochum, Bochum.
Beruf: Geburts-, Lebensort des Vaters: Bochum-Stiepel.
Beruf: Geburts-, Lebensort der Mutter: Bochum-Wiemelhausen.
Beruf des Vaters: Maschinist.
Beruf der Mutter: Hausfrau.
Wann sind die Eltern zusammengezogen (Familiengründung) und wo? 1931, Bochum.
Wichtige Bewegungen Umzüge der Eltern: Bochum, Bochum, Bochum.
Wenn Ihre Eltern im Ruhrgebiet leben, wie lange schon? (In der wievielten Generation) „Schon immer!“ Alle.
Wo kommt Ihre Familie ursprünglich her? Ruhrgebiet.
LEBEN IM RUHRGEBIET
Ich bin hier, weil… (Mehrere Gründe sind möglich)
1. tolle, offene Menschen.
2. kurze Wege (Einkaufen, Schwimmen, Kino, Kneipe, Arbeit).
3. Landschaft, mal flach, mal hügelig und grün.
4.Kultur – für Jedermann.
Ich will hier weg, weil… (Mehrere Gründe sind möglich)
1. –
Ich will hier nicht weg, weil… ich im „Pott“ geboren bin.
Was gefällt Ihnen am Ruhrgebiet besonders? Was nicht? Die kulturellen Möglichkeiten, Parks, Radwege, Landschaft. Alles.
Welche Stadt im Ruhrgebiet ist die Schönste? Warum? Bochum: „Bermudadreieck“.
Welche Stadt mögen Sie am wenigsten? Warum?
Wo ist das Ruhrgebiet am meisten Ruhrgebiet? Bochum: Wir haben alles.
Wo ist hier die Mitte? Bermudadreieck: Fiege-Pils.
Gibt es Stadtteile, die Sie besonders meiden, warum? Hustadt (Sag’ ich nicht).
Was ist Ihre Lieblingsstadt? Nennen Sie die wichtigsten Attribute: Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum, Bochum.
In welcher Stadt würden Sie niemals leben wollen? Und warum? Es gibt keine andere Stadt, die schöner ist als Bochum „oder watt“. Noch keine Gedanken gemacht über eine andere Stadt.
Wie sicher ist Ihre Stadt? Es hält sich in Grenzen.
Welche Orte besuche ich? –
Wo liegt mein Herz? An … geht keinen was an! Außer Bochum.
Wo sind Sie unterwegs? (Unterwegs in Essen, unterwegs in Betten, unterwegs in…)
Mit dem Fahrrad, Motorrad oder Wohnwagen in ganz Deutschland, in fremden Betten weniger.
Steht das Ruhrgebiet auf sicherem oder unterhöhltem Boden? Schon mal was vom Schweizer Käse gehört?
Wenn Sie Angehörige/r im Stadtrat wären, was würden Sie am liebsten für diese Stadt politisch verändern/herbeiführen? Da ich Familienvater bin, müßten in ganz Bochum erst einmal die Spielplätze überarbeitet werden.
Was nehmen Sie mit aus dem Ruhrgebiet? Ich habe nicht vor, hier wegzugehen.
Auf welche Wörter/Begriffe aus dem Pott können Sie nicht mehr verzichten?
1. „ma eben“.
2. „komm gleich“.
3. „watt wilze“.
Was halten Sie von der Ruhr als solcher? Da habe ich meine halbe Kindheit verbracht.
Welchen Spruch haben Sie zuletzt in der Kneipe/in der U-Bahn gehört, der Ihnen aufgefallen ist und den Sie sich aus diesem Grund gemerkt haben? „Wilze watt mit der Wumme auf die Omme? Oder watt?“
Was hat Sie einmal beim Gang durch die Fußgängerzone erschüttert? (Häuser, Obdachlose, Dreck…) Gelsenkirchen Hauptbahnhof. Es gibt doch eine Menge dummer Menschen (Bochum Uni).
Wenn Sie an Ihre alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen denken, was fällt Ihnen in Bezug auf die Menschen im Ruhrgebiet ein? Einfach und geradeaus.
Werden die Menschen im Ruhrgebiet Ihrer Meinung nach früher alt? Warum? Heute nicht mehr.
Wann glauben Sie, daß die Menschen hier glücklich waren? Warum sollten sie es heute nicht mehr sein?
Das Thema Konkurrenz spielt hier (k)eine Rolle: –
Was ist hier krank? –
Was macht mich krank?
Der Müll (den die Studis hinterlassen, wo sie gehen und stehen).
Wie halten wir den ungeheuren Luftwiderstand aus? Im Bermudadreieck – nach drei Bier Fiege Pils.
Wie ertragen wir den Uringestank? Man muß auch mal wegschauen können.
Kennt man sich? Und ob!
Wißt Ihr schon, was Ihr trinken wollt? Klar: Fiege Pils.
Worauf trinken wir? Auf alles.
Wir sind… bereit.
Kann die Kneipe/der Nachtclub ein Zuhause sein? Nicht immer.
Kann die Barfrau meine Freundin sein? Warum? Wenn die Frau Lena D. heißt.
Was bedeutet zuhause? Da, wo ich mich wohlfühle.
Beschreiben Sie das Haus, in dem Sie wohnen: Alt – aber bezahlt.
Beschreiben Sie die Straße, in der dieses Haus steht: Durchgehend.
Bei mir um die Ecke gibt es… alles, was ich brauche.
Wo möchten Sie am liebsten ein Haus bauen? Kein Geld.
Was wäre Ihr Traumhaus? Beschreiben Sie: Finka auf Mallorca.
Die Wände in meinem Haus, in meiner Wohnung, speziell in meinem Zimmer sind dick/dünn/hellhörig, weil… –
Wenn Sie in einer hellhörigen Wohnung wohnen, was hören Sie, was vermeiden Sie? –
Was bedeutet für Sie ein Blick aus Ihrem Fenster?
Dann sehe ich meine dösigen Nachbarn (daß es auch noch andere Dinge gibt).
Was entspricht Ihrem Fenster:
einem Bild an der Wand
einem Ausweg ins Freie
eine Verbindung mit…
meinen Mitmenschen.
Was dominiert vor Ihrem Fenster:
das Vertikale/Horizontale
der Tag/die Nacht
Himmel/Erde
Natur/Kultur

Bedrohliches/Offenheit
Was spiegelt Ihr Gegenüber wider?
Lächeln, wenn ich zu ihnen schaue.
Welches Leben beobachten Sie? „Rollercoaster“.
Vervollständigen Sie die folgenden Sätze:
• Eine Stadt ist immer wie ein Versprechen…
und schon bist Du durch.
Rausgehen, in der U-Bahn sitzen… nur Ferngesteuerte.
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu: –
Ich will herausfinden, auf welcher Seite ich leben will. (Beschreiben Sie die Seiten, zwischen denen Sie sich entscheiden müßten, evtl. auch wie Sie sich dazwischen entscheiden):
Man kann nicht nur auf einer Seite leben. Man muß auch mal Kompromisse machen. Wenn es auch schwer fällt.
FAMILIE/BEZIEHUNGEN
Die Menschen, die mich zuhause umgeben, sind Freunde/ Fremde?
Familie ist für mich ein „heiliger“ Ort bzw. ein Rückzugsort?
Ich mußte/muß meine Familie erst finden? –
Familie ist etwas anderes als Blutbande.
Stimmt.
Bin ich der Sohn/die Tochter meiner Eltern? –
„Wenn ich bei mir zuhause in die Ecke komme, schmeiße ich nicht nur meine Tasche in die Ecke!“
Auch den Rest von mir.
Ausgehend davon, daß jede Familie ein Thema/Trauma hat (z.B. Schicksalsschlag, Verlust, Arbeitslosigkeit, Trennung/Scheidung), welches ist das Thema/Trauma Ihrer Familie? Mein Sohn ist die Nummer eins.
Wo verorte ich mich selbst? Ich bin der Chef (was meine Frau sagt, wird getan).
Mein Liebesleben ist schwer/leicht zu organisieren, weil… ich „verheiratet“ bin.
Stehen (Kopf)arbeit, Alltag und Gefühlsleben für Sie im Widerspruch? In welchem? Kein Kommentar.
Ich will eine Geschichte haben. Eine Geschichte mit einem Ende? Mit welchem Ende? Happy End. Die Wahrheit ist grausam genug.
Ich will nicht jeden Tag einen neuen Anfang haben. Ich will auch mal auf etwas aufbauen: –
Bin ich gut? Und warum?
Jeder hat Fehler.
Ich will nie so werden wie… Meister Brü…
Wir sind… aus Fleisch und Blut und 60% Wasser und davon eine Menge im Kopf.
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu: Ich habe jetzt keine Lust mehr.
– Bitte füllen Sie den folgenden Abschnitt nur aus, wenn Sie an der RUB studieren oder tätig sind –
UNIVERSITÄT
Stehen (Kopf)arbeit, Alltag und Gefühlsleben für Sie im Widerspruch? In welchem?
Die Uni ist (K)ein Ort des Aufstiegs:
Das Thema Konkurrenz spielt hier (k)eine Rolle:
Kann die Uni ein Zuhause sein?
Die RUB als kleine Stadt (Kino, Mensa, Läden, Bierklause, Radio, Wiesen, Blumen, Kaninchen): Ist Sie bewohnbar? Wenn nein, warum nicht?
Ist Sie ein Versprechen, daß nicht gehalten wird?
Ich bin gerne/nicht gerne an der RUB. Warum?
Was haben Sie bei Ihrer ersten Heißhungerattacke gegessen? Und woher hatten Sie es?
Steht die RUB auf sicherem oder unterhöhltem Boden? Welche Gerüchte haben Sie gehört? Was befindet sich unter den Gebäuden der RUB?
Der Architekt der RUB hat sich die Gebäude der RUB als Schiffe am Hang gedacht. Was transportieren sie Was ist ihr Hafen? Oder bewegen sie sich? Was halten Sie davon?
Im Moment bin ich so unkonzentriert, weil…
Wenn ich auf den Campus komme, fühle ich mich …, weil…
Happy Days gab es bei mir zuletzt, als…
Wir sind…
Fügen Sie diesem Themenblock eine weitere Frage hinzu:
BIBLIOGRAFIE
Haß, Ulrike: „Das Bergwerk Einar Schleef: Hören & Sehen“. In: Schleef Block 1: Anlässlich des 60. Geburtstages von Einar Schleef (1944-2001), hg. v. Einar-Schleef-Arbeitskreis Sangerhausen. Sangerhausen 2004 (I).
Haß, Ulrike: „Einar wie Keiner – Das Unbedingte des Theaters. Zum Tod von Einar Schleef“. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung Nr. 33 (10.8.2001).
Haß, Ulrike: „Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks EIN SPORTSTÜCK am Burgtheater durch Einar Schleef“. In: Transformationen. Theater der neunziger Jahre, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler. Berlin 1999.
Haß, Ulrike; Reich, Sabine: „Wo liegt das Ruhrgebiet?“ In: Programmheft WESTEND. Bochum 2004 (II).
Lehmann, Hans-Thies: „Theater des Konflikts. Einar Schleef@post-110901.de“. In: Einar Schleef. Arbeitsbuch, hg. v. Gabriele Gerecke, Harald Müller, Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Berlin 2002.
Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt a. M. 1997.

Hand in Hand durch den Text – Zur Zusammenarbeit von Elfriede Jelinek und Einar Schleef

Ein Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele

Alexander Kerlin: Frau Thiele, im Team von Claus Peymann haben Sie in den neunziger Jahren bis 2001 am Wiener Burgtheater und am Berliner Ensemble als Dramaturgin gearbeitet. Im Kontext verschiedener Arbeiten sind Sie dort auch Elfriede Jelinek und Einar Schleef begegnet. Wie haben Sie Herrn Schleef, wie Frau Jelinek kennengelernt?

Rita Thiele: Meine erste Begegnung mit Elfriede Jelinek hatte ich im Zusammenhang mit der ersten Jelinek-Uraufführung überhaupt an der Burg. Das war Totenauberg. Der Text lag der Dramaturgie im Theater vor, und ich war absolut fasziniert. Es galt, einen Regisseur für diesen
Text zu finden. Das war gar nicht so einfach, um ehrlich zu sein, weil damals diese Art von Dramatik, die ja nicht psychologisch ist, Avantgarde war, also noch sehr ungewöhnlich. Peymann hatte großen Respekt vor dem Stück, aber auch Skrupel, ob er selbst ein guter Uraufführungsregisseur dafür wäre. Er hat dann Regisseure zu mir in die Dramaturgie geschickt, und wir haben das Stück gemeinsam gelesen und diskutiert. Seitdem war ich an der Burg für die Jelinek zuständig. Es gab zwei Regisseure, die sofort auf den Text angesprungen sind und ihn sehr faszinierend fanden: Hans Neuenfels und Manfred Karge. Letztendlich hat dann Manfred Karge dieses Stück am Wiener Akademietheater uraufgeführt. Das war eine sehr spannende Arbeit, und wir haben viele Publikumsgespräche zum Stück und zur Inszenierung geführt. Und in diesem Zusammenhang habe ich Elfriede Jelinek persönlich kennengelernt.
Die zweite Arbeit war dann glaube ich Raststätte. Claus Peymann hat Regie geführt, ich war Produktionsdramaturgin. Das war eher schwierig. Peymann ist zwar ein toller Komödienregisseur und Kirsten Dene und Maria Happel, die die beiden Frauen gespielt haben, waren wirklich gut. Aber die Schauspieler haben mit Peymann ihre Figuren dann doch sehr im Innerlichen, Psychologischen gesucht. Der Schlüssel, wie mit Jelineks Sprache umzugehen ist, was für andere Spielweisen sie verlangt, wurde nicht wirklich gefunden. Castorfs Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus war, denke ich, die bessere Aufführung.
Meine Begegnung mit Schleef war Ende der neunziger Jahre. Elfriede Jelinek hatte Ein Sportstückgeschrieben und sich Schleef als Uraufführungsregisseur gewünscht. Dieser Bitte sind wir gefolgt. Wir haben ihm das Manuskript nach Berlin geschickt, Schleef kam daraufhin sofort nach Wien. Das erste Arbeitstreffen fand in der Wohnung von Claus Peymann statt, Elfriede Jelinek war nicht dabei. Das Stück ist wirklich ein Opus Magnum, und als Peymann und Hermann Beil, sein langjähriger Vertrauter, diese 140 Manuskriptseiten gelesen hatten, fanden sie es sehr fraglich, wie dieses Stück aufzuführen sei. So waren wir sehr neugierig, wie Schleef reagieren würde. Schleef kam dann sehr erschöpft vom Flughafen. Als erstes erzählte er, daß er sich an einem Küchenstuhl hätte anbinden müssen, um diesen Text zu Ende zu lesen, daß er die Lektüre auch als Folter erlebt hätte, aber daß er diesen Text für grandios halten würde und die Herausforderung der Autorin annehmen möchte. Er hat später auch den Schauspielern gegenüber oft betont, daß die Autorin uns da einen riesigen Felsbrocken hingerollt hätte, und der Fels müsse nun eben zurückgerollt werden. Ich glaube, daß das wirklich eine kongeniale Kombination war, diese beiden Menschen. Das Stück war wie für Schleef geschrieben.

Meike Hinnenberg: Ist das Sportstück für Sie die wichtigste Arbeit in der Kombination Schleef/Jelinek gewesen? Oder gibt es andere Projekte, die für Sie einen ähnlichen Stellenwert besitzen?

RT: In der Kombination Schleef und Jelinek habe ich das Sportstück gemacht und später in Berlin nochMacht nichts. Exakt eine Woche vor der Premiere hatte Schleef einen Herzinfarkt. Die Premiere mußte ausfallen und Schleef hat sich von diesem Infarkt letztendlich nicht mehr erholt. Makabrer Weise hat das Stück ja den Untertitel „Eine kleine Trilogie des Todes“. Natürlich hat diese letzte Zusammenarbeit für mich einen ganz besonderen, traurigen Stellenwert. Bei Macht nichts kannte ich Schleef bereits länger, das war für mich die intimere und vertrauensvollere Zusammenarbeit. Das Sportstück wird für mich unvergeßlich bleiben, weil ich Schleef hier kennenlernte und ich vollkommen fasziniert vor diesem Theatermacher stand. Bis heute bleibt Schleef für mich die künstlerische Persönlichkeit am Theater, die mich am meisten beeindruckt hat.
Während des Sportstückes hatte ich bei Schleef noch einen schweren Stand, weil er unbekannten Menschen gegenüber sehr mißtrauisch war, vor allem Mitgliedern der Theaterleitung gegenüber. Das hatte sicherlich mit seiner Vergangenheit in der DDR zu tun und seinem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber Menschen, auch Kulturschaffenden, mit Macht. Zu Theaterdirektoren und Direktionsmitgliedern, also auch zu Dramaturgen, von denen er befürchtete bespitzelt zu werden für die Direktion, hatte er ein ambivalentes Verhältnis.
AK: Im Schleef-Arbeitsbuch, das im Verlag Theater der Zeit erschienen ist, beschreiben Sie ausführlich das erste Treffen zwischen Jelinek und Schleef in Wien, bei dem Sie dabei gewesen sind. Sie berichten von einer merkwürdigen Befangenheit zwischen den beiden. Was hat Ihrer Einschätzung nach Jelinek an Schleef, was Schleef an Jelinek so fasziniert oder irritiert, daß es zu dieser Befangenheit kommen konnte?

RT: Die Befangenheit hatte sicher etwas mit gegenseitiger Faszination oder sogar Adoration zu tun, und für Schleef gab es sicherlich auch einen ganz unspektakulären Grund, ein bekanntes Phänomen: Regisseure haben oft die Befürchtung, daß Autoren, wenn sie zu früh Proben besuchen und ihre Erwartungen nicht erfüllt finden, irgendwie in den Probenprozeß einzugreifen versuchen, auf was für Wegen auch immer. Schleef hatte damit ja auch einschlägige Erfahrungen. Mit Herrn Hochhuth ist er wegen seiner Inszenierung von Wessis in Weimar ja fast vor dem Kadi gelandet. Bei Schleef war es also beides, eine Angst vor Einmischung durch die Autorin – sein ausgeprägtes Mißtrauen habe ich bereits erwähnt – und eine große Bewunderung. Später, nach der Uraufführung, war das Verhältnis zwischen den beiden entspannter: Beim Premierenapplaus ist Schleef nach vorne gegangen und hat eine persönliche Liebeserklärung an Wien und die Wiener formuliert, an die österreichische Literatur im allgemeinen und im besonderen an Elfriede Jelinek.
Elfriede Jelinek war mit Schleefs Frankfurter Regiearbeiten, auch mit seiner Literatur, gut vertraut. Sie schätzte Schleef ungeheuer – nach Faßbinder war er für sie das zweite deutsche Genie der Nachkriegszeit –, kannte ihn vor dem Sportstück aber nicht persönlich. Als Schleef dann live vor ihr saß, war sie wohl einigermaßen erstaunt. Irgendwie hatte sie sich, glaube ich, einen anderen Menschen vorgestellt. Dazu kam, er war an diesem Tag nicht gerade höflich, und das im Land der traditionell höfischen Höflichkeit. Die Art der Deutschen, sehr direkt ihre Gefühle zu artikulieren ist den Österreichern eher fremd.
Schleef und ich waren vorher den Schloßberg Sans Soucis hinunter gerannt, es war ein sehr heißer Tag. Er hatte sich unter einen Rasensprenger gestellt, bevor wir im Verabredeten Café eintrafen. Er war also klitschnaß und hochrot und sah wirklich ein bißchen aus wie ein Penner, auch wegen der Plastiktüten mit den Sportstück-Manuskripten, die wir dabei hatten. Dazu war er müde von der Probe und ein bißchen aufgeregt.
Sie haben sich dann schlichtweg angeschwiegen. Vielleicht hat er sich gedacht, erst mal ruhe ich mich aus. Vielleicht wollte er auch nicht gleich wieder losstottern, es war nicht gerade sein stotterfreier Tag. Für beide war das wohl eine eher anstrengende Begegnung.
Vor der Premiere vom Sportstück haben sich sie sich dann noch ein zweites Mal getroffen, bei einem Abend mit dem Titel Jelinek liest Schleef. Schleef liest Jelinek, eine von Peymann initiierte Einführungsveranstaltung für die Zuschauer. Elfriede hatte für diesen Abend ein Kapitel aus Droge Faust Parsifal ausgewählt, in dem Schleef über sein Kasperle-Spiel schreibt, über seine Kasperle-Puppen. Sie hat sehr schön gelesen. Schleef sollte im Gegenzug dazu aus dem Sportstück lesen, aber er liebte Überraschungen. Statt dessen hörte man zum ersten Mal die siebzig Schauspieler des Sportstück-Ensembles im Chor Passagen des Textes skandieren. Das war eine super Veranstaltung. Aber auch damals sind sich Jelinek und Schleef aus dem Weg gegangen. Hinterher saß Schleef mit seinem Ensemble in einer nahegelegenen Kneipe, die Autorin saß in der Kantine des Akademie-Theaters. Ich weiß nicht einmal, ob Schleef sich verabschiedet hat. Es war kein Krieg zwischen den beiden, aber irgendwie funktionierte ihre Beziehung über eine Distanz, sehr vorsichtig. Ich glaube, Schleef wollte so kurz vor der Premiere einfach nicht hören, was Elfriede Jelinek zu seiner Arbeit zu sagen hatte. Und Elfriede Jelinek ist ein sensibler Mensch, sie spürt, wenn Berührungsängste da sind. Außerdem war es ja nicht der erste Regisseur, mit dem sie konfrontiert war. Nach der Premiere hat sich alles total entspannt: öffentliche Liebeserklärungen von Schleef an Jelinek und umgekehrt, die Befangenheit war plötzlich weg.

MH: In der Sportstück Inszenierung gibt es eine Szene, in der Einar Schleef den Monolog der Elfi Elektra bzw. der Figur der ‚Autorin‘ spricht, während er langsam von der Brandmauer aus auf die Zuschauer zugeht. Auf dem Bodentuch, das die Bühne bedeckt, ist der Monologtext komplett aufgemalt. Auf einer bestimmten Textebene könnte man sagen, daß Frau Jelinek sich in diesem Monolog selbst als Autorin und Tochter thematisiert und sich in ein spannungsgeladenes Verhältnis zu der Figur der Elektra setzt, die den Mord ihrer Mutter Klytemnästra an ihrem Vater Agamemnon nicht ungesühnt lassen will. Bei mindestens einer Aufführung war Elfriede Jelinek ja auch selbst mit auf der Bühne, Hand in Hand mit dem vortragenden Schleef. Wie ist es zu dieser Szene gekommen?

RT: Schleef wollte von Anfang an, daß die Jelinek den Schlußmonolog selber spielt. Sie hat aber sofort gesagt, daß sie das nicht kann, sie sei zu aufgeregt dazu. Das könne sie wirklich nicht, zumal bei einer solch wichtigen, schon im Vorfeld viel besprochenen Uraufführung. Die nächste Idee, die Schleef dann verfolgte, war zwei ältere Schauspielerinnen zu fragen, Mutterfiguren eigentlich, Großmutterfiguren fast. Eine von beiden meinte, sie könne sich diesen Text nicht merken, woraufhin Schleef diesen Buchstabenboden erfunden hat, einen Teppich, auf den er den Text hat schreiben lassen.
Beide Schauspielerinnen haben letztendlich abgesagt. Da hat Schleef gesagt, dann mach ich’s eben selbst. Er hat diesen Monolog vor uns nie geprobt. Zum ersten Mal ist er drei Tage vor der Premiere auf die Bühne gegangen. Er hat das sicherlich zuhause geübt, für sich alleine, aber wir im Regieteam haben das eigentlich bis zum Schluß nicht zu sehen bekommen. Er hat sich von seiner engsten Vertrauten, Susan Todd, sagen lassen, ob er richtig im Licht steht und ist dann vor der Premiere den Text ein-, zweimal auf der Bühne durchgegangen. Ziemlich laut, wenn ich das richtig erinnere.
Wir hatten die Inszenierung bereits ein paarmal gespielt, da hat Schleef für Droge Faust Parsifal den Bremer Literaturpreis bekommen. Am Tag der Verleihung war aber bereits eine Sportstück-Aufführung disponiert. Schleef hat noch mal darum gebeten, daß Elfriede Jelinek den Text liest, wenn er nicht da ist, ihn also vertritt. Das war bereits ein paar Wochen nach der Premiere. Sie hatte noch immer großen Respekt und große Angst, hat aber schließlich eingewilligt. Sie hat sich nicht auf den Buchstabenteppich verlassen, sondern ist mit Manuskript rausgegangen und hat den Text mit Hilfe eines Mikroports gesprochen.
Und dann gab es eben diese Aufführung, in deren Anschluß ein Publikumsgespräch stattfinden sollte. Schleef und Jelinek waren beide da. Die Jelinek stand hinter der Bühne, und der Schleef auch. Ich habe dann den Vorschlag gemacht, daß beide gemeinsam rausgehen sollen. Als Hänsel und Gretel im Blätterwald. Dann sind sie Hand in Hand als Geschwisterpaar, wie Elektra und Orest, nach vorne gegangen und haben nach „Papi“ geschrieen, ein Wort, das sich im Text ständig wiederholt. Daß beide gemeinsam auf der Bühne standen, war also eigentlich Zufall. Heiße, konzeptionelle Diskussionen waren dem nicht vorangegangen. Es war aber auch ein Zeichen ihres Annäherungsprozesses.

MH: Was hat diese beiden Künstler noch verbunden, auf thematischer Ebene? Warum hat es diese Affinität gegeben?

Zum einen ist da natürlich die Figur des Chores, die bei Jelinek gerade im Sportstück im Vordergrund steht und die das künstlerische Lebensthema von Schleef gewesen ist. Auch die Figur der Mutter, die imSportstück im Zentrum steht: Droge Faust Parsifal läßt sich dazu fast als Sekundärliteratur lesen. Hier spricht Schleef von der Verdrängung der Frau aus dem Zentrum des tragischen Konflikts. Mit Jelinek kehrt die Frau ins Zentrum zurück. Das war sicher auch ein Aspekt, der ihn an diesem Stück interessiert hat.
Darüber hinaus gibt es biographischen Übereinstimmungen zwischen Schleef und Jelinek, die diese Affinität erklären könnten. Jelinek ist eine Autorin, die zeitlebens mit ihrer persönlichen Geschichte zu kämpfen hatte, und in ihrer Literatur findet das natürlich Niederschlag. Womit ich nicht sagen möchte, daß ihre Literatur und ihre Lebensgeschichte zu verwechseln wären. Aber natürlich ist die Auseinandersetzung mit ihrer Familie sehr bestimmend für ihre literarische Tätigkeit. Das kann man auch über Schleef und seine künstlerische Arbeit sagen. Er hat sich immer wieder mit Sangerhausen, seinem Herkunftsort im Thüringischen, und mit seiner Familie auseinandergesetzt. Da war wirklich eine Haßliebe, aus der er viel geschöpft hat für seine Kunst.
Die Auseinandersetzung mit einem kranken Vater ist auch etwas, was beide eint. Jelineks Vater wurde manifest psychisch krank, kurz bevor sie Abitur machte, und Schleefs Vater war herzkrank, wenn ich das richtig verstanden habe, jemand, der sehr früh bettlägerig wurde und ein Pflegefall war. Beide beschreiben das Gefühl, vom Vater im Stich gelassen worden zu sein, die Wut des Kindes gegenüber dem Vater, der, weil er krank ist, das Kind alleine läßt. Andererseits gibt es auch Schuldgefühle: Da ist jemand krank geworden oder aus dem Leben gegangen, dessen Ansprüchen man vielleicht nicht genügt hat. Ich glaube, das ist auch etwas, was Schleef und Jelinek vereint.

AK: Noch mal zu der angesprochene Szene aus dem Sportstück. Wenn ich den Videomitschnitt der Inszenierung anschaue und Herrn Schleef wiederholt und lautstark „Papi“ rufen höre, dann meine ich, da untergründig eine ganz persönliche Ebene mitklingen zu hören, Schleef also irgendwie auch seinen Vater anruft. Wäre das nächste große Projekt Schleefs die Auseinandersetzung mit der Figur des Vaters gewesen, nachdem in seinem Werk bis dahin die Auseinandersetzung mit der Figur der Mutter im Zentrum stand?

RT: Ich wage keine Behauptung darüber aufzustellen, was derzeit Schleefs Thema wäre. Ich finde aber, daß die Auseinandersetzung mit seinem Vater bereits passiert ist. In einem Roman wie Gertrud steht natürlich die Mutter im Zentrum, der Roman ist nach ihr benannt. Ich kenne aber sehr viele Texte über Schleefs Vater und ich habe nicht das Gefühl, daß mir der Vater weniger präsent als die Mutter wäre. Tatsache ist natürlich, daß der Vater früher verstorben ist. Tatsache ist auch, daß Schleef seine Mutter 1976 alleine in der DDR zurückgelassen hat. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater schon beerdigt und sein Bruder bereits im Westen. Die Mauer stand noch, 1989 war noch weit weg. Schleef mußte einfach davon ausgehen, daß er im schlimmsten Falle seine Mutter vor ihrem Tod nicht noch einmal wiedersehen würde. Er konnte ja auf keinen Fall zurück in die DDR reisen, da er Republikflucht begangen hatte. Und ob die Mutter in den Westen ausreisen durfte, war zumindest fraglich mit zwei republikflüchtigen Söhnen. Schleef mußte 1976 also davon auszugehen, daß seine Mutter in diesem Sangerhausen – ohne Söhne, ohne Mann – allein auf ihren Tod zugehen würde. Das hat ihn sicherlich belastet und in den ersten zehn Jahren im Westen sehr deprimiert, das kann man in seinen autobiographischen Texten nachlesen. Auch deshalb hat die Mutter wahrscheinlich so eine zentrale Stelle in Schleefs Werk eingenommen.
Um noch einmal auf die Auseinandersetzung Schleefs mit seinem Vater zurückzukommen: Schleef beschreibt in seinen Tagebüchern, wie sein Vater mit ihm nach Berlin fährt, um für ihn einen Studienplatz zu suchen, und mit ihm ins Kino und ins Theater geht. Das ist rührend, da merkt man, der Vater war auch stolz auf seinen Sohn und hat sich um ihn gekümmert.
Schleefs Vater war Baumeister und hat sich viel mit Kirchenarchitektur beschäftigt. Schleef hat Bühnenbild studiert. Es gibt durchaus eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Berufen. Schleefs Begabung für Räume, sie zu bauen, zu malen, zu gestalten, mag er vom Vater haben.
Und noch eine Anekdote: Schleef hat einmal gesagt: „Wenn die Leute ins Theater kommen und sagen, sie verständen kein Wort, zum Beispiel bei so einer Autorin wie Jelinek, dann sind sie selbst schuld. Die Leute müssen sich aufs Theater vorbereiten. Bevor wir ins Theater gegangen sind, hat sich mein Vater früher auch mit mir hingesetzt und den Schauspiel- oder Opernführer gelesen“. Sie sehen, die Beziehung zum Vater war durchaus wichtig.
Aber letztendlich gilt: Der Elfi Elektra Monolog ist weder ein Text von Jelinek über ihren Vater noch ist seine Realisierung durch Schleef im Sportstück eine Performance über seinen. Es geht in erster Linie um die Figur Agamemnons, nicht um die biologischen Väter Schleef und Jelinek. Es ist ein literarischer Text. Ich bestehe deshalb darauf, weil Autoren ja oft fälschlicherweise mit ihren Figuren identifiziert werden. Und es wäre mir unangenehm, die komplexen Zusammenhänge dieses Textes zu verkürzen auf die Aussage, Elfriede Jelinek hätte da einen Text über sich und ihren Vater geschrieben oder Einar Schleef hätte seinen Vater gemeint, wenn er nach „Papi“ geschrieen hat. Bei Jelinek darf man ihr ironisches Potential nicht vergessen. Der Name Elfi Elektra spielt ja auch auf die elektrische Jelinekpuppe in Castorfs Raststätten-Inszenierung an. Und Schleef war derjenige, der den Bezug zum antiken Elektrastoff in seiner Inszenierung besonders deutlich gemacht hat, indem er Szenen aus Hoffmannsthals Elektra mit den Schauspielern zusätzlich einstudierte, und diese Szenen zum Teil als Film, zum Teil auch live den jeweiligen Vorstellungen zufügte.

MH: Gerade vor dem Hintergrund dieser Agamemnongeschichte finde ich folgendes interessant: Schleef hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die Verdrängung des Chores aus dem Theater mit der Verdrängung der Frau aus dem Theater einhergeht. Mit Jelinek kehrt die Frau ins Zentrum der Bühne zurück, wie Sie es angedeutet haben, aber ihr Text wird in dieser Szene dann wieder von einem Mann gesprochen. Beide kommen Hand in Hand auf die Bühne, und Elektra wartet ja auch auf Orest, den Bruder, den Rächer, den Mann, der endlich handelt.

RT: Mag sein, daß Schleef auch an Orest gedacht hat, als er mit Jelinek gemeinsam die Szene gespielt hat. Davon abgesehen, er ist damals ja öfter als Performer aufgetreten, zum Beispiel mit seinem Nietzschemonolog Ecce Homo.

MH: Ich habe in einem Interview mit Ihnen gelesen, daß Sie Jelinek und Schleef gerade deshalb schätzen, weil die beiden auf dem Theater eine Kunstsprache sprechen. Was gibt es für eine Verbundenheit zwischen den beiden über die Sprache, das Sprechen, oder noch etwas weiter gefaßt: über den Text?

RT: Zunächst glaube ich, daß Schleef die Flächigkeit der Texte von Elfriede Jelinek entgegenkam. Sie kennzeichnet ihre Texte selbst als Sprachflächen. Ich glaube, wenn sie eine dialogische Autorin wäre, das hätte ihn gar nicht so interessiert. Ihn hat das Monolithische der Textblöcke fasziniert. Ob das die Figur der Mutter oder die chorische Figur ist, die spricht, diese Texte waren für die Art und Weise, wie Schleef mit Sprache umgegangen ist, einfach wunderbar geeignet. Das sind extrem musikalische Texte, Texte, die sich rhythmisch gut auflösen lassen, wenn man die Vokale oder die Silbenendungen untersucht. Schleef hat sie für die Schauspieler mit einer Art Notenschrift versehen, Betonungen geübt, Tempoanzug, Tempodehnungen, Sprechpausen festgelegt, wo ein Akzent liegt und wo nicht. Das geht nicht mit jedem Text, aber mit Jelinektexten funktioniert das wunderbar. Schleef ist kein Freund der Bühnenpsychologie gewesen. Auch die anderen Abende, die er bei uns inszeniert hat, also zum BeispielWilder Sommer nach Goldonis Trilogie der schönen Ferienzeit, waren keine psychologischen Arbeiten. Alle diese Inszenierungen haben mit der chorischen Figur und immer eher mit monologischen Strukturen als mit dialogischen Strukturen gearbeitet. Und Schleef war – wie Elfriede Jelinek – extrem musikalisch. Das war in all seinen Inszenierungen deutlich zu spüren.

AK: Wo wird denn im Geiste Einar Schleefs produktiv weitergearbeitet? Kennen Sie Nachwuchstheatermacher, die versuchen, seine Ansätze zu verfolgen?

RT: Es gibt einige, die versuchen, zu kopieren, wie er gearbeitet hat, was zumeist ärgerlich ist, weil sie niemals an die Präzision rankommen, mit der er gearbeitet hat, und mit welcher Wucht der Umsetzung. Er hat von den Schauspielern fast Unmenschliches verlangt, in der Koordination von Bewegungen und Sprache etwa, 35 Minuten Kampfsport auf der Bühne und gleichzeitig komplizierte Textpartituren skandieren.
Aber es gab natürlich schon vor Schleef Chöre auf der Bühne. Immer wenn man ein antikes Stück inszeniert, muß man sich ja mit Chorfiguren auseinandersetzen. Schleef war es, der der Theaterszene hier neue Impulse gegeben hat, auch durch seine theoretischen Essays wie Droge Faust Parsifal. Hier faßt er sein Theater theoretisch und interpretiert bestimmte Stücke, wie zum Beispiel Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, auch chorisch. Aber wenn Einar Schleef jetzt leider nicht mehr arbeiten kann, muß der Chor nicht von der Bühne verschwinden, weil alles Nachfolgende Plagiat wäre, das meine ich nicht. Es gibt einfach sehr flache, niveaulose Imitationsversuche, genauso, wie es auch flache Versuche gibt, Herrn Castorf zu imitieren. Das passiert allen stilbildenden Künstlern.
Anders zum Beispiel habe ich es bei der Nibelungen-Inszenierung durch Andreas Kriegenburg in München erlebt. Andreas Kriegenburg ist ein origineller Künstler mit einer wirklich eigenständigen Handschrift. Auch bei den Nibelungen gab es einen Anfangschor, 12 oder 16 Männer, das war sehr nah an Schleef. Trotzdem war da eine sehr intelligente Ironie des Zitierens im Spiel.
Ansonsten gibt es einige Regisseure, die sich immer wieder mit dem Chor befassen, so zum Beispiel Volker Lösch, seine Weber– oder Dogville-Inszenierung etwa. Aber das ist so weit weg von Schleef, das würde ich nicht als Kopie bezeichnen, ungeachtet dessen, ob es einem gefällt, oder nicht.

AK: Das heißt, daß es niemanden wirklich gibt, der sich den losen Enden von Schleefs Arbeit widmete?

RT: Doch, ich habe ja gerade einige Beispiele genannt. Aber es ist natürlich schwer, einen eigenständigen Weg zu finden. Außerdem überblicke ja auch nicht die gesamte Theaterlandschaft. Es kann ja sein, daß Herr Märki in Weimar mit Chören arbeitet, und ich bekomm das gar nicht mit. Ein weiteres Beispiel ist Patrick Schlösser. Der war Regieassistent bei Schleef und hat die Jungfrau von Orleans bei uns in Düsseldorf mit einem Chor gearbeitet. Das war eine sehr von Schleef beeinflußte Arbeit, was Patrick auch immer so benennen würde. Oder Martin Oelbermann, der Die Liebhaberinnenbei uns als Chorarbeit gemacht hat, was in diesem Fall aber weniger mit Schleef und seiner Art, die Sprache zu rhythmisieren, zu tun hatte, sondern sich aus der Analyse des Jelinek’schen Textes ergab.
Bernd Freytag, seinerseits ehemaliger Chorführer bei Schleef, weiß vielleicht noch am besten, wie Schleef seine Chöre gearbeitet hat. In Düsseldorf hat er die Chöre für Anna Badoras Antigone-Inszenierung einstudiert. So etwas kann schiefgehen. Der Schleef-Chor ist keine Bühnenbildfarbe, die man beliebig auf jedes Theaterprodukt auftragen kann. Mir ist es lieber, wenn sich Künstler von Schleefs Arbeit inspirieren lassen, aber ihren eigenen Weg gehen. Zum Beispiel Ihre Generation, die zwischen zwanzig und dreißig Jahren ist. Die wenigsten von Ihnen haben Schleefs Theater live miterleben können. Das finde ich spannend, wie Sie sich von seinen Texten inspirieren lassen. Das wird dann anders aussehen als bei Schleef, weil Sie seine Theaterarbeit nicht aus konkreter Anschauung kennen können.
Ich glaube letztendlich, daß in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt die Chorfigur auf der Bühne allgemein wieder an Bedeutung gewonnen hat. Ich möchte mich nicht zu großen politischen Behauptungen versteigen, aber sowohl bei Schleef wie auch bei Jelinek steht hinter ihren chorischen Arbeiten der Versuch, ein Thema gesellschaftlich anzugehen. Sich nicht auf die Psychologie der Kleinfamilie zu beschränken, sondern die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu bekommen. Insofern ist das Chorische immer mit einem politischen Blick auf die Realität verbunden. Und dann läßt sich fragen, wann solch ein Blick wieder aktuell wird, sogar notwendig ist. Wir bewegen uns auf Zeiten zu, die nicht nur mit kleinen Küchengeschichten erzählt werden können. Nichts gegen Küchengeschichten, aber da können wir angesichts der gesellschaftlichen Lage nicht stehen bleiben.

MH: Sie gehen ab der Spielzeit 2007/08 als Chefdramaturgin nach Köln. Werden Schleef und Jelinek dort eine Rolle spielen?

RT: Ganz bestimmt. Wir fangen zwar gerade erst an, den Spielplan zu konzipieren, aber Karin Beier und ich schätzen beide Künstler sehr. In Düsseldorf hatten wir nicht nur Die Liebhaberinnen im Spielplan, sondern auch Macht Nichts von Elfriede Jelinek. Und dann haben wir Schleefs eigene Theaterfassung von Gertrud uraufgeführt. Das war eine tolle Inszenierung von Thomas Bischoff mit Anke Hartwig, einer absolut beeindruckenden ‚Gertrud‘. Ich habe auch vor, mit Elfriede Jelinek über Köln zu reden. So oder so wird diese Autorin meine Arbeit weiterbegleiten. Und auch Schleef: Ich habe mir gerade die neuen Tagebücher für die Ferien gekauft. Ich war schon ganz wild darauf, daß sie endlich erscheinen. Seine Stücke lese ich immer wieder und überlege zum Beispiel, wie man seineNachtasyl-Variante, also Die Schauspieler, inszenieren könnte. Oder Totentrompeten, die auf der einen Seite den Präsidentinnen von Werner Schwab ähneln, auf der anderen Seite sehr DDR-spezifisch sind. Schleef hat ja auch mal Der Fischer und sin Fru dramatisiert. Das ist jetzt als Mitspieltheater von Milan Peschel in Berlin inszeniert worden. Schleefs Texte sollte man einfach immer wieder lesen und für die Bühne prüfen. Ich denke, daß noch ein paar andere Autoren in meinen Rucksack passen. Aber die beiden werden mich weiter begleiten, so oder so.

Thewis: Frau Thiele, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Bergwerk Einar Schleef: Hören & Sehen

1.
Auf dem Videomitschnitt von den Proben Einar Schleefs zu Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes von Elfriede Jelinek spricht Schleef Sätze aus dem Monolog DER WANDERER. Das ist ein alter Mann, der nichts anderes kann als wandern bis zum Umfallen. Ein Jedermann auf dem Weg, den wir alle gehen. Bei Jelinek ist der Wanderer „ein halber Mensch (aus) einem halben Haus“, ein halbfertiger, fertig gemachter, vielfach gedemütigter, ängstlicher, vielleicht bettnässendender alter Mann mit einer Neigung zum Philosophieren und einer flackernden Phantasie. Jetzt traut er sich etwas und ist unterwegs just auf dem Weg, den ein jeder geht.

Er spricht mit uns:

Sie können ihre Wege nicht vollenden, weil […] keine Welt mehr da ist, in die sie gehen können. Sonst fehlt Ihnen nichts. Grüß Gott, Sie Mann mit der Thermohose und Sie mit dem Rucksack, dem Steinschlaghelm und dem Lawinenschlagstock samt Tiefenmesser, der piepsen kann, ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Man trifft hier so selten jemand, wollen wir nicht ein wenig plaudern?

Stellen Sie sich bitte einen Moment lang vor, Sie würden von so einem übereifrigen Wanderer angesprochen, der den Parcours, den Sie aus gesundheitlichen, sportlichen oder ganzheitlich-meditativen Gründen absolvieren mit einem Weg grundsätzlicherer Art verwechselt und dann auch noch mit Ihnen plaudern möchte! – Der oder die auf diese Weise Angesprochene(n) reagieren offenbar mit Verachtung, denn der Monolog fährt an dieser Stelle übergangslos fort:

Mann, ich find dich Scheiße? Das sagen Sie da vor sich hin oder etwa zu mir? […] Was finden Sie? Etwas, das nicht Ihnen gehört? Mein Leben? Das haben Sie gefunden, und wenn ich noch einen Funken Verstand hätte, dann hätte vielleicht auch ich was davon, bevors weg ist? Mann, ich find dich Scheiße? Das ist also der Gegenstand Ihrer heutigen Ansprache, und Sie glauben, ich wär Ihr heutiger Ansprechpartner? Sie haben mich schon gesucht, um mir das zu sagen?

Schleef spricht dieses „Mann, ich find dich Scheiße“ relativ hoch und lautstark. Nach diesem Satz soll ein mehrstimmiger, nicht eindeutig formierter Frauenchor einsetzen, der sich mit erhobenen Armen und dem Rücken zum Publikum in den Bühnenhintergrund bewegt. Kein einfacher Vorgang, weil die Bewegungsrichtung vom Publikum weg in den Hintergrund strebt und dazu neigt, sich zu ‚verkrümeln‘. Schleef unterbricht immer wieder. Er will den Chorausdruck steiler und kräftiger. Er kämpft um die Vertikale. Vielleicht im Hinblick darauf, daß DER WANDERER von den Auswirkungen einer familiären Katastrophe gezeichnet ist und dies eine Vergeltung, eine Abrechnung oder was auch immer nahelegt, unterbricht Schleef den Chor einmal mit der Klarstellung: „Das ist hier kein Hoppel-poppel wie im bürgerlichen Theater. Wir sind hier in der Tragödie!“
Die Tragödie ist in der Neuzeit und der Moderne, die sie gegen das Paradigma des Komischen ausgetauscht hat, unerreichbar geworden. Seither sind die Versuche nicht abgerissen, der tragischen Erfahrung dennoch eine Möglichkeit des Ausdrucks zuzuweisen. Aber die zwischen der Unendlichkeit (der Toten) und der Endlichkeit (der Lebenden) zerrissene Katastrophenstimme der Tragödie läßt sich im Bereich der schönen Kunst nicht repräsentieren. Sie gleitet in das Moralische ab, wird zur inneren Stimme des Gewissens oder breitet sich in den Formen des Trivialen und der Kolportage aus (was nicht ihre schlechtesten Überwinterungsmöglichkeiten sind). Sie wird in der unmöglichen Form von Kollektivsubjekten gedacht oder, radikal entsprachlicht, in der somatischen Reaktion des Körpers als Wirkung wahrgenommen. Schleef hat sich in solch groben Rastern nicht geäußert, aber sein Theater ist getragen von dem Versuch, die Trennung und wechselseitige Verarmung von Schauplatz (Theater) und Stimme/Musik (Oper) zu unterlaufen. In dieser Trennung ging nicht nur die Orchestra des Chores, sondern auch die Möglichkeit der Passion drauf. Für beide Felder hat sich Schleef brennend interessiert.

2. Hören & Sehen zum ersten

Ein langes Bild in einer Nachrichtensendung mit dem Namen Zeit im Bild um 19.30 Uhr im österreichischen Fernsehen. Das Bild zeigt einen Moment aus dem Ex-Jugoslawienkrieg: Ein verwüstetes Dorf, zerstörte Häuser, eine Frau, die sich gebeugt hält oder bückt. Manfred Moser, der Sprachphilosophie und Rhetorik an der Universität Klagenfurt lehrt, berichtet von dieser Szene im Fernsehen, daß in diesem kaum bewegten Bild, das die Sendung aufhielt, ein Singen zu hören war – nein, eher etwas wie Jammern und Quengeln oder ein Mittleres zwischen beidem. Die Stimme ging auf und ab. Manfred Moser vor dem Fernseher versuchte, dies zu notieren: i-e-i-e-i-e-i-e-i-e-i-e-i. Gleichzeitig folgte diese Stimme jedoch nur einer einzigen Linie, stur und schubweise. Er notierte: e-e-e-e-e-e-e-e-e-e-. Es war dieselbe Stimme, befand er, aber deutlich entzweit in linguistische und akustische Merkmale. Er gelangt aufgrund dieser Beobachtung zu der Meinung, daß es sich ‚ungefähr um Gesang‘ handele.
Nach einer Weile, die lang genug war, um dieses Bild in seiner Fremdheit zu bemerken, es aufzuschreiben (1996) und damit dem Gedächtnis anderer Leser oder Leserinnen zur Verfügung zu stellen, also nach einer Weile, die lang genug war, um solche merkwürdigen und dauerhaften Spuren zu zeitigen, griff in jener Fernsehsendung der Kommentator aus dem Wiener Studio ein, indem er sich mit seiner wohltemperierten Sprecherstimme über das Bild und seinen Ton warf mit dem Satz: „Eine kroatische Frau sucht in den Trümmern nach Wertsachen.“
Die übersprochene Tonspur ist damit augenblicklich entkleidet. Sie sackt in sich zusammen und wird zum Hintergrundgeräusch. Was haben wir jetzt? Ein Bild, das sich so geringfügig bewegt, daß es einem Standbild gleicht und ein Geräusch. Beides für sich und mehr noch in dieser Kombination bildet eine für das vom Bildwechsel und Schnitt lebende Medium Fernsehen unerträgliche, gleichsam tödliche Situation. Das Medium leidet.
In der von Moser beschriebenen Sendung naht Abhilfe in Gestalt eines landeskundigen, zweisprachigen Reporters, der mit einem Mikrophon in der Hand wie aus dem Nichts auftaucht und Fragen stellt: Wer war schuld? Wie ist es geschehen? Was wird das Opfer tun? Hier bleiben, das Haus wieder aufbauen? Oder fliehen? Und wohin? Die Kroatin im Bild beantwortete die Fragen des Reporters.
Während sie antwortete, mischte sich eine weitere, weibliche Stimme aus dem Off ein, um ihren Text zu übersetzen. Diese Off-Stimme reihte nach bewährter Manier Wörter an Wörter auf der Oberfläche aneinander – von maßlosem Unglück und von Gott war die Rede –, während die Stimme der antwortenden Kroatin sich im Bild nebenbei weiter herumtrieb, als lärmender Untergrund, als pure lautliche Materie.
Wollte man diesen anfänglich wahrgenommenen Rest an Sprache theoretisch erfassen, schreibt Manfred Moser, so könnte man sagen: Eine Frau singt in ihrer Muttersprache. Sicherlich sei es möglich, diesen Gesang mithilfe von Grammatik oder unter bestimmten systematischen Aspekten zu analysieren. Doch darum ginge es nicht. Denn zweifellos lag hier etwas im Untergrund verborgen, das die bewährten Grundmuster der Analytik sprenge: Die Matrix der Klage.

3. Das übersprochene Bild

In dem Moment, in dem die Stimme des Kommentators eingreift, werden sowohl das sich kaum bewegende Bild als auch die fremde Stimme augenblicklich entwertet. Sie werden zum Objekt eines Kommentars und können als übersprochenes Bild und als übersprochener Ton nicht mehr selbst Mitteilung machen. Sie sinken zur Kulisse und zum bloßen Geräusch herab. Vor dem Hintergrund dieser entwerteten und jetzt im Sinne des Mediums wertlosen Kulisse breitet sich das professionelle Sprechen des Mediums aus: Der Reporter als Dialogführer, die Übersetzerstimme aus dem Off. Sie binden die Szene auf Biegen und Brechen in eine grammatikalisch korrekt und logisch geführte Sprache zurück, die sich jedoch auf eklatante Weise von der Szene entfernt und ihren fremden Sinn verschließt. Dieses mediengerechte Sprechen, das heute immer stärker unseren Alltag durchdringt, bekämpft die Stille der Bilder, ihre Bewegungsarmut, ihre Spracharmut, ihre Flüchtigkeit, ihre Mehrdeutigkeit, ihren mangelnden Eklat.
Schleef hat diesen zwanghaften Ablauf zwischen Sehen und Sprechen zum Inhalt eines eigenen Theateraktes gemacht. Seine Inszenierung von Salome nach Oscar Wilde (1997, Schauspielhaus Düsseldorf) beginnt mit einem lange still stehenden Bild, in dem etwa 14 Schauspieler in der Form des perspektivischen Kegels nach hinten gestaffelt regungslos verharren. Ihre Kostüme lassen keine eindeutige Identifizierung zu, ebensowenig ihre Gruppierungen. Das Licht spielt mit der Wahrnehmungsgrenze des eindeutigen Erkennens. Es bildet Grauzonen und unscharfe Ränder. Hinten in der Mitte, also im Fluchtpunkt oder im Augenpunkt des Autors, war eine nackte männliche Gestalt zu erkennen, die im Nackenstand verharrte, während sie die Beine nach hinten gekippt hielt und auf diese Weise ihr Geschlecht entblößte, was sich jedoch aufgrund der Körperhaltung eher errechnen ließ, als daß es unter den Bedingungen der Sichtverhältnisse mit Sicherheit zu erkennen war.
Dieses Standbild der Schauspieler löste schon nach kurzer Zeit heftige Reaktionen im Publikum aus. Das Interessante an den Kommentaren war, daß sie das Muster des mediengerechten Ablaufs von Sehen, Sprechen und Bewegung einklagten: Anfangen! Ich will mein Geld zurück! Verarschen kann ich mich selber! Tut doch endlich mal was für euer Geld! Oder die Gegenreaktionen: Wenn du nichts davon verstehst, geh nach Hause! Das ist hier Kunst und nicht Fernsehen! Halt deinen Mund, du störst die anderen! Mir gefällt das Bild, halt deinen Rand! et cetera. Oder auch spontane Definitionen: Theater ist Bewegung im Raum! Das ist kein Theater, sondern Mißbrauch der Schauspieler!
Bei den ersten Aufführungen in Düsseldorf dauerte dieser Akt zwölf Minuten, bei der Aufführung im Rahmen des Berliner Theatertreffens waren es schon dreißig Minuten. Am Abend nach dieser Aufführung diskutierten die Schauspieler, diesen Akt auf vierzig Minuten auszudehnen. Sie hatten ein außerordentliches Vergnügen an diesem Bild und dem Vorgang, den es auslöste.
Das Interessante war, daß die Ebene der Publikumskommentare sich mit der Dauer des Bildes nicht wesentlich veränderte. Die Kommentare verblieben auf der skizzierten Ebene und klagten den Zwangszusammenhang von Sehen, Sprechen und Bewegung ein, diesen gut geschmierten Muskel, der im Illusionstheater den Ausdruck hervorbringt. Sie waren Kinder der bürgerlichen Arbeitsteilung zwischen Sehen und Sprechen, in der ein Bild zwanghaft nach einem Sprechen verlangt, welches unvollständig bleibt und daher auf ein nächstes Bild angewiesen ist. In diesem Wechselspiel und Zwischenraum werden Bedeutung und Ausdruck hervorgebracht. Je stärker Bedeutung und Ausdruck jedoch vorfabriziert sind, etwa durch die Konzeption einer Inszenierung oder den speziellen Horizont eines Regisseurs, um so mehr verflacht das Wechselspiel zu einem puren Mechanismus der Oberfläche. Nicht wer spricht ist die Frage, sondern wer hat was vor welchem Hintergrund oder mit welchem Requisit in der Hand gesagt? Bild und Wort bedeuten sich wechselseitig. Das Lesen gleicht dem Verfolgen eine Comics. Im Griff der Medien wird eines Tages der Schnitt die ganze Botschaft sein.
Schleef behandelte dieses Bild als eigenständigen Akt insofern, als danach der Eiserne Vorhang geschlossen wurde und, egal ob es sich um zwölf, dreißig oder vierzig Minuten handelte, eine große Theaterpause angesetzt wurde, bevor das Spiel von Salome begann, die vor ihrem begehrlichen Vater tanzt und dafür den Kopf des Propheten fordert. Was zwischen dem Vater und dem Propheten ausgespart bleibt, ist das Geschlecht des Mannes, das weder zu erkennen (Prophet) noch zu benennen ist (Vater), aber ausgestellt wurde im stummen Bild zu Beginn der Aufführung. Im Zentrum der Konstruktion solcher Geschichten, die den Namen einer Frau tragen, von der wir sicher sein können, daß sie in der nach ihr benannten Geschichte zugrunde geht.

4. Der übersprochene Ton

Ein anderer Aspekt der geschilderten Fernsehszene aus Zeit im Bild knüpft sich an den Inhalt des Kommentars, der die Szene benennt und ihr den Sinn zuschreibt: „Eine kroatische Frau sucht in den Trümmern nach Wertsachen.“ Es ist nicht auszuschließen, daß die im Bild zu sehende Frau danach suchte. Ebenso wenig ist jedoch auszuschließen, daß sie nichts oder nichts Bestimmtes suchte und ihre gebeugte Haltung eher eine Folge oder ein Ausdruck ihres eigenartigen Gesangs gewesen war. In diesem Fall wäre dem vorbeikommenden Fernsehteam die Frau also zufällig in die Augen gesprungen und es hätte sich auf die Schnelle seinen eigenen, medienträchtigen Reim auf sie gemacht. Die lange unkommentierte Einstellung zu Beginn dieser Szene spricht durchaus für diese Möglichkeit – bis sich die Studiostimme des Kommentators endlich über das Bild gelegt und damit die fremde Stimme, die darin zu hören war, bezwungen hat. Augenblicklich ist sie nicht mehr als ein Geräusch. Sie wird befragt werden und so ordentlich antworten, daß man sie übersetzen kann. Das jedoch was sie zuvor war, dieses Etwas zwischen Jammern, Quengeln oder Gesang, das einen Rhythmus hatte und auf Vokalen beruhte, die sich notieren lassen, das wird fort sein. Ihre Klage wird fort sein. Ihre Stimme mäandert als akustischer Müll im Hintergrund der Übersetzerstimme aus dem Off. Der Inhalt des Kommentars bezieht Stellung gegen die Möglichkeit der Klage. Aggressiv bekämpft er diese Möglichkeit, damit er selbst und die Regeln seines Mediums statt haben können.
Im selben Text führt Manfred Moser eine andere Klage-Szene an. In einem Krankenhaus drängten sich etwa dreißig oder vierzig Zigeuner durch die Gänge und bildeten einen schrillen Chor: Eines ihrer Kinder war gestorben. Ihre Klage übertönte jeden bekannten Gesang, obwohl Gesang und Klage die gleiche Intensität und Frequenz besitzen und in gleicher Weise durch Pressung des Kehlkopfs und Verkürzung des Ansatzrohres erzeugt werden. Doch jede Erklärung, so Moser, ginge in diesem Fall fehl, weil es unmöglich sei, den Ton dieser Klage zu treffen: Ein annähernd vokalloser und ohrenbetäubender Schrei, der sich nicht durch Buchstaben einrahmen läßt. Moser notierte „j-j-j-j-j-j-j-j-j“ und fügte sogleich hinzu, daß man ihn auf diese Weise nicht schildern könne. Es war, schreibt Moser, als führe ein harter, ganz gerader Riß, der dem unendlichen Raum entsprang, wo die Toten sind, durch den endlichen Raum, den die Lebenden für sich besetzten, und als störte er nun den gesellschaftlichen Frieden. Dabei sei jedoch sicher, daß die Störung nicht von der jämmerlichen Erfahrung eines Unterschieds zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt ausging, sondern von einem Zusammenprall herrührte.
Es geht im Zusammenhang mit der Arbeit Schleefs um diesen Riß, dessen Erfahrung eine äußerste Artikulationsmöglichkeit besaß in der Kultur der Klage, in der Katastrophenstimme der Tragödie und im Schweigen des Bildes.
Dieser Riß ist in einer langen Geschichte der Trennung von Ausdruckssystemen seiner Artikulationsmöglichkeiten beraubt worden, und die geschilderte Szene aus der Fernsehsendung zeigt genau, wie das unter gegenwärtigen medialen Bedingungen gemacht wird. Aber der Riß ist deswegen kein Deut weniger aktuell oder minder virulent. Damit entsteht an dieser Stelle ein Darstellungsproblem.
Das Beispiel aus der Arbeit Schleefs, das hier zu nennen ist, ist Ein Sportstück. Im Text Jelineks geht es auf der einen Seite um den endlichen Raum der Lebenden, konzentriert im Phänomen der Körperertüchtigung und des Trainings von lebendigen Körpern. Sport wird als ein eminent gesellschaftlicher Vorgang begriffen: Im Massensport und in der medialen Vermarktung des Sports verschmilzt die Gesellschaft der Lebenden mit der kämpferischen Verfassung und den kriegerischen Herkünften des Sports. Sport wird im Sportstück keinesfalls nur als Metapher benutzt, sondern als Austragungsort jener erbitterten Machtkämpfe von Organisationen, Marktstrategen und Medien gezeigt, welche die Sprache der Lebenden darstellen, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Zwecke zu erreichen.
Die Mittel bestehen vor allem in biochemischen Manipulationen der Sportkörper, die für den Sieg des (Medien-)Bildes manipuliert werden, die sich aber gleichzeitig für ihr Vorbild auch manipulieren lassen. Die drogierten Sportlerkörper bilden das vorläufige Ende jener langen Kette von rituellen Drogeneinnahmen, die seit jeher Gemeinschaften stifteten. Im Gegensatz zu der öffentlichen und gemeinsam geteilten Aufnahme der Substanz Christi im Abendmahl, vollzieht sich die Drogeneinnahme der Sportler jedoch einsam und im Verborgenen. Sie kann sogar mit Gefängnis geahndet werden, wenn sie öffentlich wird. Dennoch stiftet das Ritual des Drogenkonsums der Sportler Gemeinschaften wie ehedem, in diesem Fall die Gemeinschaft der Bilder verzehrenden Fernsehgesellschaft.
Die Kosten dieses Zusammenhangs trägt der Sportlerkörper. Er ist das Opfer dieser mediatisierten Gemeinschaftsbildung. Im Fall von Jelineks Sportstück ist es der Körper des steirischen Kraftsportlers Andreas Münzer, der an einer lang andauernden Überdrogierung starb.
Der gesamte Bereich, in dem dieser Körper in den Tod involviert ist, hat keine Sprache. Von biochemischen Reaktionen, die sich im Körperinneren abspielen und dem Versagen biochemischer Ketten gibt es kein Bild, kein Theater. Die Grenze des Todes, die dieser Körper permanent erleidet und überschreitet, ist ohne Möglichkeit der Artikulation. Damit ist ein immenses Ausdrucksproblem verbunden, zumal diese Form des Todes längst zum Modell des alltäglichen Todes, der uns umgibt, avanciert ist: Der Tod durch sogenanntes körperliches Versagen.
Für die Inszenierung nutzt Schleef zentrale Mittel seines Formenkanons, den er im Verlauf seiner gesamten Theaterarbeit entwickelt und, mit dem Bemühen um immer größere Klarheit, ständig weiterentwickelt und präzisiert hat. Zum einen geht es um das Prinzip einer Überhöhung der Figuren. Andi und seine Mutter wachsen ins Riesenhafte. Die Mutter erscheint auf Kothurnen oder in riesige Röcke gewandet, stets als Einzelfigur. Andi wird als Prototyp des Kindes, von denen es viele gibt, aufgefaßt. Daher erscheint Andi als Chor, hier als Chor der von ihren Müttern auf die Überholspur geschickten Kinder. Der Chor selbst ist zum einen Figur und gleichzeitig Form und Mittel, mit denen zwischen Worten wie „Müsliriegel“, „Riegelführer“ und „Mutterkuchen“ etwas hörbar gemacht werden kann, was die Artikulation der Passion erlaubt.
Im Zentrum der Inszenierung wird der Choral O Haupt voll Blut und Wunden aus der Matthäuspassion gesungen. Er verhält sich zur Inszenierung wie ein Emblem im Sinne des Barock mit den Zeilen: „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn / … / O Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret; gegrüßet seist du mir.“ Emblematisch läßt sich dieser Choral auf die Welt des preisgekrönten, hoch geehrten Sportlers beziehen, der durch die schäbige Geschichte, die auf der Rückseite der Bilder spielt, verhöhnt wird, Passion und Tod erleidet. Diesen Toten grüßend zu empfangen aber obliegt dem Chor und vermag einzig der Chor.

5. Hören & Sehen zum zweiten

Warum hat der Chor, so wie Schleef ihn für das Theater neu erfunden hat, diese ungeheuerliche Möglichkeit – nicht die Prozesse zu zeigen, die alltäglich tödlich und unsichtbar sind – sondern die Passion, den Aufschrei, die Klage hörbar werden zu lassen? Auf die Dimensionen, die das Bergwerk Einar Schleef mit dieser Möglichkeit des Chores in Bewegung versetzte, sei hier wenigstens andeutungsweise hingewiesen.
Die Einführung oder Wiedereinführung des Chores bildet einen direkten Angriff auf die entscheidende Trennung, die unsere modernen Ausdruckssysteme und -bedingungen bis heute zementieren. Aus dem frühen 17. Jahrhundert datiert die Auseinanderdividierung von Sehen und Hören, von Schauspiel und Stimme in ihren je eigenen Theatern, die sich in der Form zweier Totgeburten festfuhren, im Guckkasten und in der Oper – was natürlich nicht heißt, daß man die in ihnen leidenschaftlich erkämpfte Kunst des Ausdrucks nicht lieben kann. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
In dieser Trennung ging die Orchestra als Ort des Chores, sowohl in architektonischer als auch in systematischer Hinsicht verloren. Die Orchestra gehörte zu einem Theater, das sich als ganzes als eine Anlage in der Vertikale wußte. Die Hauptachse der Kommunikation organisierte sich im offenen Horizont über dem Theater. Weit ab von der erst mit der christlichen Vorstellung aufkommenden Frage, ob man von ‚dort oben’ gehört oder gesehen würde, war die Öffnung in die kosmische Dimension wesentlich. Mit der Überdachung von festen, stabilen Theateranlagen im späten 16. Jahrhundert, mit dem Einzug des Theaters in geschlossene, fensterlose, gegen das Außenlicht abgedichtete Baukörper wird der Horizont in der Horizontale organisiert, auf der Leinwand, die den Abschlußprospekt bildet. Aber, so Merleau-Ponty, „die Leinwand hat keinen Horizont“.
Vor der Wirkung dieses nur im Bild behaupteten ‚Horizonts‘ gerät alles zur Kontur, zum Dekor, zur äußeren Bildwirkung, gegen die der moderne Schauspieler seinen lebenslangen, existentiellen Kampf antritt. Vor der Bildwirkung dieses ‚Horizonts‘ geriet auch der Chor zur monumentalen Kulisse (in der Oper etwa).
Die Schleefschen Chöre brechen aus dem Gefängnis dieser bildhaften Wirkung aus. Von daher heißt es zuerst: Der Chor ist das Sprechen. Die Ablösung vom audiovisuell gelenkten Sinn der Sprache beginnt schon in dem Moment, wo zwei gleichzeitig denselben Text sprechen. Wir hören dann nicht mehr nur die Oberfläche, sondern etwas dazwischen. Im Rhythmus der Sprache ergeben sich Aufmerksamkeiten, die nicht mehr nur dem Mittel der Sprache folgen, ihren Logiken und ihren Zwecken der Mitteilung. Vielmehr läßt eine plötzlich eintretende Asymmetrie von Sprache und Sinn, wie sie das gleichzeitige Sprechen von mehreren darstellt, plötzlich ein Sprechen hinter der Sprache hören. Eine Mitteilung für sich anstelle einer Mitteilung mittels Sprache. Etwas wie einen Gesang in der Muttersprache, welche für alle verschieden ist.

6. Etwas

In der Philosophie wird die Möglichkeit der Wahrnehmung von etwas, das hinter oder zwischen dem manifesten Sinn der Sprache im Sprechen aufscheint, als ihre akroamatische Dimension bezeichnet. Das leitet sich von gr. akro astai her, das heißt: hören lassen, vernehmen, auf etwas hören im Sinne von achten. Es handelt sich um ein zwischen Sprechen und Hören spielendes Verstehen.
Wir verstehen dann etwas, was sich nicht sagen läßt. Wir verstehen etwas, das sich als dieser Riß durch unser Leben zieht und das andauernd, gegenwärtig sowie unabhängig von unserer mehr oder weniger gelingenden Aktualität ist. Etwas, das früher die Kultur der Klage, die Katastrophenstimme der Tragödie, das Schweigen des Bildes artikulierte. Etwas, von dem zuletzt der Barock eine starke Ahnung hatte, wenn es zum Beispiel in der Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen von Johann Sebastian Bach in der Arie des Basses lautet – ich zitiere den gesamten Text dieser Arie, der aus einem einzigen, sehr kurzen, dreiteiligen Satz besteht: „Bereite dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben.“
Das Wörtchen ‚denn‘ zeigt üblicherweise Ursache-Wirkung- oder Mittel-Zweck-Relationen an. Dieses denn läßt sich jedoch auf alles oder nichts beziehen und verliert damit seinen logisch begründenden Status. Ebenso wenig wie eine Ursache zeigt es Zweck oder Mittel an. Der Tod als Ende jeglicher Wirkung und Zwecke ist solchen Relationen entzogen. Das denn in diesem Text ist barock. Etwas, das sich als Riß durch unser Leben zieht, ist darin zu hören. Etwas zwischen Laut und Bedeutung, denn dieses Wörtchen vermag wohl gesprochen und gehört zu werden, aber hinsichtlich seiner Bedeutung entzieht es uns den Grund und macht einfach nichts. Macht nichts.
Dieses barocke denn ist verbunden mit dem Raum und der Möglichkeit der Passion. Darin gleicht es dem Chor.

BIBLIOGRAFIE

Jelinek, Elfriede: Machts nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinbek bei Hamburg 1999.
Moser, Manfred: „Voice-Over. Über den Balkankrieg, die Lage der Nation und das Wetter“. In: Wer inszeniert das Leben? Modelle zukünftiger Vergesellschaftung, hg. v. Frithjof Hager; Hermann Schwengel. Frankfurt a.M. 1996, S. 111-120.
Riedel, Manfred: Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1990.

Bruchstücke zur Politik des Chors bei Einar Schleef

1. Der Raum des Chors: Die Leerstelle

Etwas fehlt. Und offensichtlich länger schon. Vor genau 200 Jahren beklagt Schiller im Vorwort zurBraut von Messina den, am Vorbild einer idealisierten Antike gemessenen, Zerfall und Verlust des öffentlichen Lebens:
Der Palast der Könige ist jetzt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Toren der Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt. (Schiller 1992, S. 474f.)
Privatisierung und Individualisierung auf der einen, das abstrakt gewordene Gemeinwesen auf der anderen Seite zerreißen nach Schiller bereits das öffentliche Leben der frühbürgerlichen Gesellschaft. Scheinbar ganz auf sich und seinen häuslichen Kreis zurückgeworfen, ist der einzelne gleichwohl der Abstraktion, dem „abgezogenen Begriff“ (Schiller) staatlicher Macht ausgesetzt. (Gegen den Staat als Abstraktion des Gemeinwesens, in dessen Regelwerk sich das Gesetz des Vaters niedergeschlagen hat, soll die Gemeinschaft gleichsam ein ‚mütterliches‘ Gegengewicht schaffen, ohne die Gewalt der staatlichen/väterlichen Abstraktion aufzuheben. Zur daraus resultierenden psychotischen Konstruktion von Gemeinschaft siehe im Folgenden den Abschnitt „Agora phobia.“) Besser geworden ist es seither nicht: Zwischen den Datenströmen des Gemeinwesens, an die unsere Sinne nicht heranreichen, und den Wohnhöhlen, in denen wir es uns gemütlich machen, klafft eine Leerstelle. Sie will ausgefüllt sein. Für Schiller kommt der Poesie, genauer: der poetischen Deklamation des Chores, die Aufgabe zu, die Leere des öffentlichen Raums wieder mit Leben zu füllen:
Der Dichter muß die Paläste wieder auftun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wieder herstellen und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und um denselben (…) abwerfen. (Schiller 1992, S. 475.)
Schiller träumt von der Restauration einer sinnfälligen, unmittelbaren Einheit des Privaten und Öffentlichen, also des genuin Politischen , (Im Unterschied zum abstrakten Gemeinwesen des Staats und zu den komplementären Verschmelzungsphantasien, die die Communio der Opfergemeinschaft beflügeln, wäre das öffentliche Leben als Medium des Politischen als Ort des Widerstreits, Erfahrungsraum von Auseinandersetzung, als „Mit-Teilung“ (Nancy) oder als geteilte Gemeinschaft zu denken.) im Medium des wieder eingeführten Chors im Theater. Die poetische Deklamation des Chors soll – so Schiller – die Leerstelle ausfüllen, die sich nach dem Verlust der ‚natürlichen Poesie‘ des öffentlichen Lebens aufgetan hat. Der Chor bei Schiller behauptet die Versöhnung zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen. (Siehe dazu auch Heeg 2006.) Heute wird Schillers Traum von denMedien, entgegen Schillers Intentionen, durchs Ausblenden und Überspielen der Leerstelle, nicht zuletzt durch die Personalisierung von Konflikten in die Tat umgesetzt. (Eines der prägnantesten Beispiele dafür gerade im Hinblick auf einen möglichen Umgang mit der Politik des Chors war in letzter Zeit die Personalisierung der Auseinandersetzung um Volker Löschs Inszenierung von Hauptmanns Die Weberam Staatsschauspiel Dresden (2004) durch die Fokussierung der Kritik auf die angebliche Morddrohung gegen Frau Christiansen, die dort von der Bühne ausgehen sollte.) Anders im Chor-Theater Einar Schleefs: Die Leerstelle schreibt sich hier schmerzhaft in den Körper der Akteure ein.
Wie Schiller hat auch Einar Schleef im Chor das geeignete Medium gesehen, die Dimension des Politischen, vom öffentlichen Leben der griechischen Polis her stammend, wieder erfahrbar zu machen. Anders als Schiller arbeitet Schleef jedoch nicht an der poetischen Restauration eines verlorenen Ideals, das in Wirklichkeit nie existiert hat.
„Der antike Chor“, so Schleef in seinem Buch Droge Faust Parsifal, „ist ein erschreckendes Bild. Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so, als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen.“ (Schleef 1997, S. 14.)
Der Chor nach Schleef: das ist eine Masse von Ausgestoßenen, Elenden, Entwurzelten, die sich zusammendrängen, weil sie – jeder für sich – zu schwach sind, und die es doch zusammen kaum aushalten, es sei denn, sie stoßen ihrerseits einen einzelnen aus, um im Opfer kurzfristig Zusammenhalt zu finden. Der Chor bei Schleef ist – jenseits aller Idealisierung – Opfer und Täter, Ausstoßender und Ausgestoßener und immer: Draußen vor der Tür, vor dem Palast, im Leerraum, im Non-Place (Vgl. Augé 1994.) der Gemeinschaft, wartend, begehrend daß ihm Gerechtigkeit widerfährt. Nicht eine gegenwärtig greifbare, vorstellbare, sozusagen ,ausgemalte‘ Gemeinschaft versucht Schleef in seinen Inszenierungen darzustellen, sondern die Beziehung des ,In-Gemeinschaft-Seins‘ – eine unabschließbare Bewegung aus ausstoßen und Ausgestoßensein, opfern und Geopfertwerden, ein Konfliktfeld ohne Aussicht auf (Er-)Lösung. Die nicht hintergehbare Beziehung des ,In-Gemeinschaft-Seins‘ ist die Quintessenz des Politischen und sie ist die Voraussetzung des einzelnen.
Die narzißtische Kränkung, die für den einzelnen mit dieser fundamentalen Abhängigkeit verbunden ist, führt dazu, daß er sich zum unabhängigen, autonomen Individuum erklärt. Das, sagt Schleef, ist eine Lüge.
(D)as Individuum lügt. Denn das Individuum steht nicht zu seiner Krankheit. Es versucht, diese zu verdrängen, zu vergessen, laboriert heimlich an ihr, kämpft gegen sie, doch die Krankheit fordert ihren Tribut, zerstört die Figur von innen. Diese Zersetzung kontert die Einzelfigur durch ihre Erscheinung, sie muß sich für jede Begegnung mit anderen herrichten, um sie zu täuschen. Die Zusammentreffenden täuschen sich gegenseitig. (Schleef 1997, S. 277.)
Soweit Schleefs Kommentar zum liberalen Solipsismus. Gegen die Imago des Individuums, gegen seine Ausbildung zur Gestalt setzt Schleef den einzelnen. Der einzelne, um nicht zu sagen, der Vereinzelte, so Schleef, „friert in der Ausstoßung, krümmt sich, empfindet körperlichen Schmerz.“ (Ebd., S. 13.) Im Schmerz aber empfindet er die Schnittstelle, sein Abgeschnittensein von der Chor-Gemeinschaft, die ihrerseits kein harmonisches Kollektiv ist, sondern geteilt vom Chor-Riß des einzelnen, der sich nicht zu den anderen, zum Ganzen, zum Kunstwerk und Kunstkörper der politischen Gemeinschaft fügen will.

2. Dargestellte Gewalt und Gewalt der Darstellung

Die Exposition des ,In-Gemeinschaft-Seins‘ geht nicht auf in der theatralen Illustration von Konflikten.(Um noch einmal auf die Dresdner „Weber“-Aufführung zurückzukommen: In Publikumsgesprächen habe ich mit Überraschung und Spannung verfolgt, wie Teilnehmer der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und Sozialabbau, die ins Theater gekommen waren, ratlos vor der Wirkung des Weber-Chors gestanden haben, während die skandierten Parolen auf der Straße auf immer weniger Zuspruch stießen. Offensichtlich wird in der Artikulation des Chors im Theater eine andere Energie frei als während der Demonstration auf der Straße. Was hat es mit dieser Energie auf sich?) ,In-Gemeinschaft-Sein‘ läßt sich nicht repräsentieren. Es wird erfahrbar, es wird mit-geteilt in der Ausstellung der Repräsentation und der Gewalt ihrer Teilung: ihrer Ausschluß- und Trennungsgewalt in denen, die ihr als Material dienen. Die Ausstellung der Gewalt der Darstellung findet nicht jenseits des Dargestellten statt, sie geht durch es hindurch. Ein Beispiel: Schleefs Inszenierung von Goethes Ur-Götz 1989 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main. Goethe entwickelt 1771 eine restaurative Utopie der Gemeinschaft und offenbart dabei die deutsche Nation als Schauplatz des Widerstreits: eine schwache Zentralgewalt, der Kaiser, starke Fürsten, die ihre eigenen Interessen verfolgen, die abgesunkene Klasse der mittelalterlichen Führungsschicht der Ritter, nun zu Raubrittern geworden, die Vertreter der neuen Zeit: Diplomaten und Juristen, geschult im Römischen Recht, die ausgesaugten Bauern und die gänzlich Marginalisierten, die Zigeuner. Die 57 Szenen des Ur-Götz präsentieren den zerstückelten Körper der Gemeinschaft in ‚wilder, anarchischer Zeit‘: Goethe und Schleef zeigen das ,In-Gemeinschaft-Sein‘ als Krieg der Einzelteile. Keine durchgehende Handlung ist hier auszumachen, sondern, nach des Kaisers Wort, „ständig neue Händel“, nachwachsend „wie die Köpfe einer Hydra“. Soviel zum Stoff, nun zur Darstellung.

3. Video Ausschnitt Ur-Götz Reichsexekution

Die Bühne: ein 45 m langer Laufsteg längs durch das Bockenheimer Depot. Am Ende des Stegs, wo man den Schauraum der Bühne erwartet, eine meterhohe Metallwand, darüber eine Empore, in deren Mitte ein Kreuz. Auf diesem Laufsteg wird der Krieg ausgetragen, hier läuft die (deutsche) Geschichte immer wieder gegen die Wand: hochstilisiert, zeichenhaft, mechanisch und blockhaft formiert, in stampfenden Rhythmen, immer wieder neu, nahezu tänzerisch variiert. Dazwischen Dialoge, die man wegen der Distanzen zwischen den Akteuren schwer zuordnen und verorten kann: Berichte, Schreie und Vater unser.
Unübersehbar, unüberhörbar ist die Gewalt – weniger des Dargestellten, des Kriegs, sondern der Darstellung: die knallenden Stiefel, die Schleifgeräusche der robbenden Körper, das Schreien, die ansteckende Panik der rhythmisch ausgestoßenen Worte: „Vater unser“. Woher kommt diese Gewalt der Darstellung?
Die Gewalt der Darstellung wird freigesetzt, wenn die Einbindung von Sprache, Stimme und Körper die Gestalt der Rolle aufbricht. Im Theater Einar Schleefs gibt es keine Vermittlung zwischen der Autorität des sprachlichen Sinns und dem Körper des Schauspielers. Diese Vermittlung leistet ansonsten die Rolle. Die Rolle interpretiert die (psychologische, soziologische etc.) Bedeutung des dramatischen Texts in plastischer, bildhafter Weise. Sie entwirft ein Gestaltmodell, und der Schauspieler formt seinen Körper, seine Stimme, seine Gesten und Bewegungen nach diesem Modell. Die Anbindung des Körpers des Schauspielers an den Logos des dramatischen Texts, den das Theater der Verkörperung seit dem 18. Jahrhundert propagiert, ist ein Akt der Internalisierung von Gewalt.
Denn die Bedeutung des Texts ist konstitutiver Bestandteil der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens. Die symbolische Ordnung aber tut, wie jede Ordnung, den Körpern Gewalt an, indem sie sie beschneidet, zurichtet, kurz: ihren Eigensinn bricht. Im Theater der Verkörperung des dramatischen Sinns wird diese Internalisierung der Gewalt kaschiert. Das Theater Einar Schleefs betreibt die Wieder-holung und Entbindung dieser eingebundenen und verborgenen Gewalt der Darstellung.
Voraussetzung dafür ist ein Verständnis des (poetischen) Texts, das über die Auffassung der dramatischen Sprache als Träger von Bedeutung(en) hinausreicht. Eine Auffassung, die die Materialität und Korporalität der Sprache, ihre Klangqualitäten, ihren Reichtum an Intonationsmöglichkeiten und die ganze Bandbreite rhythmischer Strukturierungen bedenkt. Diese weiterreichende Vorstellung des poetischen Textes läßt sich am ehesten als Text/Körper bezeichnen.

4. Die Wieder-holung des Text/Körpers durch den Chor

Das Körperliche des Text/Körpers, von dem die Rede ist, ist die Spur des Körpers des Schreibenden im Text, die Spur des Schreibkörpers. Es ist die Substanz, von dem sich das Geschriebene nährt, indem es sie auszehrt. Die Substanz ist der Körper des Schreibenden, dessen Artikulation in den Duktus des Schreibens eingeht, dessen Motilität, Fluß und Zäsur, also den Rhythmus des Geschriebenen bestimmt. Und umgekehrt: es ist der Körper, der schreibend vom ideellen Gehalt, vom Sinn des Geschriebenen geprägt, bestimmt und überschrieben wird. Deshalb ist der Körper des Schreibenden im Text nicht als ein ganzer, kohärenter und lebendiger präsent, sondern als Spur, die den Sinn stört, verstört, die Bedeutung entstellt. Die Spur des Körpers des Schreibenden, die Spur des Schreibkörpers im Text zeugt von einem Kampf, einer Auseinandersetzung der körperlichen Artikulation und Motilität, die Julia Kristeva das Semiotische nennt , (Vgl.: Kristeva 1995.) und dem Sinn – in Kristevas Bezeichnung das Symbolische –, das erst durch die Abtrennung vom semiotischen Körper Sinn macht. Erst mit dem Schnitt, der das Symbolische der Sprache vom Körper und seinen Artikulationen trennt, wird das Kind, das die Sprache lernt, gesellschaftsfähig, d.h. fähig, sich im Rahmen der symbolischen Ordnung, die seine Familie, die Schulgemeinschaft, die Nation und die Weltgesellschaft, das globale Dorf, konstituiert, sinnvoll zu bewegen. Um sinnvoll sprechen und handeln zu können, muß die Bindung der Sprache an den Körper, die Körperabhängigkeit der Sprache, verworfen werden. Und diese Verwerfung hat immer erneut zu geschehen. Denn die Abhängigkeit des Symbolischen vom Körper läßt sich – jedenfalls in der Umgangssprache – nie ganz aus der Welt schaffen.
Handelt es sich beim Theater der Verkörperung also um die Internalisierung einer Ordnung des Symbolischen, die sich in der Verkörperung einen Körper sucht und findet, die sich ihn gefügig macht und unterwirft, um anschließend triumphierend die leibhafte Gegenwart dieser Ordnung zu behaupten, so bringt das Theater des Text/Körpers den Konflikt zwischen Körper und Sinn, den Konflikt zwischen der Gewalt der symbolischen Ordnung einer Gemeinschaft, in die der einzelne eingebunden ist, und dem, was sich dieser Ordnung nicht fügen will, zum Erscheinen. Im Chor-Theater Einar Schleefs wird der Konflikt des Text/Körpers im Körper der Chor-Akteure wieder geholt – d.h. mit allen Verschiebungen – auf den Körper/die Körper des Chors übertragen und in ihm/ihnen ausgetragen. Die Autorität des Textsinns und die eigensinnigen Körper der Chor-Akteure arbeiten sich aneinander ab. Ohne Vermittlung der Rolle werden Text und Körper kurzgeschlossen. Der Text dringt in die Körper ein, versucht, sie sich gefügig zu machen und trifft dort auf Energien und Triebbahnungen, die – Ergebnis vorangegangener Einschreibungen – sich nun mit Klängen, Wortfetzen, Konsonanten und Rhythmuspartikeln des Text/Körpers verbünden, um den Textsinn zu verwerfen, indem sie ihn ausstoßen. Das Resultat dieser gewaltsamen Auseinandersetzung von Text und Körper ist ein ganz eigenständiger Rhythmus – Rhythmus statt Rolle – als Anzeichen der Erfahrung, als ‚Geschichtszeichen‘ der Bewegung des ,In-Gemeinschaft-Seins‘.

Bibliographie

Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M. 1994.
Heeg, Günther: „Schillers Tragik aufgeführt“. In: Spieltrieb: was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, hg. v. Felix Enslin. Berlin 2006.
Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a.M. 1995.
Schiller, Friedrich: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: F.S: Werke in drei Bänden, hg. v. Herbert G. Göpfert. Frankfurt a.M. 1992.
Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt a.M. 1997.

Am Anfang ist das Fest –Theater als Raum von Geschichte

Einige Anmerkungen zur Aufführung der SALOME in Düsseldorf

Am Anfang war das Fest. Kein Wort fällt bei der Huldigung an den Herodes Antipas. Keine naturalistische Illustration bebildert das Geburtstagsfest, zu dem die Ersten Galiläas gebeten sind. Keine psychologische Deutung setzt ihre unterschiedlichen Seelenlagen ins Bühnenlicht. Bloßes Zeremoniell. Statuarisch. Ein Standbild. Das Schweigen eröffnet die Inszenierung der Salome in Düsseldorf. Ein Schweigen zu Ehren der Majestät – des Herrschers Herodes Antipas. Eine Zeremonie, die das Gewicht der Macht spürbar werden läßt und das Publikum zutiefst in Unruhe stürzt. Nach zehn- bis fünfzehnminütigem Schweigen ist die Audienz beendet. Die Zuschauer werden in die Pause entlassen. Im Foyer wird debattiert. „Geschnattert“, sagte Schläfe.

Währenddessen durchmißt der Chor der Würdenträger über einen schmalen Steg, der von der Bühne durch den Zuschauerraum verläuft, das Parkett, um sich für die kommenden anderthalb Stunden am Ende des Zuschauerraums auf einer Art Balkon – dem Palast – zu postieren. Von hier aus wird der Chor seine Einsätze rhythmisch in den Raum schmettern. Von hier aus werden durch eine Tür die Auftritte der Königsfamilie erfolgen: des Herodes Antipas, der in Schwarz gehaltenen Herodias und ihrer ganz in Weiß gewandeten Tochter Salome. Von hier aus wird sich die Familie des Regenten im Laufe des Geschehens – auf schmalem Grat schreitend, tanzend, rennend – riskieren und verlieren. Gegenüber dem Palast, am äußersten Ende der Bühne, an der Brandmauer, ist der Prophet angekettet, Johannes der Täufer, der sich ereifernde Widersacher, der lauthals gegen Palast, Herrscherhaus und Dekadenz wettert. Ein früher Asket. Ein Monotheist, beseelt von der messianischen Wahrheit des einen Gottes.
Wenn jemand darüber Auskunft erteilten könnte, wie sich geschichtliche Spannungen auf der Bühne abbilden lassen, dann das Theater Einar Schleefs. In ihm gewinnt der Traum von einem Raum jenseits der bürgerlichen Kultur und ihrer permanenten Psychologisierung sämtlicher Vorgänge für die Dauer einer Aufführung Gestalt. Die Lust am Tragischen kristallisiert sich als Suche nach den Strukturen und dem Modellhaften historischer Praxis. Der Chor der Würdenträger überlagert die Individuen, denn verhandelt wird nicht der Schmerz des einzelnen, sondern Zukunft und Schicksal der Gemeinschaft. Oder präziser: der Geschlechter. Die Versuchungen des Eros und des weiblichen Begehrens prallen an den apokalyptischen Predigten des Asketen Johannes und seiner Botschaft vom Reich der Väter und Söhne ab. Salomons Wort, daß die Liebe stärker sei als der Tod, hat für diesen Doppelgänger und Vorläufer des Erlösers keine Geltung mehr. Thanatos obsiegt über die Spiele des Begehrens, wie sie sich im berühmten Schleiertanz der Salome oder dem Plätschern des Königs Herodes mit seinen männlichen Buhlen in einem Wasserbecken abbilden. Wie nah die Sphäre der Liebe und der erotischen Leidenschaft den Kräften der Zerstörung verwandt sind, demonstriert die kleine Episode, als ein Offizier, der sich in die Prinzessin Salome verliebt hat und von ihr abgewiesen wird, Selbstmord begeht.
Der König Herodes Antipas hat in zweiter Ehe Herodias, seine Schwägerin, geheiratet. Diesen Umstand nutzt Johannes der Täufer für agitatorische Zwecke. Er wettert gegen die sittenlose Herrschaft des Herodes Antipas im Namen des Herrn, also in der Tradition der jüdischen Propheten und Prediger gegen die weltliche Herrschaft. Dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus gemäß liegt darin der Grund, warum Herodes Antipas Johannes den Täufer hat umbringen lassen. Soweit scheinen die Ereignisse historisch abgesichert zu sein. Die Salome -Legende findet sich allein im Neuen Testament (Matthäus 14,1-12 und Markus 6,14-29). Hier wird das Ereignis ausführlich dargestellt, ohne daß der Name „Salome“ fällt. Salome, die Nichte und gleichzeitig Stieftochter von Herodes Antipas wird anläßlich seiner Geburtstagsfeier gebeten, einen Schleiertanz zu vollführen. Eine Aussicht, die Herodes Antipas derart in Verzücken versetzt, daß er ihr zum Lohn alles anbietet, was sie verlangt, und sei es das halbe Königreich. Ihre in der Politik des Reiches versierte Mutter Herodias flüstert der begehrten Tochter ein, sie solle stattdessen den Kopf von Johannes dem Täufer fordern. Einen Wunsch kann Herodes Antipas ihr nicht abschlagen, obwohl er weiß, daß damit das Ende seiner Herrschaft besiegelt ist. So folgt auf den Tod des Täufers das Kommando, auch Salome zu töten: „Reißt dieses Vieh in Stücke.“
Mit Salome stirbt, wie Schleef mehrmals betonte, die letzte jüdische Königin. Mit ihrem Tod triumphiert das Kreuz, das gegen Ende der Inszenierung am eisernen Vorhang befestigt vom Schnürboden herabgelassen wird. Schleefs Inszenierung fixiert Momente eines historischen Umschlagens, eines kulturellen Paradigmenwechsels. Ein Sprung in der Geschichte, den der fortschrittsgläubige Marx als „qualitativen Sprung“ erhofft hatte, der hier aber einen Bruch im historischen Kontinuum sichtbar macht. Bei Schleef regiert noch oder wieder das Tragische, welches geschichtlich von der Herrschaft des Kreuzes abgelöst wurde. Beschrieben wird die Kollision religiöser, auf das Jenseits gerichteter, geistiger und diesseitiger körperlicher Genüsse gegenüber offener weltlicher Macht. Vergebens die Hoffnung, daß wir dem Gang der Geschichte zum Besseren beiwohnen. Das Ereignis, das die Inszenierung ihren Bildern einschreibt, läßt sich mit einem Terminus Nietzsches beschreiben: Es handelt sich um den geschichtlichen Moment, in dem sich die Umwertung der Werte vollzieht.
Ein Moment voller Gefahr und vielfachem Tod. Gerade mit seinem Märtyrertod hat sich der Apokalyptiker, der Fundamentalist Johannes durchgesetzt. Sein Opfer wird Salome mit in den Tod reißen und die Stimme des Weiblichen auf Jahrtausende zum Schweigen bringen. Eine zum Schweigen gebrachte Stimme, der Schleef in den beiden gleichaltrig besetzten Figuren von Mutter und Tochter in schwarz und weiß nachspürt. Nicht nur in dieser Inszenierung. Prinzipiell. War Schleef doch einer der wenigen, der beispielsweise die Texte der ersten deutschen Dichterin, der um 935 geborenen Roswitha von Gandersheim, überhaupt zur Kenntnis nahm und die Aufführung ihrer Texte propagierte. Kein Zufall also, daß der Siegeszug des Christentums in Schleefs Lesart nicht mit der Kreuzigung Jesu, sondern mit dem Untergang und Tod einer Frau, der Prinzessin Salome, einsetzt. In seinem Verständnis vom Gang der Geschichte kommt, wie ein kurzer Blick in seinen Monumentalessay Droge Faust Parsival zeigt, dem Krieg der Geschlechter, dem Kampf um das Verhältnis von Mann und Frau, geschichtlich eine entscheidende Bedeutung zu. Selbst die attische Tragödie verwandelt sich unter der Optik Schleefs zu einem einzigartigen Dokument über die Verdrängung der Frau aus dem gesellschaftlichen und ästhetischen Zentrum. Ein Kampf, der noch lange nicht befriedet ist. Denn was in der Moderne und ihren historischen Ausläufern entschieden scheint, die Unumkehrbarkeit der Gleichberechtigung der Frau und ihre Rückkehr an die Schaltstellen der Macht, steht auf den Schlachtfeldern des Kriegs der Kulturen erneut zur Disposition. Die systematische Ermordung von Kinderärztinnen in Algerien, Säureattentate in Pakistan, der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh sprechen in diesem Kontext eine beredte Sprache.
So läßt sich Schleefs Salome -Inszenierung nicht nur als Aufarbeitung der geschichtlichen Entwicklung der abendländischen Zivilisation lesen, sondern auch als Kommentar zu den aktuellen Auseinandersetzungen um die Gewaltsamkeiten, die von der Herrschaft des einen Gottes ausgehen. Denn wie immer jüdische, christliche und islamische Kultur sich auch unterscheiden mögen, gebetet wird zu demselben Gott. Einem in den Himmel gehobenen Patriarchen. Schleefs Inszenierung legt den Finger auf diese leicht entzündliche Nahtstelle von Politik und Religion. Einen Bereich, den der Topos der „politischen Theologie“ umspannt, was immer man auch im einzelnen darunter fassen mag.

Inwieweit einer apokalyptisch geprägten Politik auch emanzipatorische Züge innewohnen, war Thema während der ersten Leseproben. Schleef verwies auf Thomas Münzer, den mittelalterlichen Bauernrevolutionär und „Theologen der Revolution“, wie Ernst Bloch ihn nannte. Der deutsche Bauernkrieg, nach Brecht „das größte Unglück in der deutschen Geschichte“, und Salome. Das war mitnichten eine Selbstverständlichkeit in Düsseldorf im Sommer 1997. In den letzten Monaten war Schleef immer wieder in New York gewesen, um dort die Textvorlage Oscar Wildes zu überarbeiten. Wilde/Schleef war auf dem von Schleef eigenhändig zur Premiere entworfenen Plakat als Autorenangabe zu lesen. Berauschte sich der fin de siècle an Phantasmagorien über die dämonische Frau, spürt Schleefs Fassung dem eigenartigen Konflikt von asketischem Spiritualismus und weltlicher Libertinage in diesem Stoff nach. Die Angriffe des Täufers richten sich ausdrücklich gegen die Gattin des Herodes Antipas, Herodias, die Mutter Salomes. Gustave Flaubert schreibt in seiner Erzählung Herodias über Johannes und Herodias:

Warum übrigens sein Kampf gegen sie? Welche Absicht trieb ihn? Seine in die Menge geschrienen Reden hatten sich verbreitet, gingen von Mund zu Mund; sie vernahm sie überall, sie erfüllten die Luft. Gegen Legionen wäre sie mit Tapferkeit angetreten. Doch diese Macht, die verderblicher war als Schwerter und die man nicht fassen konnte, war betäubend; …
Sie dachte auch, daß der Tetrarch der öffentlichen Meinung nachgeben und vielleicht auf den Gedanken kommen könnte, sie zu verstoßen. Dann wäre alles verloren. Seit ihrer Kindheit nährte sie den Traum eines großen Reiches.

Herodias ist die eigentliche Gegenkraft in diesem spirituellen Krieg. Dem patriarchalischen, auf Erlösung fixierten Bewußtsein, dem, wie das Beispiel Thomas Münzers zeigt, durchaus sozialrevolutionäre Züge innewohnen können, steht in der Konstellation von Schleefs Salome ein Bewußtsein des Tragischen, des Unerlösbaren im Menschen gegenüber, das mit der Emanzipation des weiblichen Begehrens einhergeht. Das ist die Konstellation, die der Tragödie um die jüdische Königstochter ihr modernes Gepräge gibt. In Schleefs kosmischem Entwurf stehen sich heilsgeschichtliches Geschehen und tragisches Bewußtsein unversöhnlich gegenüber wie Kapital und Arbeit bei Karl Marx.

Die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt, die Rückführung des tragischen Bewußtseins ist kein Überlaufen auf die Seite der Frauen, sondern notwendige Arbeit, notwendige Korrektur, notwendige Besinnung, notwendig um das Überleben der gefährdeten Kunstform des Sprech- und Musiktheaters zu ermöglichen. Diese Besinnung, diese Reformierung des Theaters hat politische Konsequenzen, ist nur so denkbar, heute politisch utopischer Ansatz.

Die emanzipatorischen Grundkräfte manifestieren sich in zwei miteinander verschwisterten Formationen – der Emanzipation des Weiblichen und der Renaissance des tragischen Bewußtseins. Es wäre eigens eine Untersuchung nötig, wollte man jenen Spiegelungen nachgehen, welche die Konstitution des jungen griechischen Patriarchats und seine Ablösung vom Reich der Mütter in den antiken Tragödien hinterließ. Auch wenn die jüdische Wüstenreligion die Kunstform der Tragödie nicht kennt, entstehen im Windschatten ihrer moralischen Codierungen jene Kollisionen, die den blutgetränkten Stoff des Dramatischen bilden.
In Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September führte der Soziologe und Kulturphilosoph Klaus Theweleit einmal an, daß die Moderne seit jeher auch Schauplatz des Konflikts von Land und Stadt sei. Eine patriarchalisch-traditionelle Landbevölkerung auf der einen, eine von den libertären Werten des Molochs Stadt durchsetzte Bevölkerung auf der anderen Seite. Ein Konflikt, der jedoch auch den Anfängen der historischen Zeit, zumindest unter biblischem Firmament, nicht fremd war. Städtenamen wie Babel, Sodom und Gomorrha gelten seit den Tagen Abrahams als Synonyme für Dekadenz, erotische Zügel- und Sittenlosigkeit. Unterm homerischen Blau wird es schwierig, Vergleichbares aufzuzeigen. Aus Asien mußte Dionysos, Thebens verstoßener Sohn, anreisen, um seine Vaterstadt in einen Reigen von Orgien und Gewalt zu ziehen.
Sündige Dörfer scheinen dagegen weltweit selten. Das Dogville Lars von Triers, das 2003 den europäischen Filmpreis erhielt, gewinnt seine wahre Kontur erst, wenn es jemanden schwach weiß. Die Werte scheinbar intakter Gemeinschaften werden mobil gemacht, wenn es gegen das abweichende Verhalten einzelner geht. Ja, diese Gemeinschaften konstituieren sich geradezu dadurch, wie René Girard in Das Heilige und die Gewalt zeigt, daß sie einzelne ausschließen und gegebenenfalls vernichten. Die Ästhetisierung des Sündenbockrituals humanisiert die Gewalt zu den Bocksgesängen des Tragischen. Dagegen kulminiert das apokalyptische Denken in neuen Feindbildern, vereint Moralisches und Revolutionäres, um die Ordnung des Patriarchats zu befestigen. Eine einfache Ehebrecherin läßt sich steinigen, bei einer Königin müssen Abirrungen mit anderen Maßen und Gewichten gemessen werden. Oder soll für sie gleichermaßen Geltung besitzen, was für die jüdische Kuhmagd auf der Weide gilt? In Rom würde man darüber lachen. Doch Rom ist fern. Und dereinst wird auch Rom lernen, sich dieser Logik zu beugen. „Der Sklavenmoral“, wie Nietzsche diese Haltung benannte.
Die Normierungen der Gemeinschaft und die Bedürfnisse des einzelnen sind nicht identisch, wußte der Chorexeget Schleef. Gemeinschaft, das ist das Unheimliche, das Kranke, wußte der ehemalige Bürger der DDR. In Düsseldorf setzt sich der Chor aus der Statisterie, vorwiegend aus älteren Männern, zusammen. Der älteste von ihnen, weit über 80, verläuft sich immer wieder auf der Bühne. Kurzerhand wird er an die Souffleuse gebunden. Zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv tobt ein andauernder Tiefenweltkrieg, wie eine Formulierung Sloterdijks lautet. Der Siegeszug des Homogenen über das Heteronome verwüstete Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und läßt im Zuge der Globalisierung in ganz unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Kulturen und Kontinenten so unerwartete wie andauernde Konflikte aufflammen.

In diesen spirituellen Kriegen geht es letztlich auch um die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Nach traditionell monotheistischer Lesart verkörpert sie das Laster, das es zu dezentralisieren gilt. Wenn sich Schleefs Inszenierung auf der Folie des politischen Gegenwartstheaters artikuliert, spricht sie von der kulturgeschichtlichen Dezentralisierung der Frau, die wenn sie nicht vom Himmel gefallen ist, so doch mit der Errichtung des Kreuzes für Äonen besiegelt wurde, bevor sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ergebnis eines mehrere Generationen übergreifenden Prozesses der Säkularisierung als fester Bestandteil der kulturellen Identität der westlichen Welt etablieren konnte. Möglicherweise das entscheidende geschichtliche Resultat des letzten Jahrhunderts, welches im Zuge der Globalisierung das innere Gefüge jener patriarchalisch strukturierten Gesellschaften, die noch immer in vielen Kulturen und Landstrichen unangefochten herrschen, mehr und mehr in Frage stellt. Wird nach dem Moment geforscht, das die islamische Gesellschaft gegen die Axiome der Moderne immunisiert, führt das Verhältnis der Geschlechter direkt in die modernisierungsresistente Herzkammer fundamentalistischer Eiferer. So ist beispielsweise Bin Laden nicht nur vielfacher Millionär und Videokünstler, wie Boris Groys meint, sondern auch stolzer Gatte von vier Ehefrauen, deren jüngste er mit anbrechender Pubertät heiratete, also im zarten Alter von dreizehn oder vierzehn. Ob in Holland ein Filmemacher vom Fahrrad geschossen wird, der sich mit der Stellung der Frau im Islam beschäftigte, in Pakistan Frauen Säure ins Gesicht geschüttet wird, weil sie westliche Accessoires benutzen, oder Johannes der Täufer, der Stellvertreter des Heilands im Düsseldorfer Schauspielhaus, gegen Herodias wettert, es ist dieselbe Frontlinie, die durch gewaltige kulturelle Räume und enorme Zeiträume schneidet. Nur, daß in den wenigen Jahren, die unser Heute von der Aufführung trennt, der Konflikt, an dem Schleef sich theatralisch abarbeitete, in explosiver Form die westliche Welt erreicht hat. Der Monotheismus samt seinen Versprechen der Erlösung – auf den zeitgenössischen Selbstmordattentäter warten immerhin seit Mohammeds Zeiten 99 Jungfrauen im paradiesischen Gewand – ist mit dem tragischen Bewußtsein, das auch immer ein Bewußtsein der eigenen Endlichkeit ist, nicht kompatibel. Gerade weil es keine Erlösung im Jenseits verspricht, gebärt es das Individuum und die Subjektivität, wenn auch unter Schmerzen. Nur für den Riß, den Spalt, der durch das Individuum läuft, und den der Monotheismus zu heilen verspricht, ist Subjektivität zu haben. Individualität und das Recht auf Subjektivität sind aber keine Selbstverständlichkeit. Wie auch das tragische Bewußtsein. Kurz und gut, die Inszenierung Salome zeigt, wenn man ihre Konfliktlinien in die Gegenwart verlängert, daß Einar Schleef das zeitgenössische politische Theater auf einer Höhe verkörpert hat, die wenige andere erreichen.

Raumteiler

Vortrag, gehalten im November 2004 auf einer Tagung zu Einar Schleef im Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr

1.

In Sangerhausen habe ich über den Chor als Wohnfunktion gesprochen und eine Architektur des Chores beschrieben, die dem Gegensatz von Innen und Außen folgt. Ich habe das erläutert anhand eines Textes von Schleef über den Auszug aus seinem Elternhaus. Der Chor als Wohnfunktion bleibt auch weiterhin Thema, es geht jedoch nun nicht mehr nur um die Bewohner eines Hauses, sondern um die von Dörfern und Städten.
Ich erweitere den Begriff auf unterschiedliche soziale Raumkonzepte und gehe davon aus, daß unterschiedliche Formen des Raumes unterschiedliche Menschen enthalten, beziehungsweise daß Menschen immer Produkte von Wohnverhältnissen sind. Dabei beziehe ich mich auf Peter Sloterdijks Theorie der „Sphären“, die behauptet, – so Sloterdijk –„daß die Geschichte „des Menschen“ als das stille Drama seiner Raumbildungen verstanden werden muß. (Sloterdijk. 2001, S. 157f.) Die Räume, die Menschen beherbergen, sind stets geteilte Räume: sie sind Orte der „inter-personalen Resonanz“ . (Ebd., S. 172.) In diesem Sinne ist der Raum, in dem Menschen als Menschen vorkommen können, ein chorischer Raum. Der Chor ist der Ort der Produktion des Menschen.
Ich werde im folgenden über das Verhältnis von Dorf und Stadt sprechen, um den vielstimmigen und den einstimmigen Raum zu charakterisieren. Ins Altgriechische übersetzt heißt das Gegensatzpaar Dorf und Stadt „chora und polis“, und ich werde auf die historischen Bedingungen der Trennung der beiden Begriffe eingehen.
Zu Beginn ein kurzes Zitat von Theodor W. Adorno. Vor fast 20 Jahren, als ich es gelesen habe und gerade in Mülheim Heißen Abitur machte, bestärkte es mich in meiner festen Überzeugung: daß ich diese Stadt verlassen muß.

Keinem Menschen ist es vorzuhalten, daß er vom Lande stammt, aber auch keiner dürfte sich daraus einen Verdienst machen und dabei verharren; wem die Emanzipation von der Provinz mißglückte, der steht zur Bildung exterritorial. […] Das Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht mal von sich selbst weiß, daß es tot ist. (Adorno 1971, S. 43.)

Wer auch immer meint, ein mündiges Individuum werden zu wollen, weiß nun, was zu tun ist: Haus und Hof verlassen, in die Großstadt ziehen. „Zur Bildung gehört Urbanität“ weiß Adorno und verbannt jede Provinz exterritorial zur Bildung. Nach dieser Definition stammt jeder vom Lande: jeder hat eine Provinz, aus der er sich lösen muß, jeder muß den Akt der Emanzipation vollziehen, um das Prädikat „mündig“ tragen zu dürfen; jeder muß aufstehen und gehen. Jeder hat ein Dorf – eine Familie, eine Nachbarschaft, eine Herkunft –, das er verlassen muß.
Das Dorf ist immer das, was verlassen wird, das es gilt, zu überwinden, das man hinter sich zurückläßt. Vor uns die Freiheit – hinter uns Altlasten sozialer, familiärer und konventioneller Bindung und Verbindlichkeit, Regeln, Normen und Autoritäten. Wir brechen immer auf in eine neue Welt; wir haben Mut, uns unseres Verstandes zu bedienen, wir nehmen unser Leben in die eigene Hand, es geht voran, wir machen Geschichte, Karriere. Zurück bleibt immer das Dorf: ein Toter, der nicht mal von sich selber weiß, daß er tot ist. Ein Untoter, einer, der seinen Tod nicht zur Kenntnis nimmt, ein Widergänger, ein Gespenst, ein Spuk, der umgeht. Das, was hinter uns liegt und uns heimsucht.
Das neugriechische Wort für „Dorf“ lautet chorió. Chora heißt es, wenn es den Hauptort einer bestimmten Region bezeichnet, eine Provinz oder eine Landschaft – das sind Regionen im Gegensatz zur Stadt. Auch im Altgriechischen bezeichnet chora die Region, Gegend, Landschaft um die polis herum; chora und polis bezeichnen den Gegensatz von Stadt und Land. Die Stadt ist aus einer bestimmten Region heraus entstanden: sie hat sich aus der Landschaft gelöst und wurde zur polis. Chorismus bedeutet altgriechisch: die Trennung; und das Verb chorizein heißt: trennen. Auch im antiken Griechenland lag hinter den Bewohnern der polis ein Dorf, das sie verlassen hatten.
Die griechische polis, in der die Tragödie ebenso wie die Demokratie und die Philosophie entstanden sind, formt sich zwischen dem 7. und 3. Jahrhundert. In dieser Zeit findet ein Übergang statt „von einem archaischen Stadium, wo die Macht im wesentlichen auf religiösen Privilegien beruht und durch rituell geprägte Verfahren ausgeübt wird, zu positiveren staatlichen Organisationsformen und zu einer Denkweise, die man modern nennen könnte.“ schreibt J.-P. Vernant 1987 in seiner Arbeit Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland . (Vernant 1982, S. 81.) Mit der polis entsteht ein sozialer, diesseitig orientierter Raum, dessen Prinzipien er als den Versuch der Geometrisierung der Gesellschaft beschreibt: zwischen dem politischen System der Stadt, ihrer geometrischen Ordnung und „dem geistigen Horizont der Griechen im 6. Jahrhundert besteht eine enge Verbindung; sicher,“ schreibt er, „die Ideen werden ihre eigene Entwicklung nehmen, doch solange die Stadt lebendig ist, werden es die Ideen von Menschen sein, die […] sich als autonom und frei verstehen.“ (Ebd., S. 85.)
Interessant an Vernants Beschreibung ist die Art der Verbindung, die er zwischen der Ordnung des Raumes und der des Denkens zieht. Die demokratische polis ist hier nicht Ausdruck der konsequenten Umsetzung philosophischer Konzepte über die Gleichheit der Menschen, sondern die Idee des Menschen ist entstanden auf den öffentlichen Plätzen und Straßen der polis. Die Entwicklung der polis selber verdankt sich vielfältigen technologischen, ökonomischen und logistischen Entwicklungen – wie zum Beispiel der Ausdehnung der Seefahrt und des Außenhandels bis in den Orient, Einführung und Entdeckung neuer Bodenschätze und der Veredelung von Metallen – Faktoren, die neue gesellschaftliche Formen evozierten, aber nicht zweckgerichtet intendierten. Er schreibt: „Der Zusammenhang zwischen der Entstehung der Stadt und der Geburt der Philosophie ist so deutlich, daß wir nicht umhinkönnen, die Ursprünge des rationalen Denkens in den für die griechische Stadt bezeichnenden geistigen und sozialen Strukturen zu suchen.“ (Ebd., S. 132.)
Das bedeutet: Die Ordnung des Raumes ermöglicht eine bestimmte Form der Wahrnehmung und des Denkens. Nicht das rationale Denken plant den Raum, sondern die Formen des Raumes formen das Denken. Oder pragmatisch: nur weil es einen Markplatz gab, konnte Sokrates darauf stehen.
Das soziale Raumkonzept der polis entwickelt sich durch viele verschiedene Faktoren; ein wesentlicher Aspekt jedoch ist die Einführung des neuen Mediums der Schrift. Die Griechen übernehmen die lineare Buchstabenfolge im 8. Jahrhundert von den Phöniziern, ergänzen deren Lautreihe durch Vokale zum Alphabet und erhalten so ein praktikables Instrument, das schnell die unterschiedlichsten Bereiche des öffentlichen Lebens prägt. Nun werden medizinische Abhandlungen, historische Berichte, Plädoyers von Rednern und Erörterungen von Philosophen schriftlich niedergelegt. Gleichzeitig setzt sich die Schrift als Medium der literarischen Produktion durch: die Tragödien werden schriftlich verfaßt . (Vgl. ebd., S. 189.) Der Schritt von den mündlich tradierten Erzählungen zu den schriftlichen Texten bildet eine einschneidende Zäsur. Als geschriebenes Material verändert sich die Qualität der Texte: sie erhalten eine neue Art von Strenge in der Gedankenführung, werden genauer, analytischer, orientiert an mathematischer Beweisführung. In dieser Form legen sie über Sachverhalte wahrheitsgemäß Rechenschaft ab und folgen darin den nun für sie gültigen Gesetzen der Logik. Erst die schriftliche Fixierung der Texte ermöglicht die rationalistische Prägung des Denkens; sie ist die Bedingung für Philosophie und Wissenschaft. Logos heißt nicht mehr ‚sprechen‘, sondern ‚beweisen‘. Auf der anderen Seite des logos steht der mythos. Vernant faßt diesen Prozeß zusammen: „Innerhalb und mittels der schriftlichen Literatur stellt sich jener Diskurstyp her, in dem der logos nicht mehr allein das Sprechen ist, sondern die Bedeutung beweisführender Vernunft angenommen hat und auf diesem Gebiet formal wie inhaltlich zur Sprache des mythos in Gegensatz tritt.“ (Ebd., S. 195f.)
Der mythos tritt nicht nur zum logos in Gegensatz: mit dieser Teilung trennt sich die neue von der alten Welt, trennen sich Menschen und Götter. Die alten Geschichten und Sagen von Helden und Göttern, vom Ursprung der Welt und des Kosmos werden diskreditiert und abgedrängt in das Dunkel archaischer Vorzeit und Unvernunft. Der mythos ist von nun an negativ beschrieben durch das, was ihm im Gegensatz zum logos, fehlt: er ist Un-Sinn, Un-Vernunft, Un-Wahrheit, Un-Wirklichkeit. Die komplexen, verschlungenen Labyrinthe der mythologischen Fabeln und „ihre mentale Architektur, welche jedes Kind wie seine Muttersprache lernt, ohne es gewahr zu werden, indem es der Überlieferung zuhört und sie wiederholt“ , (Ebd., S. 208.) werden verlassen zugunsten der klaren, hellen Räume des logos. Der mythos, sagt Vernant, wird ausgetrieben wie ein böser Geist. (Vgl. ebd., S. 206f.)
Ein geschriebener Text hat, was der mythos niemals haben kann: er hat einen Autor und einen Leser. Damit unterscheidet er sich zutiefst vom Gemurmel des mythos, der sich als Erzählung der vielen Stimmen von Generation zu Generation windet. Der mythos gehört allen: jeder kennt ihn, aber niemand weiß, wo er herkommt.
Die mündliche Überlieferung hat keinen Autor, sie hat viele Stimmen und Ohren, die sprechen und hören. Sie lassen sich bezaubern von den Worten und Geschichten, die mit wunderbaren Helden und Abenteurern alle in ihren Bann ziehen. Der mythos ist eine Rede, die erzählt und von vielen gebannt gehört wird. Sie funktioniert, wenn sie eine starke Wirkung auf die anderen ausübt. Gespannt bleiben die Zuhörer sitzen bis zum Ende der Geschichte. Das ist die Bedingung der Erzählung: Erzähler und Hörer bleiben zusammen bis zum letzten Satz. Wer aufsteht und geht, verpaßt das Ende der Geschichte. Mündliches Erzählen braucht reale Anwesenheit von mindestens zwei Personen: Wer zuhört, ist nicht allein.
Lesen und Schreiben dagegen ist eine einsame Angelegenheit: einer schreibt und einer liest, meistens jeder für sich allein. „Wer lesen kann, kann auch allein sein“ , (Sloterdijk 1998, S. 271.), bemerkt Peter Sloterdijk und erläutert weiter:

Erst die Schrift hat die Zauberkreise der Mündlichkeit aufgesprengt und die Leser vom Totalitarismus des gegenwärtigen, im Nahbereich gesprochenen Wortes emanzipiert; Schrift und Lektüre, zumal in ihrer griechischen, demokratischen, autodidaktischen Verwendungsart, führten zur Einübung in die Nicht-Ergriffenheit. Tatsächlich war das mündliche Weltalter gleichbedeutend mit der magisch-manipulativen Vorzeit der Seele, weil in ihm die präsentische Besessenheit durch die Stimmen und Suggestionen der Stammesmitglieder den Normalfall bedeutete. (Ebd., S. 272.)

Die Lesenden und Schreibenden haben sich emanzipiert von den Altlasten des mythos Sie haben den Zauberkreis der Anderen verlassen und sind ins moderne Single-Appartement gezogen. Hier wohnen sie allein, brauchen die anderen nicht mehr. In der einsamen Produktion und Rezeption des literarischen Textes entsteht der von nun an geschlossene Innenraum des Menschen. Vorstellungen, Träume, Imaginationen und Abstraktionen möblieren diesen Raum, den exklusiv und ganz allein nur ich bewohne. In der westlichen Kultur glauben Menschen nun für eine lange Zeit, daß ihre eigenen Erlebnisse, privaten Ideen, Gedanken und Bilder intime Geheimnisse sind, die sie mit niemandem teilen. Sie haben das Dorf, chora verlassen.
Sie haben den Chor verlassen und die vielen Stimmen des mythos sind verstummt. Jeder Modernisierungsschub, den die griechische Gesellschaft in jenen Jahren erfährt, schärft das Bild des einzelnen und distanziert ihn von traditionellen Bindungen. Von nun an spricht und steht jeder für sich allein.
Das ist der „Chor-Riß, die Chor-Sprengung, die Trennung von Chor und Einzelfigur“ (Schleef 1997, S. 276.), wie Schleef es nennt. Sein Theater hat diesen Moment als explosive Sprengung und den Riß als offene Wunde gezeigt.
„Der Chor ist krank.“ (Ebd., S. 274.) Ihn begleitet ein übler Geruch. Der Chor stinkt: „Die Majestät der Verwesung umgibt diese Figuren.“ (Ebd., S. 158.)
Er stinkt wie eine verwesende Leiche, die längst unter die Erde gehört. Die von nun an gültige Formulierung des Menschen behauptet mündige Einzelwesen, die sich in klarer, vernünftiger Sprache artikulieren. Doch mit dem Chor setzen sich Reste des alten mythos fort; er gehört einer prähistorischen Vorzeit an, in der Stimmen raunen, murmeln, rufen und klagen.
Die Stimmen geistern durch die griechische Kultur und Literatur, die von ihnen „zehren mußte, um lebendig zu bleiben und fortzubestehen“ (Vernant 1998, S. 204.) schreibt Vernant. In der Gestalt des Chores erscheinen sie auf der öffentlichen Bühne. Die Tragödien thematisieren die Konfrontation des Chores mit den Einzelfiguren: dort begegnen sie sich als zwei gegensätzliche Prinzipien. Der Chor gibt die Stimmen der vielen wider, der Bürger, der Alten, der Thebaner. Sie ermahnen und erinnern die Helden, sprechen in Rätseln, geheimnisvoll und weise. Ihre dunkle Lyrik befremdet und bleibt ein oft verwirrendes und unheimliches Fragment in den Dichtungen. Der Chor ist der Untote, der als unruhiger Geist durch die polis spukt. Mit ihm überleben Reste des alten Dorfes, von alten Zeiten. Sie bleiben erhalten, solange es den Chor gibt, der an sie erinnert.
Chor und Einzelfigur markieren zwei Orte, zwei Welten und zwei Epochen. Schleef verbindet in seinen Charakterisierungen räumliche wie auch zeitliche Zuordnungen: die Einzelfigur – oder auch: die Helden – sind „an den Palast gebunden, dessen Produkte sie sind“. (Schleef 1997, S. 276.) Der Chor „ist Landschaft“, „vor dem Palast“, „als gehöre er einer weit zurückliegenden Götterwelt und Lebensform an“, einem „längst überholten Stand menschlicher Entwicklung“ oder auch: „einer anderen Welt“. (Ebd.)
Schleef beschreibt hier zwei gegensätzliche soziale Raumkonzepte: er beschreibt chora und polis, Dorf und Stadt. Zwei Orte, die unterschiedlich klingen: vielstimmig das Dorf und einstimmig die Stadt.
Peter Sloterdijk weist darauf hin, daß vor dem Einbruch der Schriftlichkeit, die Texte, Denken und Dasein gleichermaßen konfigurierte und den geschlossen Innenraum exklusiver Subjektivität bildete, ein anderer Raum existierte. Er betont:

Während des größten Teils der Evolution war nahezu die Gesamtheit dessen, was einzelne Menschen dachten und fühlten, für ihre Umwelt in so hohem Maß durchsichtig, als wären es ihre eigenen Erlebnisse; die Vorstellung von privaten Ideen hatte keinen Anhalt in der seelischen Erfahrung oder im sozialen Raumkonzept: Noch waren für die Einzelnen keine Zellen errichtet – weder im Imaginären noch in den physischen Architekturen der Gesellschaften. (Sloterdijk 1998, S. 271.)

Das vielstimmige Dorf chora eröffnet diesen Gemeinschafts-Raum, in dem Menschen „von geteilten Stimmungen und gemeinsamen Annahmen abhängen.“ (Ebd., S.45.) Es ist ein vielstimmiger Raum, der als Resonanzraum gemeinsamer Stimmungen und Annahmen schwingt. In ihm verständigen sich Menschen darüber, wie sie als Menschen in der Welt wohnen und vorkommen wollen. Sie bestimmen sich nicht als anfänglich isoliertes, einsames Wesen, das sich mühsam und verzweifelt Kontakt zur Welt und zu anderen erarbeiten muß, sondern immer schon als Bewohner einer Wohngemeinschaft. Noch einmal Sloterdijk:

In allen Modellen kommen sphärenhafte Liaisonen zur Sprache, in denen reziproke Beseelungen sich durch radikale Resonanz erzeugen; in jedem von ihnen zeigt sich, daß zur realen Subjektivität zwei und mehr gehören. Wo solche Zwei in inniger Raumteilung aufeinander hin exklusiv geöffnet sind, bildet sich ein lebbarer Modus von Subjekthaftigkeit aus; diese ist zunächst nichts anderes als Teilhabe an sphärischen Resonanzen. (Ebd., S. 53.)

Menschen sind Raumteiler – sie können nicht Mensch werden, wenn sie nicht bei Menschen sind. Nur in gemeinsam geteilten Schutz- und Wärmeräumen können Menschen als Menschen leben. Ob wir es Beseelung oder Bewußtsein nennen: wir brauchen den gehauchten Atem der anderen, ihre Resonanz und Wärme, wenn wir zur Welt kommen wollen. In-der-Welt-sein beschreibt Sloterdijk ganz einfach als „Teilhabe an sphärischen Resonanzen“. Wir sind Bewohner eines Klangraumes, der immer schon zu uns spricht und in dem wir die anderen hören. Gelungene Einzelmenschen erwachsen schwingenden Resonanzräumen; sie brauchen – so Sloterdijk –

geteilte, konsubjektive und inter-intelligente Innenräume, an denen nur dyadische oder mehrpolige Gruppen Anteil haben, ja, die es nur geben kann in dem Maß, wie menschliche Individuen durch enge Nähe zueinander, durch Einverleibungen, Invasionen, Verschränkungen, Ineinanderfaltungen und Resonanzen – […] – diese besonderen Raumformen als autogene Gefäße kreieren. (Ebd., S. 98f.)

Anders gesagt: der Mensch kann nur im Chor existieren. Nur der Chor eröffnet den Raum, in dem Menschen leben. Mit dieser Behauptung schreibt Sloterdijk eine neue Anthropologie, mit der er eine deutliche Akzentverschiebung und Umwertung vornimmt. Er behauptet, Menschen wohnen in „Sphären“, in denen es keine Einzelzimmer gibt, Rückzug ist nicht angesagt: das Projekt Mensch funktioniert nur im Chor.
„Der Chor ist krank“, schrieb Schleef und wußte genau, wie nachdrücklich die fiebrige, hitzige Masse vor die Tore der Stadt getrieben wurde. Adorno formulierte noch im Rückblick auf den Faschismus: „Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu so etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus. Dazu paßt die Bereitschaft, andere als amorphe Masse zu behandeln.“ Auch die Inszenierungen Schleefs sind lange als faschistoide Massenhysterien verurteilt worden. Für lange Zeit waren Kollektive verdächtig, nun bestimmt Sloterdijk sie zur Bedingung des Menschen. Der Chor stinkt immer noch. Aber es wäre Zeit, die Leiche aus dem Keller zu holen.

Deshalb noch einige kurze Bemerkungen zum Schluß:
Die Leiche aus dem Keller zu holen, bedeutet für mich, die widersprüchlichen Konzepte und Diskurse über das Individuum zu thematisieren. Der Wert und die Bedeutung des Individuums ist heute unklarer denn je.
Sloterdijks Theorie betont zwei Aspekte des menschlichen Daseins: die Gebundenheit von Menschen an Orte und Räume und ihre Verbundenheit mit anderen. Dies widerspricht den Entwürfen globalisierter und atomisierter Existenz, die aktuell formuliert werden. Globale wirtschaftliche Transaktionen negieren mehr und mehr die Bedeutung lokaler Bindungen und Verbindlichkeiten: General Motors kennt die Bilanzen, aber nicht den Stadtplan Bochums. Für globale Märkte sind nicht Städte und Regionen und auch nicht einzelne Arbeiter und Konsumenten relevant, sondern Marktanteile und Trends. „Es wäre bloße Romantik, Individuen auf diesen Märkten eine gesteigerte Bedeutung beizumessen“ (Willke 2001, S. 12.) schreibt der Soziologe Helmut Willke in seiner Studie Atopia. Globale Markttransaktionen brauchen Individuen „wie das Haus die Backsteine“ (Ebd., S. 13.), für sie zählt die Masse.
Diese Einschätzung über die Relevanz des einzelnen widerspricht den aktuellen öffentlichen Diskursen. Je deutlicher Konkurrenz und sozialer Druck steigen, um so stärker muß der einzelne sich fit halten für den Wettbewerb. Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Selbstmarketing sind die Ideale multifunktionaler Ich-AGs. Je geringer die Chancen für viele werden, an den Versprechen der Wohlstandgesellschaft teilzuhaben, um so aggressiver wird die ‚Ich kann alles schaffen, wenn ich es nur will’Überzeugung propagiert. Dschungel-Camps und Container trainieren im Survival-of-the-fitest: in dem Maße, in dem der einzelne von der politischen und ökonomischen Bildfläche verschwindet, wird er in hysterisierten Ghetto-Lagern inszeniert.
Nur nach Außen, gegen die Angriffe eines wild gewordenen „heiligen Krieges“ können wir die großen Werte der westlichen Moderne noch verteidigen, intern wissen wir schon lange nicht mehr, wo wir sind. Weniger denn je wissen wir, welche Bedeutung und welchen Wert jeder einzelne in unserer Gesellschaft hat. Ebensowenig wissen wir, wie das Zusammenleben von Alten und Jungen, von Kranken und Gesunden, von Arbeitenden und Arbeitslosen organisiert werden soll. Weder wissen wir, wo der einzelne steht, noch wo der Chor wohnt.
Die ideologische Aufladung von Individuum und Masse als Konflikt zwischen Freiheit und Unterwerfung, Subjekt und Objekt führt nicht weiter. Die alten Gegensätze funktionieren nicht. Gerade an seinen Chören läßt sich beobachten, wie scharf das Profil des einzelnen im Chor sichtbar wird, wie deutlich Besonderheiten und Differenzen zutage treten. Die Behauptung, daß jeder Mensch immer schon Bewohner einer Wohngemeinschaft ist, bedeutet anders gesagt: Jeder einzelne ist ein Raumteiler.

Einar Schleef – Die Wiedergeburt des Chores als Kritik des bürgerlichen Trauerspiels

1. Das Verschwinden der Frau aus dem tragischen Konflikt / Der Untergang des Chores in der deutschen Klassik

Einar Schleefs Überlegungen zum Theater, die er in Droge Faust Parsifal [1] zusammengefaßt hat, rücken zwei Aspekte ins Zentrum: Das Verschwinden der Frau aus dem tragischen Konflikt der Stücke seit der Weimarer Klassik und den Chor als theatrale und politische Form. Diese beiden Themenkomplexe sind innig miteinander verbunden, da die Frau in der griechischen Tragödie, so Schleef, eine große Rolle bei der Konstitution des Chores gespielt hat, während seit der Deutschen Klassik der Chor sich gerade durch den Ausschluß der Frau konstituiert. [2] Die Frau begegnet nur in ihrer domestizierten Form auf den deutschen Bühnen der Gegenwart. Schleef drückt dies drastischer aus, wenn er davon spricht, daß „[…] die Figur, die die Drecksarbeit heute auf der Bühne macht, weiblich […]“ [3] sei. Schleefs These stellt sich in die Nachfolge Nietzsches, wenn er davon ausgeht, daß diese beiden Ausschlüsse, die Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt und das Verschwinden des Chores „[…] engstens mit der Vertreibung des tragischen Bewußtseins zusammenhängen, so, als wäre das tragische Bewußtsein, wenn es die Szene beträte, Domäne der Frau […]“.[4] Der tragische Konflikt besteht in einer grundlegenden Konstellation, dem Ausschluß des einzelnen, der Figur, aus dem Kollektiv, das heißt dem Chor. Die Figur ist in der griechischen Tragödie nicht Führer, der den Chor anleitet, sondern vielmehr bedeutet Figur zu werden stets, tragische Figur zu werden, das heißt für den Untergang bestimmt zu sein. Dies muß die Figur auf sich nehmen, da ihr tragisches Schicksal im Ausgeschlossen-Sein aus dem Chor gründet. In der Moderne, exemplarisch in Gerhard Hauptmanns Die Weber, erfährt diese Beziehung eine maßgebliche Umdeutung: der Chor wird zum Ausgestoßenen. Eines verbindet den Chor jedoch weiterhin mit seinem antiken Vorbild: Er erscheint als ‚kranke‘ Gemeinschaft. Diese ‚Krankheit‘ ist grundlegend für den Chor; auch politische Siege können sie nicht zum Verschwinden bringen. Diese neue Konstellation verdankt sich den neuen gesellschaftlichen Zuständen, die im Drama dargestellt werden. Im Fall von Die Weber ist es das ‚Proletariat‘. [5]
Schleef betrachtet theaterhistorisch das Werk Shakespeares als den entscheidenden Einschnitt. In dessen Stücken vollzieht sich auf der einen Seite die Individualisierung der Figur auf eine bis dahin ungekannte Weise. Auf der anderen Seite zieht das Chorische in die Gesamtanlage, in die Struktur seiner Stücke ein. Schleef betont die dramaturgischen Folgen, wenn er auf den nicht-linearen Charakter der Fabel, die zur Gleichzeitigkeit des Dargestellten tendiert, hinweist.

Vollkommen unbeachtet ist, daß Shakespeare die Spaltung des Chores durch eine Gleichzeitigkeit kompensiert, die sofort von unseren Übersetzern und Bearbeitern revidiert wird, indem die Vielzahl, der Wirrwarr der Szenen harmonisiert, gebündelt wird, ein zeitlich verfolgbarer Ablauf entsteht. Shakespeare will genau das Gegenteil, er zwingt den Zuschauer, sich dem Strudel, dem Sog auszusetzen oder sich zu absentieren. Genauso verfährt er mit den Figuren. [6]

Der Krieg ist nicht nur Inhalt, sondern Form der Stücke geworden. Was für die Figuren gilt, drückt sich auch in der Komposition der Szenen aus: Sie bilden Haufen, Rudel, die aufeinanderprallen, sich eliminieren und so Figuren ausspucken, als wären sie Überreste eines Chores, der sich in der Schlacht der Szenen aufgerieben hat.
Die Weimarer Klassik, in persona Goethe und Schiller, knüpft an diese Formensprache Shakespeares unmittelbar an, opfert sie jedoch zunehmend zugunsten von Linearität und isolierter Figur, die keine Beziehung mehr zu einem, wie auch immer gearteten ‚Chor‘, sei er motivisch oder strukturell in der Form des Stückes realisiert, unterhalten. In bezug zu Schillers Die Räuber, die den Chor gewissermaßen im Titel tragen, und Goethes Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert stellt Schleef jedoch eine enge Beziehung zu den Darstellungsverfahren Shakespeares fest.

Aus der Vogelperspektive wechselt der Blick hin und her, gleitet von der einen zur anderen Partei, hängt sich oft an eine Figur, um auf eine andere zu prallen. Diese Vogelperspektive ist Goethes Formulierung des Kriegs-Furors, der bei Shakespeare ungebremst durchbricht, den Großteil seiner Stücke bestimmt. Nur durch den Furor ist ein sich Absetzen vom antiken Chor möglich. Selbst wenn Shakespeare die Chorgrobform, alle sprechen einen Text, möglichst meidet, besteht sie doch weiterhin durch die Art der Kriegsführung, Rudel- oder Haufenbildung, der sich seine dramatischen Abläufe insgesamt nicht entziehen. / Schiller gelingt mit den RÄUBERN eine Übertragung des Krieges auf kleinsten Raum, ein Familiendrama, das die Gattungsgrenzen sprengt. Zu spät erinnert er sich an seinen frühen Erfolg, will mit RÄUBER II eine Fortsetzung dieses Krieges liefern, doch zu tief ist er in Goethes Fängen, in Nebenproduktionen erstickt. [7]

Trotzdem ist für Schleef diese figurale Defigurierung des Chores durch Shakespeare keine Form, an die es anzuknüpfen gilt, da die ‚heilende Bedeutung‘ des Chores, die er in der antiken Tragödie hatte, durch die Aufspaltung verlorengeht. Dem Individuum ist der Ort der Heilung verlorengegangen, es bleibt mit dem Riß, der es von anderen trennt und zunehmend durch die Figuren hindurchgeht, sie in den Wahn treibt, allein. Um mit Lehmann zu sprechen, geht mit dem Werk Shakespeares die Monologie des Chores in den Monolog der Figur über. Während die Monologie, wenn sie auch von einer Figur gesprochen wird, stets den Bezug zum Gemeinschaftlichen, zu dem mit anderen geteilten Sprechen unterhält, markiert der Monolog einen Riß, eine Wunde, die sich durch das Sprechen vertieft:

Der Gesamtzusammenhang der auf der Bühne agierenden Figuren ist zerstört. Damit ist jede Figur auf eigenes Leid zurückgeworfen, auch befreit von Verantwortung füreinander. / Hier beginnt der Monolog. Die Figur friert in der Ausstoßung, krümmt sich, empfindet körperlichen Schmerz. Sie kann ihn nicht beruhigen, sondern mit der Erkenntnis wächst der Schmerz, die Unmöglichkeit, den immer noch blutenden Riß zu korrigieren. Im Fieber spürt sie ein Gift, spürt, wie sich die Wunde entzündet. Bis der Faden reißt, Panik ausbricht. [8]

Die Tragödie des einzelnen besteht darin, von der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein. Er stellt in der antiken Tragödie den Riß dar, der durch den Chor geht. Der einzelne ist Teil des Chores und steht ihm gleichzeitig entgegen. Dieser Konflikt kann ohne den Chor nicht mehr dargestellt werden. In diesem Sinne gibt es in Schleefs Leseweise der Theatergeschichte kein dialogisches Theater beziehungsweise Drama im strengen Sinne. Letztlich stehen im Drama umherirrende und monologisierende Figuren auf der Bühne, Figuren ohne Grund – um in Begriffen der Malerei zu sprechen. Die Kontur dieser Einzelfiguren, die ursprünglich den Riß, den sie dem Grund zufügt, bildlich darstellt, überströmt nun die ganze Figur. Sie löst sich vom Grund, verliert ihren Kontext – ihr Sprechen wird autistisch, sie ist eine Wunde ohne Körper. [9] Diese Beziehung von Figur und Grund thematisiert Schleef auf der Ebene der Sprache im Bild, einer Sprache des Autors und der Sprache der Figuren, die dieser verbindenden Sprache entstammen. Ein chorischer Sprachkörper umfaßt die Figuren, beziehungsweise wird durch sie konstituiert. Schleef kritisiert die Tendenz im zeitgenössischen Theater, die Individualisierung der Figuren voranzutreiben, anstatt die die Figuren verbindende Sprache hervorzuheben und so die oben beschriebene Spannung ins Werk zu setzen. Die einzelnen werden scharf voneinander abgegrenzt – sie werden zu autonomen Figuren:

Der normale Sprachtheaterbetrieb ignoriert bewußt diese Zugehörigkeit, die Verbindung der Figuren untereinander, umgeht eine gemeinsame Sprache, versucht die Figuren brutal zu individualisieren, sie damit ihres zusammenhängenden Sprachkörpers zu berauben und untereinander zu isolieren. Die so hergestellten ‚Kunstmenschen‘ gehören zwar dem Titel nach noch dem Autor, möchten aber als Sprache, als Figur autonom erscheinen. Diese falsche Autonomie ist zerstörerisch. […] Da Sprachkraft, Sprachmächtigkeit und Abbildkraft zusammenhängen, können gesellschaftliche Utopien diesen Verlust nur beheben, indem sie der Bühne neue Figuren und Handlungen zuführen, die wieder Bausteine werden, jenen Sprachkörper ausbilden, der sich mit der antiken Tragödie, ihrer Umformung bis heute, messen kann. Für den großen, gegliederten, zusammenhängenden Sprachkörper bedarf es des Chor-Stücks, der Chor-Idee, so wie sie das Gegenwartsstück DIE RÄUBER zum ersten mal praktiziert. [10]

2. Der ‚kranke‘ Chor – wider eine totalitäre Ästhetik

Schleef, dem oft eine faschistische Ästhetik vorgeworfen wird, versteht die Frage nach dem Chor als politische Frage. Er unterscheidet dabei nicht den Chor als ästhetisches Phänomen von realen politischen oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen. Vielmehr bezieht er diese Ebenen direkt aufeinander. Die ‚Realität‘ scheint in vielen Fällen prägnantere Formulierungen hervorzubringen, als es das Theater könnte. Die theatrale Grundsituation des Chores in der SZENE VOR DEM PALAST sieht Schleef in der heutigen ‚Realität‘, ähnlich der antiken Tragödie, bis zur Karikatur überzeichnet:

Drogeneinnahme und Chor-Bildung gehören zusammen, bedingen einander. Bestes Beispiel der Park vor dem Schauspiel Frankfurt, unter der Schillerbronze der Chor der Süchtigen, der Stoff-Suchenden, der opferproduzierenden Polizei, der Getrieztwerdenden, der im Parkstück zwischen Alter Oper und Schauspiel von der Polizei hin und her Gejagten, der Aufgeriebenwerdenden, so bildet, rekrutiert sich der Chor heute, so beschreiben ihn die antiken Autoren vor den Toren der Paläste. So drang man in Stasizentralen ein, so stehen afrikanische Flüchtlinge vor europäischen Betreuern. [11]

Ebenso wie Schleef dem späten Goethe vorwirft, die Wirklichkeit ‚gefälscht‘ zu haben, indem er zu einer Zeit als Europa von Frauen regiert wurde, die Frau aus dem tragischen Konflikt verdrängte, kann man hier so weit gehen, die These zu formulieren, daß das Theater, statt die gesellschaftlich-chorischen Konflikte darzustellen, indem es das Individuum ins Zentrum stellt, sich, gleich dem Palast der antiken Szene, gegen den Chor abschottet. Das bürgerliche Trauerspiel als Gattung, wie das bürgerliche Theater als Institution, verstoßen den Chor vor die Mauern des Palastes:

Damit wiederholt sich jene antike Konstellation, in der Elektra nachts vor dem Palast steht, dem Palast, in dem sie geboren wurde, der sie verstoßen hat und dem sie sich nun in Rache und Mordlust nähert. Hinter ihr stehen die Götter, die ebenso verstoßen sind und Einlaß begehren. Und ihr Geschrei erfüllt das Riesenhaus. [12]

Ein Geschrei, das Schleefs Frauenchor in seiner Mütter -Inszenierung anstimmte, ein Geschrei, das für einen Mann, wie ihm ein Zuschauer sagte, unerträglich sei. Schleefs Kritik weist in zwei Richtungen: Seine Anknüpfung an den Chor der antiken Tragödie enthält eine Kritik an der dramatischen Struktur des bürgerlichen Trauerspiels und zeigt gleichzeitig, daß diese ästhetische Norm Symptom für gesellschaftliche Konflikte ist, die das bürgerliche Theater nicht darstellen kann, da es selbst Teil dieses Konfliktes ist: Der Chor, das sind die, die im Theater nicht zur Sprache kommen, die an diesem Ort keine Stimme habe.
Dieser ‚kranke‘ Chor leidet an keiner Krankheit, die bestimmt werden könnte. Auch die Pest in der antiken Tragödie ist nur eine Chiffre dieser Unbestimmbarkeit der Krankheit. Der Chor ist das, was nicht bestimmt werden kann. Darin unterscheidet er sich grundlegend von einer totalitär gerichteten ‚gesunden Masse‘, die einen ‚gesunden Volkskörper‘ konstituiert. Schleef beschreibt diese ‚gesunde Masse‘ ähnlich, wie Nancy die totalitäre Gemeinschaft beschreibt: Sie richtet sich auf einen kollektiven Sinn hin aus, der größer ist als jeder einzelne und der sich im Tod des einzelnen für die Gemeinschaft realisiert. Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens müßte, so Schleef, eigentlich „Triumph des Todes“ heißen . [13] Zwischen Figur und Chor besteht in der faschistischen Ästhetik keine Beziehung des Ausgestoßenseins der Figur oder des Chores, wie dies in der griechischen Tragödie beziehungsweise im modernen Drama der Fall ist. Der tragische Konflikt ist zugunsten einer Masse getilgt, die die Chiffre des Todes und des Untergangs trägt. Diese ‚gesunde Masse‘ ist im doppelte Sinne krank: Sie ist nicht der Chor der Tragödie, sondern der Chor des Spektakels, der den Soundtrack zum Untergang liefert – ein Chor, der sich selbst von Anbeginn an als untergegangene ‚Gemeinschaft‘ feiert:

TRIUMPH DES WILLENS feiert eine Menschengemeinschaft, die Hitlers Machergreifung und Untergang nur als gigantisches Rockkonzert begleitet, sich als abzuräumenden Abfall definiert, als ein übervolles, brüllendes Stadion, das selbst den Tod unter den Zuschauern als Begleiterscheinung eines Spektakels quittiert, an dem man teilnimmt, um sein ganzes Leben darauf zurückzublicken. [14]

Dieser ‚gesunde Chor‘ hat eine andere Struktur, als der unbestimmbare Chor der griechischen Tragödie, obgleich die Tendenz zur Spaltung dem griechischen Chor eingeschrieben ist: „Die Spaltung der antik formulierten Chor-Zusammengehörigkeit ermöglicht das Abdriften der Demokratie. Dieser Vorgang prägt die Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides.“ [15] Der tragische Konflikt zwischen einzelnen und Chor ist die Chiffre des Untergangs; er zeigt die grundlegende Spaltung der Gemeinschaft, die fortschreitend zu Chor-Gruppen führt, die sich gegeneinander abschließen, sich definieren und damit den anderen als zu vernichtenden Feind setzen. Die ‚einzelnen‘ stehen nicht mehr in einer gemeinschaftlichen Beziehung zum Chor, sondern bilden eine Elite, die sich dem Chor entgegensetzt und zu ihm ein instrumentelles, hierarchisches Verhältnis unterhält. [16]
Der Chor der griechischen Tragödie ist nie eine ‚gesunde‘ Gemeinschaft, die sich gegen eine irgendwie geartete Gruppe von Kranken abgrenzte. Die Unbestimmbarkeit der Krankheit hat jedoch auch damit etwas zu tun, daß diese ‚kranke‘ Gemeinschaft nicht definiert werden kann – im Grunde wäre eine Gemeinschaft, deren Krankheit bestimmt werden könnte, keine Gemeinschaft, da deren Wesen die Unbestimmbarkeit ist. [17] Damit bedeutet die Krankheit als unhintergehbare Kategorie zweierlei: Nur als unbestimmter ist der Chor eine Gemeinschaft und gleichzeitig ist in ihm der tragische Konflikt, der im Ausgestoßensein des einzelnen, des Helden, besteht, von Anfang an eingeschrieben. Dies ist wiederum der Grund, weshalb der Chor nie als feste Entität beschrieben werden kann, sondern der Riß, die ‚Chor-Sprengung‘, integraler Bestandteil des Chores ist.
Schleef sieht diese Beziehung in der griechischen Tragödie durch die konfliktreiche Topologie von Landschaft und Palast gefaßt. Die Figur wohnt im Palast; der Chor ist der Landschaft zugeordnet oder stellt, wie Schleef betont, selbst eine Bühnenlandschaft dar. [18] Diese beiden Orte werden im Lauf der Geschichte der griechischen Tragödie immer stärker polarisiert:

Daß ein Chor, aus der Stadt, aus dem Palast ausbrechend, in der Landschaft kannibalisch feiert, zeigt Euripides, der damit die Trennung von Palast und Landschaft definiert, die einander feindlich gegenüberstehen. Der ausgestoßene Dionysos wartet vor der Stadt, um sie zu ‚erobern‘. [19]

Schleef bezeichnet diesen Chor als Chor-Tier, das sich verwundet – nicht zuletzt durch den Helden, der die Spaltung herbeiführt – aufmacht, um vor dem Palast zu heulen. Dieser Zustand des Chores ist auch an den Sprechtempi ablesbar. Während die Einzelfigur sich jeglicher Tempi bedienen kann, stehen dem Chor nur die Extreme zur Verfügung: sehr schnell und sehr langsam. Nicht nur motivisch, sondern auch in der Form der Sprache, in den zeitlichen Dimensionen der Sprechweise, artikuliert sich der Riß des Chores durch die Einzelfigur: Die Einzelfigur artikuliert sich im wesentlichen durch die freie Wahl der Tempi; ihre Zugehörigkeit zum Palast bedeutet nicht, daß sie stets die Macht repräsentiert, sie kann sich auch gegen die Gesetze des Palastes richten. Einzig die Wahl der sprachlichen Mittel macht sie zur Einzelfigur. Sie ist nie durch den Ort definiert, sondern befindet sich, wie der Chor auf andere Weise, zwischen den beiden Orten, die die griechische Tragödie kennzeichnen: dem Palast und der Landschaft. Schleef verweist nicht zufällig immer wieder auf die SZENE VOR DEM PALAST, da dieser Ort, zwar dem Palast zugeordnet, die Beziehung zur Landschaft aufrecht erhält. Diese Szene hält der Spannung des Risses stand, ohne in eine Opposition der Orte und damit in eine Opposition von Figur und Chor zu zerfallen. Dieser Ort kann vielleicht als Tier-Werden der Figur verstanden werden, einer Figur, die sich noch nicht der Gemeinschaft des Chores entgegensetzt, die in ihrer Rede den Tempi des Chores verbunden bleibt, die nicht predigend, lehrhaft und verkündigend ist, sondern deren Geschrei, wie Schleef dies für Elektra feststellt, den Palast erfüllt.
Schleefs Überlegungen kreuzen sich mit denen Lehmanns, der die Figur im wesentlichen als zeitliches Intervall versteht; ein Intervall, das die Kontinuität des Chores unterbricht. Diese zeitliche Dimension spielt auch für die SZENE VOR DEM PALAST eine Rolle, da, so Schleef, das ‚vor‘ auch zeitlich zu deuten ist als eine Form der Regression, die man mit Deleuze als eine Tier-Werden verstehen kann, da diese Szene nicht einen Zustand definiert, sondern gerade die Undefinierbarkeit der Figur und damit ihre Zugehörigkeit zum ‚kranken‘, das heißt unbestimmbaren Chor wiederherstellt:

Elektra ist von den übermächtigen Bindungen an die untergegangenen Figuren erdrückt, die ihr Denken, ihre weibliche Energie, ihre Inanspruchnahme männlicher Hilfeleistungen bestrafen. Für Elektra zählt kein Jetzt, nur ein Damals, das ein VOR DEM PALAST ist. Damit stuft sie sich selbst in einen Zustand zurück, der keine Sexualität zuläßt, keine Schwangerschaft, sondern nur kindliches Wüten. [20]

Dieser Vorgang ist also keine Regression im herkömmlichen Sinne, sondern eine Verrücktheit der Figur, die durch sie hergestellt wird, ein gewählter ‚Wahn‘. Die Figur folgt keinen psychologisch nachvollziehbaren Mustern. Ihre Handlungslogik scheint mehr aus dem Konflikt, den Schleef als den zentralen versteht und der in ihrem Figur-Sein selbst besteht, gespeist zu werden. Es treibt sie ebenso an die Grenze dieses Seins, wie ihre Sprache die Grenzen der Artikulation streift: In der Szene vor dem Palast scheint eine Zeit vor dem Palast auf, eine Zeit ohne Palast, die Nietzsche als die Zeit des Chores der Verwandelten und Nancy als die Zeit der Gemeinschaft versteht. Eine Zeit also, die nicht dem Jetzt vorgängig ist, sondern die ein Damals darstellt, das im Jetzt erscheint, ohne jemals gewesen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit dem Chor aus heutiger Perspektive betrachtet. Auch wenn er eine restaurative Rolle zu haben scheint, wenn die Figur aus ihm heraustritt, er also der Figur vorgängig gedacht werden muß, so ist er doch stets der ‚kommende‘ Chor, der nicht ins Werk gesetzt werden kann, der niemals sein wird. Schleefs Überlegungen stellen auch einen Aufruf an die Inszenierungspraxis dar, diese Dimension des Chores zu vergegenwärtigen, da gerade darin eine wesentliche politische Dimension des Theaters besteht – die Entwerkung der Gemeinschaft ins Werk zu setzen:

Im antiken Vorbild geht die Einzelfigur predigend gegen die szenische Situation an, indem sie sie zeitlich ausdehnt. Wie ein Gummiband dehnt ihr Monolog die Zeit. Der Chor scheint dagegen das Tempo anzuziehen, die szenische Ausgangssituation wiederherstellen zu müssen. […] / Die antiken Autoren sprechen auch dem Chor Zeitdehnung zu, doch unsere Interpretationen schlüsseln diese Zeitmessung nicht auf, da der praktizierte Chormonolog vor der enormen Schwierigkeit steht, einen längst überholten Stand menschlicher Entwicklung zu rekonstruieren. So oder ähnlich argumentieren Theatermacher und Darsteller, um sich der Chor-Bildung, der Chor-Einstudierung zu entziehen, die tatsächlich in eine andere Welt zurückführt, besser und richtiger, auf eine zukünftige Welt verweist. [21]

Schleef beschreibt dieses besondere Moment des ‚kommenden‘ Chores am eindringlichsten an einer Stelle, an der er sich der konkreten Arbeit mit Darstellern widmet. Diese Stelle wiederum, und das ist symptomatisch, verdeutlicht einen Aspekt, den er in seiner Lektüre von Puntila und sein Knecht Matti von Brecht entwickelt, nämlich den der „(i)ndividuelle(n) Aufgabe des einzelnen im Chor“. Die Antwort des Theaters auf das Problem der Masse wäre mit Schleef nicht die Darstellung einer Gruppe, in der jeder seine Individualität bewahrt, wie dies gern immer wieder in kritischer Absetzung zum vereinheitlichenden ‚gesichtslosen‘ Kollektiv linker oder rechter Provenienz geltend gemacht wird. Er appelliert an eine Theaterpraxis, in deren Darstellungsprozeß sich der Chor als ‚kommender‘ artikulieren kann. Die ‚Bindekraft‘ des einzelnen ist eine so spezifische, daß eine Umbesetzung des Darstellers völlig unmöglich erscheint. Dies jedoch nicht, weil dadurch das ‚ursprüngliche Werk‘ verfälscht würde, sondern da die ‚Mit-Teilung‘ eine je spezifische ist, die sich der Ökonomie des Tausches, wie dies Heeg für den Chor im Puntila geltend machte, entzieht:

Individuelle Aufgabe in 5. heißt, daß die Bindekraft eines speziellen Chor-Mitglieds zur Gemeinschaft eine andere ist als die seiner Nachbarn, die es an sich bindet. Zu beobachten ist in einer Chor-Arbeit, daß diese Personen eine größere Fähigkeit haben Bindungen einzugehen und so für die anderen ‚aufbauend‘ wirken, sodaß sich deren Bindekraft erhöht. ‚Chor-Führer‘ ist darum meist nicht ein Solist oder ein dazu befähigter Darsteller, sondern meist ein ‚Außenseiter‘, jemand, der sich durch ‚Sprachmängel‘ auszeichnet. Das Verhältnis seines Mangels zu seiner Chor-Führung ist bei den meisten mit einem ausgezeichneten Gehör verbunden, verbunden mit einem Rhythmusbewußtsein, die beide einander ergänzen, jedoch nicht die ‚Sprachmängel‘ beseitigen, sondern sie betont herausstellen. Daß sich diese Personen in der Chor-Arbeit besonders bewähren, mag am versuchten Ausgleich ihrer Mängel liegen, erschien mir aber stets nach der Suche nach einem ‚idealen‘ Sprechen, denn es erwies sich, daß eine chorisch erarbeitet Figur, eine Szene niemals von einem Einzelnen in dieser Konzentration durchgeführt werden kann. Wiederholt wurde das probiert, stets mit negativem Erfolg. Dem Einzelnen, der mit seinem Chor-Dasein unzufrieden war, fehlte schon nach wenigen Minuten die notwendige Energie, den Text weiter ‚gespannt‘ zu halten, er brach ab, war sich seines eigenen Versagens bewußt, auch der Hilflosigkeit ohne die anderen. Diese Momente waren äußerst schwierig, der Darsteller hatte sich wie an einer Bergwand ‚verstiegen‘, drohte abzustürzen. Hier geschahen mehr Beschädigungen als im Einüben der Texte. Schon wenn 2 Personen einen Text gemeinsam sprechen, tritt die Abkehr des Textes vom individuellen Ausdruck ein, erlangt er Autonomie. Der Einzelne kann dann den Text ohne den anderen rekapitulieren, aber nicht aufladen, zwar zur nächsten Probe Vorschläge erarbeiten, die jedoch nur mit der anderen Stimme, die nicht ersetz- oder austauschbar ist, hörbar werden. Wiederholt wurden ‚beliebige‘ Besetzungen, Umbesetzungen probiert, jeweils mit negativem Erfolg. Hatten sich Darsteller aufeinander abgestimmt, waren sie nicht austauschbar, sondern individuell wie ein Einzeldarsteller. [22]

Nikolaus Müller-Schöll spitzt diese Darstellungsform in der These zu, daß Singularität nur im Chor möglich sei. Er stellt den jungen Regisseur Laurent Chétouane in eine Reihe mit Jan Ritsema, René Pollesch und Einar Schleef, die er durch ihr je spezifisches Interesse am Singulären des einzelnen Darstellers verbunden sieht:

Im Mittelpunkt ihrer wie seiner Theaterarbeit steht nicht länger das seiner selbst mächtige Individuum oder das Subjekt des 19. Jahrhunderts. […] Gegen die Ideologie vom Individuum und Subjekt setzte Schleef die auf den ersten Blick provozierende These, wonach Singularität nur im Chor möglich sei. Sie bestätigt sich, verfolgt man, wie in Chétouanes Thyestes die Chorpartien gesprochen werden: Weil alle vermeintlich das Gleiche sprechen, lassen sich in der bis zum Exzess getriebenen Präzision des Sprechens die je spezifischen Unterschiede entdecken, die différence im Sprechen, das Bündel der Nuancen in Melodie, Tonhöhe und Färbung, das jedem einzelnen Sprecher zugleich seinen spezifischen Zugang zur Sprache eröffnet, wie auch sein Sprechen unendlich von dem aller anderen Sprecher unterscheidet. [23]

Lehmann stellt fest, daß sich in Schleefs Theater der tragische Konflikt nicht nur auf der szenisch-imaginären Ebene zwischen Chor und Figur abspielt, sondern auf der ‚Theatron-Ebene‘ selbst thematisch wird: „Insofern läuft die Darstellung des tragischen Konflikts (dessen Substanz, wie gesagt, immer das Individuum-Werden ist) über den performativen Akt des Theaterspiels und der Theaterversammlung selbst, über die Erzeugung eines real-theatralen Konfliktverhältnisses darin.“ [24] Letztlich kann in dieser Konstellation der Grund gesehen werden, warum Schleef in seinem Text, teilweise in einem Satz, von der theatralen Ebene auf die ‚reale‘ Ebene wechselt. Seine Überlegungen treiben immer wieder auf den Knotenpunkt zu, an dem sich die ästhetische und die politische Sphäre verknüpfen lassen. Damit ist jedoch auch eine einfache Widerspiegelungsästhetik unmöglich gemacht. Schleefs Chöre sind nicht Repräsentationen von gesellschaftlichen Gruppen, die auf der Bühne abgebildet werden. [25] Vielmehr ist diese Ebene selbst, der Prozeß des Figur -Werdens des Darstellers, Teil der Darstellung. Der Schleefsche Chor wiederholt Nietzsches elementaren Chor von Verwandelten, in dem sich der einzelne im anderen als Verwandelter wahrnimmt und so in die ‚Realität‘ ein Moment der imaginären Wahrnehmung eingelassen ist.

3. Tier-Werden – Chor als Meute bei Schleef und Shakespeare

Den Charakter des Entwerkten zeichnet das gesamte Denken Schleefs in bezug auf Figur/Darsteller und auf Chor/Gemeinschaft aus. Was diese Terme betrifft, lassen sich beide Ebenen parallelisieren. Schleef strebt in seinen Inszenierungen nicht einen definiten Punkt an, an dem sich das ideale Verhältnis dieser vier Terme zueinander bestimmen ließe. Selbst in der Beschreibung von Schleefs Theater geraten die Kategorien durcheinander – statt Chor mit Figur zu kontrastieren, spricht Lehmann von Chor und Individuum: „Was es bei Schleef nicht gibt, ist eine Idealisierung des Chors. Auch gibt es nicht einfach das Ideal des großen einzelnen Individuums. Vielmehr ist Theater das Feld ihres ‚Werdens‘ auseinander und aufeinander zu.“ [26]
Das ‚Werden‘ ist ein Begriff, den Gilles Deleuze und Felix Guattari anhand der Schriften von Nietzsche entwickelt haben . [27] Mit Werden bezeichnen sie einen irreduziblen Prozeß, der sich nicht der Kategorie des Seins entgegensetzt, das andere des Seins wäre, sondern der versucht, aus solchen dichotomisch organisierten Strukturen hinauszugelangen. Dieses Werden hat keinen Anfang und kein Ende, es ist weder das Werden von etwas noch die Mutation von etwas in etwas anderes. Eine sehr prominente Form des Werdens ist das Tier-Werden:

Gemeint ist nicht die Nachahmung von Tieren, auch nicht eine ‚wirkliche‘ Metamorphose des Menschen zum Tier, sondern eine Prozessualität, ein Werden ‚dazwischen‘ ohne Endzustand und Subjekt, ein a-subjektives oder ‚sub-subjektives‘ Mutieren. Es kommt zustande durch Bündnisse, Symbiosen, bei denen es keine fixe Selbstidentität des Werdenden gibt, das Subjekt, das Individuum ein kaum sichtbarer schwindender Horizont. Jedes Tier aber ist zuallererst eine Bande, eine Meute, ein Schwarm von Affekten. [28]

Die Meute ist niemals ein Definites, sie befindet sich in permanenter Veränderung: Es entstehen auf den unterschiedlichsten Ebenen Formen von Figurierungen beziehungsweise Individuationen, die sich sowohl auf der szenischen als auch auf der Theatron-Ebene abspielen. Die Meute erreicht nie einen geschlossenen Zustand, wodurch sie sich in Abgrenzung zu einer anderen Meute oder einem Individuum definieren ließe. Ähnlich wie Schleef die Chor-Arbeit beschreibt, bilden sich stets wechselnde Allianzen, Intensitätszentren, die in unterschiedlichste reale und imaginäre Richtungen weisen. Auch das ‚außergewöhnliche Individuum‘ ist nicht von der Meute ausgeschlossen, sondern kann eine konstitutive Rolle beim Tier-Werden spielen. Die Art, wie Beziehungen hergestellt werden, gleicht Formen der ‚Krankheit‘, wie sie schon aus der Beschäftigung mit dem Chor der griechischen Tragödie bekannt sind:

Unser erstes Prinzip lautet: Meute und Ansteckung, Ansteckung der Meute, eben dadurch vollzieht sich das Tier-Werden. Aber ein zweites Prinzip schein das Gegenteil zu sagen: überall wo es eine Mannigfaltigkeit gibt, findet man ein außergewöhnliches Individuum, und mit diesem muß man sich verbünden, um Tier zu werden. [29]

Die Beschreibung von Schleefs Chören nähert sich immer weiter der Bestimmung von Shakespeares Dramen, die Schleef selbst als Rudel bezeichnet: „Selbst wenn Shakespeare die Chorgrobform, alle sprechen einen Text, möglichst meidet, besteht sie doch weiterhin durch die Art der Kriegsführung, Rudel- oder Haufenbildung, der sich seine dramatischen Abläufe insgesamt nicht entziehen.“ [30] Schleef bestimmt die Form der Dramen Shakespeares als eine Übergangsform, in der die Figurierung des einzelnen an Dominanz gegenüber dem Chor gewinnt, jedoch noch nicht der Chor, wie dies dann im bürgerlichen Trauerspiel der Fall sein wird, zum Verschwinden gebracht worden ist. Vielmehr läßt sich bei Shakespeare ablesen, daß der Krieg den Chor sowie die Einheit des Werkes spaltet und zertrümmert. Der gespaltene Chor, der mit vielen Stimmen spricht, geht bei Shakespeare in die Form ein, die Szenen selbst bilden Rudel und Haufen. Damit findet sich das eigentliche Thema der griechischen Tragödie, das auch das von Schleef ist, in der Form wieder: „Die theatrale Grundkonstellation ist selbst ein Kriegsprodukt“ . [31] Ein Krieg, der von Anbeginn auf der Bühne als Ausstoßung der Figur, als Figurierung des einzelnen gegen den Chor dargestellt wurde. Ein Krieg, der den Chor von Anbeginn infiziert hat, der ihn ‚einkerbt‘. Eine Kerbung, fast unwahrnehmbar, die in der Spaltung des Chores ihren Ausdruck findet und die doch schon in der Art der Stimme des Chores vernehmbar war: Schon wenn zwei Sprecher sprechen, löst sich der Text von den Sprechern ab, wird autonom. Dennoch führt dies nicht dazu, daß die Stimme des einzelnen in ihrer Besonderheit untergeht. Vielmehr bedeutet diese Bindung, die durch das gemeinsame Sprechen eingegangen wird, das Hervortreten des einzelnen in der Gemeinschaft. Ein Gefüge, ein Netz von einzelnen, die sich nicht als Figur, sondern als entwerkter Chor figurieren.
Shakespeares Theater stellt also eine Form des prädramatischen Theaters dar, die heutigen Formen dahingehend sehr verwandt ist, daß in ihr eine Beziehung zwischen Figur und Chor existiert, die nicht in der Gegenübersetzung besteht, sondern vielfältige Beziehungen herstellt, die bis in die Struktur der Dramen hineinreichen. Sein Theater ist chorisch, ohne daß ein Chor auf der Bühne stehen muß. Darin ähnelt er Wagner, nur daß bei Shakespeare der Chor nicht unsichtbar, sondern in die Form des Dramas eingegangen ist – er ist abwesend anwesend, indem eine Gleichzeitigkeit der Szene hergestellt wird. Das entwerkte Drama als Szenen-Meute.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Schleef 1997
  2. „Drückende Erb-Last, daß Chor, Chor-Gedanke, Chor-Einigung nach Auffassung der deutschen Klassik Männersache sind. Ihre Auffassung behauptet sich bis heute brutal in Besetzung und Spielplan. Die Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor, auch wenn dieser nach Shakespeare individualisiert ist, setzt in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört.“ Ebd., S. 9.
  3. Ebd. S. 10.
  4. Ebd. S. 9
  5. >„Die Menschenzusammenballung, die jetzt mit ‚Proletariat‘ bezeichnet wird, ist der neue Chor, der aber nicht die Herrschaft trägt, sondern, von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muß, sofort mit seinem Erscheinen auf der Bildfläche ‚pestkrank‘ ist.“ Ebd. S. 12.
  6. (Ebd. S. 10f.)
  7. Ebd. S. 11.
  8. Ebd. S. 13.
  9. „Der Chor-Riß, die Chor-Sprengung, die Trennung von Chor und Einzelfigur ist die Tragödie des Einzelnen, dessen Tragödie sich demnach nur im Wechsel mit dem Chor abbilden läßt.“ Ebd. S. 276.
  10. Ebd. S. 101f.
  11. Ebd. S. 18.
  12. Ebd. S. 9.
  13. „Die Wut, die Mein Kampf ausmacht, ist von anderer Art als die, die von Triumph des Willens ausgeht, der ausschließlich von der Zentralperspektive lebt, aber Triumph des Todes heißen müßte. In der von vielen Intellektuellen bejubelten Aufmarschszene wiederholen sich nichts anderes als die Kreuzfelder der 1.Weltkriegssoldatenfriedhöfe, noch eindringlicher, da es für diese Leichen weder Särge noch Kreuze geben wird, wo käme das Holz her.“ Ebd. S. 270.
  14. Ebd. S. 271.
  15. Ebd. S. 19.
  16. „Die Zerreißspannung artikuliert sich heute in Radikalen-Aufmärschen, die längst programmiert, längst vorbereitet sind. Wieder hat sich eine Triebkraft dieser ‚Proleten der Straße‘ versichert, damit Drecksarbeit gemacht wird, während die Auftraggeber abgeschottet ihre Drogen genießen. / Der Chor, der sich im Zusammenschluß nach innen festigt, festigt sich genauso in seiner Abwehr gegenüber Störungen des Drogenkonsums, indem der Aggressor ausgeschaltet wird. Ist sich der Chor der gemeinsamen Drogeneinnahme sicher, der Einhaltung der verabredeten Riten, wendet er sich um so ungestümer, aufopfernder gegen seine Feinde, ist der Einsatz des Lebens für den Weiterbestand der Gemeinschaft und der Drogeneinnahme nicht nur selbstverständlich, sondern Höhepunkt und Sinn individuellen Lebens, selbst wenn es die Beendigung der eigenen Existenz beinhaltet.“ Ebd. S. 19.
  17. Diese Fragestelle berührt sehr stark die Bestimmung der Gemeinschaft als prinzipiell entwerkte Gemeinschaft bei Nancy.
  18. Diese Nähe drückt sich auch ein der Wortbedeutung des griechischen Wortes chorós aus, das neben ‚Tanz‘ und ,Reigen‘ auch ‚Tanzplatz‘ bedeutet. Das griechische Wort chōra vertieft diese Beziehung zum Raum, indem es eine Landschaft bezeichnet, die sich von der Umgebung abhebt. Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch 1994, S. 263.
  19. Schleef 1997, S. 276f.
  20. ]Ebd. S. 268.
  21. Ebd. S. 275.
  22. Ebd. S. 479.
  23. Müller-Schöll 2003, S. 13, Zitiert nach: Deutsches Schauspielhaus in Hamburg: sitz!platz!#03, Hamburg.
  24. Lehmann 2002, S. 48.
  25. Ulrike Haß betont diesen Aspekt in ihrer Analyse der Inszenierung von Ein Sportstück von Elfriede Jelinek durch Einar Schleef 1999 am Burgtheater in Wien. Der ‚Chor-Körper‘ hat, so Haß, nichts mit den Darstellern auf der Bühne zu tun. Die Darstellungen auf der Bühne, die Bilder und Tableaus bilden eine eigenständige Ebene – die Körper der Darsteller sind keine Darstellung eines ‚Chor-Körpers’: „Der Chor ist nicht Objekt des Blicks. Die Trägheit unserer Imagination geht allzu leichfertig darüber hinweg, daß der Chor nicht mit Bildern von sich handelt. […] Gerade diese Beschaffenheit des Chor-Körpers, der auf der Ebene des Realen spielt und sich nicht von selbst als Bild hervorzubringen vermag, ermöglicht auf der anderen Ebene der Inszenierung, daß die Körper der Chor-Mitglieder im Theater von Einar Schleef zum Material vollkommen eigenständiger Theaterbilder werden können.“ Haß 1999, S. 78.
  26. Ebd. S. 48.
  27. Vgl. Deleuze 1991, S. 54f.
  28. Lehmann 2002 S. 52.
  29. Deleuze, Guattari 1992, S. 332.
  30. Schleef 1997 S. 11.
  31. Lehmann 2002 S. 53.

Proszenium, Orchestra und Orchester. Zur Topographie fragiler Theaterorte

efs Chortheater weist als grundsätzliche Befragung des Theaterraums auf ein Paradox hin, das dem europäischen Theater von Beginn an eingeschrieben scheint: Dem Chor als erster Figur des Theaters scheint in diesem kein eigentlicher Ort zuzukommen.Schleefs Arbeit an diesem Paradox soll im folgenden an vier exemplarischen Punkten nachgezeichnet werden: an seiner analytischen Beschreibung der tragischen Bühne als Szene ,VOR DEM PALAST‘, an der Fragilität der theatralen Orte in der Inszenierung Ein Sportstück, an der Definition des Orchesters als Chor in der Inszenierung Der Golem in Bayreuth und an Schleefs Wagner-Rezeption und dem Problem des Orchestergrabens.

2. Elektra ,VOR DEM PALAST‘ – Die Gründung des Proszeniums

Das antike Theater gründet in einem doppelten Raum-Problem: Zum einen ist das Proszenium als Ort des tragischen Protagonisten ein Un-Ort zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor. Die Tragödie zeigt den leidenden Protagonisten im Schwebezustand zwischen diesen beiden Orten, von denen er durch die Geschichte, die verlautbart wird, unwiderruflich getrennt ist. Der Ort, an dem dieses Getrenntsein sich mitteilt und erfahrbar wird, ist das Proszenium, das Schleef in seinem Essay Droge Faust Parsifal mit der Angabe ,VOR DEM PALAST‘ bezeichnet. Das zweite Problem ist das räumliche Verhältnis zwischen Chor und Protagonist – und damit auch zwischen Chor und Palast/Skene. Indem die Szene ,VOR DEM PALAST‘ sich zwischen Palast und Chorraum schiebt, kann das Proszenium auch als Barriere zwischen Orchestra und Skene aufgefaßt werden. Das heißt nicht nur der auf der tragischen Szene ausgesetzte Protagonist entfernt sich durch sein Hervortreten vom Zentrum der Macht, auch der Chor wird durch die Errichtung des Proszeniums von dem Palast abgeschnitten, als dessen ,eigentlichen Bauherren‘ ihn Schleef beschreibt. [1]
,VOR DEM PALAST‘ tritt nicht nur die grundlegende Spaltung zwischen Chor und Protagonist, Protagonist und Palast hervor. Indem die Orchestra nach der Errichtung des Proszeniums nicht mehr gemeinsamer Auftrittsort von Chor und Schauspieler ist, zeigt sich, daß auch die Herkunft der Chor-Figur eine andere ist. Schleef schreibt, sie gehöre eher zur „Bühnenlandschaft“, sie sei vielmehr selbst Landschaft. Doch diese Landschaft in ihrer „ursprünglichen, heilenden Bedeutung“ [2] so Schleef, als Ort, an dem „sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen könnte“[3], scheint in den Tragödien allenfalls im Konjunktiv auf. Die Landschaft, aus der der Chor hier kommt, um vor den Toren des Palasts zu klagen, ist keine unzerstörte Idylle. Grund der Versammlung des Chors vor dem Palast – im Theater, in der Orchestra – ist in den antiken Tragödien stets eine existentielle Bedrohung: Krieg, Terror, Rechtsbruch. Politischer Grund des Auftritts der Chor-Figur auf dem Theater ist es, diese Situation zu veröffentlichen, auf dem Theater zu verhandeln. Meist gibt es keine Lösung des Konflikts, zumindest keine friedliche, das heißt: keine Lösung ohne Opfer. Davon sprechen die Tragödien, in denen, so Schleef, noch das Menschenopfer erinnert werde. [4] Droge Faust Parsifal definiert die Bühne der antiken Tragödie als Szene ,VOR DEM PALAST‘:

VOR DEM PALAST, das ist die antike Konstellation, das ist das antike Bühnenbild, das ist die Voraussetzung für den Individualisierungsprozeß, das ist das Zeichen für das bevorstehende Opfer, das ist das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander. [5]

Die paradigmatische Figur, an der Schleef die ,antike Konstellation‘ als Szene ,VOR DEM PALAST‘ beschreibt, ist Elektra. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind der zweite Teil der Orestie Die Choephoren / Die Grabspenderinnen sowie die sophokleische Elektra. Aischylos’ Stück hat einen wesentlich höheren Chor-Anteil, worauf schon der Titel schließen läßt, während Sophokles Elektra im eigentlichen Sinn aufs Proszenium stellt, indem er die Szene ,VOR DEM PALAST‘ definiert. Da Droge Faust Parsifal die unterschiedlichen theatralen Versionen des Elektra-Stoffs vermischt, sollen diese hier im Hinblick auf das Verhältnis von Chor und Protagonist kurz skizziert werden.
Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Aigisth verweigert Elektra ein einvernehmliches Leben mit den neuen Machthabern, den Mördern ihres Vaters. Plötzlich kommt Orest, der von der Mutter verbannte Bruder Elektras, zurück nach Mykene. Unter Strafandrohung bei Unterlassung hat er, so Aischylos, von Apoll den Auftrag bekommen, den Vatermord zu rächen. Die Szene beginnt in den Choephoren am Grab Agamemnons, wo der Chor die Wiederherstellung der genealogischen Ordnung und die Beendigung der unrechtmäßigen, tyrannischen Herrschaft Aigisths fordert. Gemeinsam bitten Chor, Elektra und Orest die chtonischen (Erd-)Götter um Unterstützung bei der Ausführung der Rache. In der Mitte des Stücks wechselt der Schauplatz vom Grabhügel zum Palast. Orest gelangt mittels einer List in den Palast und führt den Rachemord durch. Elektra tritt nicht mehr auf.
In Sophokles’ Elektra hingegen ist sie die ganze Zeit auf der Bühne, das heißt ,VOR DEM PALAST‘, in den sie es ablehnt zurückzukehren.

Doch nein! nie werd ich für die künftige Zeit
Im Haus mit denen leben, sondern hier am Tor,
Dahingesunken, möge ohne Freund
Das Leben mir verdorren! [6]

Sophokles’ Elektra ist es, die den Ort ,VOR DEM PALAST‘ benennt, den sie während des ganzen Stückes nicht verläßt. Im Gegensatz zu den Choephoren ist es hier auch Elektra, die Orest verstärkt zur Rachetat antreibt. Der Chor drängt nicht auf Wiederherstellung der legitimen väterlichen Ordnung, sondern hält Elektra zur Mäßigung an. Bei Aischylos wie bei Sophokles ist Elektra eine gekrümmte Figur, sie behält die am Grab des Vaters eingenommene Haltung bei. Ihr Ort ist am Boden vor dem Palast, aus dem sie ausgestoßen ist beziehungsweise in den sie sich weigert, wieder einzutreten. Obwohl sie die Tat nicht ausführt, ist Sophokles’ Elektra die große Rachefigur, indem sie Orest zum Mord antreibt, dessen Auftrag nun, anders als in den Choephoren, kein göttlicher mehr ist, sondern ein selbstgegebener. Diese Dimension der Elektra-Figur wird von ihrer ununterbrochenen Präsenz in der Szene bekräftigt, während ihr Drama bei Aischylos mit der Ankunft des Bruders zuende ist.
Elektra bleibe, so Schleef, eine „schwierige Figur“, „wie die Waffe, der das Geschoß fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuß als auch Treffer imaginieren läßt.“ [7] (Schleef 1997, S. 266.) Von der „übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt“ [8], gibt Elektra ihren Thronanspruch auf und verharrt am Boden vor den Toren des Palasts. Mit dieser Geste der Unterlassung gründet sie das Proszenium, den Ort ,VOR DEM PALAST‘, als Unort, der sich ex negativodefiniert: Er ist nicht Palast, nicht Landschaft, nicht Orchestra. Dieser Ort, der weder Skene noch Orchestra ist, wird zum Ort der Klage des tragischen Protagonisten, zu dem Ort, der den Konflikt anzeigt und ausspricht.
Mit der Errichtung des Proszeniums auf dem Theater muß der Chor notwendig vom Palast wegrücken. Das Proszenium ist somit nicht nur Auftrittsort des tragischen Protagonisten, sondern auch Barriere zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene. Diese räumliche Trennung von Chorraum und Skene bezeichnet den „Chor-Riß“, als welchen Schleef die irreversible Trennung der Einzelfigur vom Chor beschreibt, deren Tragödie sich „demnach nur im Wechsel mit dem Chor“ abbilden lasse. [9]
Der Chor, einst Zentrum des Theaters, in das er, von außen kommend, feierlich eingezogen ist, findet im Proszenium seine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Das Proszenium, das in der Folge immer größer wird und schließlich die Bühne ganz einnimmt, steht mehr und mehr gegen die Orchestra, die immer kleiner wird und letztlich ganz aus dem Theater verschwindet – wie der Chor.

3. ,Unter dem Eindruck der Tragödie‘ – Ein Sportstück

In der Uraufführung von Elfriede Jelineks Sportstück, 1998 am Burgtheater, gibt es keinen Palast und keine Orchestra. Dem korrespondiert die grundsätzliche Abwesenheit protagonistischer Figuren. Die Bühne ist zumeist in rampenparallele, beleuchtete und nicht-beleuchtete Streifen eingeteilt, was die Fragilität der Auftrittsorte sowie den Status der Figuren kennzeichnet. Die Orte des Chors sowie der einzeln auftretenden Figuren werden mittels Licht hergestellt. So erinnert der erleuchtete Teil der Vorderbühne bis zur Bühnenkante an die im Theater nicht vorhandene Orchestra, und für den Auftritt der Einzelfigur markiert ein parallel zur Rampe verlaufender Lichtsteg unter dem Eisernen Vorhang das Proszenium.
Als Figur der Frage, dem Publikum direkt zugewandt, tritt der große Chor in der von Schleef sogenannten ,mäßigen Chorkleidung‘ (Hier: bodenlange, weite schwarze Kutten, die nur Gesicht und Hände der Chormitglieder zu sehen geben.) an die Bühnenrampe. Dieser Ort ist in der Inszenierung als expliziter Ort des sprechenden Chors markiert, in dem er, hell erleuchtet und halbrund mit der Kante der Vorderbühne abschließend, auf das Fehlen einer Orchestra, eines Chorraums im Theater, aufmerksam macht. Hier tritt in der Inszenierung der sowohl inhaltlich wie auch klanglich vielfältigste Chor auf. Diesem ersten Auftritt des Chores geht die lange Rede einer Frauenfigur voraus, eine Ansprache der Mutter an den abwesenden Sohn, der Opfer des von ihm betriebenen Leistungssports werden wird. Daß diese Figur keine tragische Protagonistin ist, sondern allenfalls „unter dem Eindruck der Tragödie“ [7] steht, wie es in Ein Sportstück heißt, verdeutlicht die Bühnenbeleuchtung: Das Proszenium, markiert durch den Lichtstreifen, kann jederzeit verschwinden. An diesem fragilen Ort hält die Mutter ihre Anklage – an den Sohn, der sie verlassen hat, an den Sport, der ihr den Sohn geraubt hat. Nach ihrer Ansprache pfeift sie zum Wettkampf, worauf 47 Chormitglieder an der Frau vorbei bis zur Rampe laufen, wo sie dicht aneinander gedrängt stehen bleiben. Der gesamte Bühnenboden ist jetzt wieder in das schon beschriebene Lichtmuster eingeteilt. Der Teil der Vorderbühne, auf dem der Chor steht, ist hell erleuchtet. Der Lichtstreifen auf der Höhe des Eisernen Vorhangs, wo die Mutter steht, ist nunmehr ein Lichtstreifen unter vielen, womit das vorherige Proszenium verschwunden ist.
Schleefs Sportstück-Inszenierung konfrontiert zwei Szenen aus Hugo von Hofmannsthals Elektra mit Jelineks Figur der Elfie Elektra, die als Chor und jenseits der Sichtbarkeit auftritt. Elfie Elektra aus Jelineks Sportstück ist keine protagonistische Figur. Ihre „Programmversionen“ hat sie sich „angelesen wie ein Dieb“ [8], heißt es im Stück. Aus ihr spricht nicht nur die Elektra-Figur, die die Lücke in der Genealogie beklagt und Rache für den Vatermord ankündigt, sondern ebenso die Stimmen derjenigen, die mit den Toten nichts zu tun haben wollen. Ihre Rede ist in sich vielstimmig, das heißt, sie verweist nicht auf die Fiktion einer personalen Figur, die mit einer einheitlichen, in sich konsistenten Stimme sprechen würde. Im Gegensatz zur Figur der Elektra, die, obwohl Besiegte, wie alle Elektra-Versionen bis zu Hofmannsthal zeigen, die Schichten ihres Besiegtseins vergessen machend, als Figur der Rache auftritt, hat Elfie Elektra an Kraft verloren. Der Entschluß zum „Krieg gegen Mama“ [9] wird als Haltung nicht durchgeführt. Von dieser Unterlassung spricht der Text des Elfie-Elektra-Chores, der Klage, Anklage, Selbstanklage, aber nicht Racheankündigung ist. ( „Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte“, heißt es entsprechend im Text des Matrosen-Chores [10] .) Elfie Elektra, die die Elektra-Geschichte mit sich trägt, aber eine längst Besiegte ist, ist als Figur nicht an Sichtbarkeit geknüpft. Dieser Figur entspricht im Bühnenraum kein noch so prekäres Proszenium. In der Inszenierung tritt Elfie Elektra als nur akustisch vernehmbare Chor-Figur auf der nicht einsehbaren Hinterbühne auf.
Der Chor der Matrosen – in Jelineks Text „Der Taucher“ [11] –, der sich als Elfie Elektras Bruder zu erkennen gibt, ist im Gegensatz dazu extrem in der Sichtbarkeit organisiert. Aus der Unterbühne kommend beendet der Matrosen-Chor, diese vielgestaltige Wiedergänger-Figur des Orest, eine Szene zwischen Elektra und Chrysothemis aus Hofmannsthals Stück. Auf die falsche Nachricht von Orests Tod beschließt Elektra, den Rachemord notfalls auch alleine auszuführen. Die Körper der Matrosen, von der Unterbühne beleuchtet, werfen bereits riesige Schatten an die Brandmauer. Schließlich beginnt der Matrosenchor, die beiden Schwestern übertönend, zu sprechen. Diese brutale Beendigung der Elektra-Szene spiegelt sich im Text der Matrosen, der von der umfassenden Besiegtheit der Elektra-Figur spricht. Die Vorderbühne wird bis zur Rampe hell erleuchtet, und die Riege der Matrosen nimmt den bis dahin leeren Ort an der Bühnenkante ein, der die Orchestra erinnert.
Nach Ende ihres Textes marschieren die Matrosen zu dem Ort auf der Bühne zurück, an dem sie zuvor ‚aufgetaucht‘ sind. Während der ganzen Zeit, in der der nicht-sichtbare Elfie-Elektra-Chor spricht, bleibt der Matrosen-Chor als Schattenfigur dort stehen. Die stimmliche Präsenz des Elfie-Elektra-Chores, der nicht sichtbar ist, beherrscht nun die Szene. Der Merkwürdigkeit der leeren Vorderbühne während der Elfie-Elektra-Rede entspricht der schweigende Matrosen-Chor, der in der Position des Zuhörers erstarrt ist. Während er als Schattenfigur, die nicht abtreten kann, auf der Bühne steht, beherrscht der nicht zu sehende Elfie-Elektra-Chor, der klanglich viel variantenreicher ist als der Matrosen-Chor, die Szene auf ganz andere Weise. Indem diese Szene auf der visuellen Ebene stillsteht, wird der Theaterraum hier in erster Linie Klangraum. Darüber hinaus verstärkt das chorische Sprechen Elfie Elektras, indem es sich dem Auge entzieht, den Umstand, daß der Chor viel mehr mit dem Gehörtwerden verknüpft ist als mit dem Auftreten im Feld der Sichtbarkeit.

4. Theaterraum als Chorraum und Orchester als Chor – Der Golem in Bayreuth

1999 inszeniert Schleef am Burgtheater das ,Musiktheaterspiel‘Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz. Das Stück verbindet die Legende des Golem, einer verlebendigten Figur aus Lehm, die Rabbi Löw gemäß der Kabbala um 1600 in Prag geschaffen haben soll, mit Wagners Version des Parzival-Mythos, die 1882 im Bayreuther Festspielhaus als „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal zur Uraufführung kam. Auf der Textebene wird eine Linie von der in einem Akt der Hybris geschaffenen Figur des Golem zu den ,denkenden Maschinen‘ und perfekten Körpern behauptet, an deren Vision zeitgenössische Kybernetiker und Gentechniker arbeiten. Doch die von Menschenhand geschaffenen, seelenlosen Geschöpfe, so die These des Stücks, sind nur scheinbar kontrollierbar und haben längst begonnen, ihrerseits den Menschen zu beherrschen.
Als ,Stück im Stück‘ ist in Golem die Aufführung des Parsifal szenischer Anlaß der Versammlung der Bayreuther Festspielgesellschaft. Das Festspielhaus wird jedoch von einer Gruppe gewalttätiger Jugendlicher besetzt, die drohen, das Theater abzubrennen. In dieser vom Stücktext vage als neonazistisch skizzierten Gruppierung der ,Haßkappen‘ scheint sowohl die Angstfigur des Golem wiederzukehren wie auch Parsifal, der vorgeblich ,reine Tor‘. Parsifal selbst, musikalisch extrem anwesend in der Inszenierung, tritt als Protagonist nicht mehr auf. Das Stück zeichnet sich überhaupt durch die strukturelle Abwesenheit protagonistischer Figuren aus. Als einzige Einzelfigur hat der Golem keine Sprechstimme. Zwar wird er, wie die Legende sagt, mittels eines ihm in die Stirn gesteckten Zettels, auf dem der unaussprechliche Name Gottes steht, zum Leben erweckt. Paradoxer Weise bleibt er jedoch eine sprachlose Figur. Der Golem scheint allenfalls in der vielstimmigen Wiedergänger-Figur der Haßkappen zur Sprache zu kommen, mit der er sich nach und nach verbündet.
Bereits der Stücktext etabliert also eine grundsätzlich chorische Struktur. So ragen zwar einzelne Stimmen punktuell aus den chorischen Zusammenhängen heraus, treten jedoch nicht von diesen losgelöst auf. Schleefs Inszenierung greift diese chorische Struktur auf und radikalisiert sie in mehrfacher Hinsicht. Mit der Verabschiedung des Protagonisten bleibt als einzige theatrale Form die Chor-Szene, was sich nicht zuletzt auf die Behandlung des Theaterraums auswirkt.
Einar Schleefs Golem-Inszenierung ist auch und vor allem eine grundsätzliche Befragung des Theaterraums in Hinblick auf einen Ort des Chors im Theater. Die große Frage, die sich gerade angesichts dieser durchgängig chorischen Inszenierung stellt, ist, ob es überhaupt einen Ort des Chors im Theater gibt. Da Golem ein Musical ist, muß die Frage gestellt werden, wie sich das Orchester zum Chor positioniert. Welche Stellung nimmt das Orchester in einem Theater ohne Chorraum und ohne Orchestergraben ein?
Von Beginn an ist die Inszenierung durch den gleichzeitigen Auftritt verschiedener Chöre gekennzeichnet. Nach dem Einlaß tritt Einar Schleef als Stadtrat von Bayreuth in den Zuschauerraum, der wie die Bühne hell erleuchtet ist. Der Stadtrat erklärt dem Publikum die Bedrohung von Seiten der Haßkappen, die auf den Straßen einen Bürgerkrieg führen und dem Theater immer näher rücken. „Trotzdem“, so der Stadtrat, „der Aufführung des Parsifal heute wünschen wir gutes Gelingen“. [12]Der Chor der Festspielgesellschaft tritt an die Bühnenkante, und es beginnt ein elegischer, kakophonischer Gesang. Dieser Chor, der hier die Festspielgesellschaft vor der Aufführung des Parsifaldarstellt, wird sich später zum Orchester formieren. Das Orchester ist so bereits als Mitspieler und das heißt: als Chor definiert. Plötzlich stürmt eine Gruppe schwarz gekleideter, mit Schlagstöcken bewaffneter Männer und Frauen durch den Zuschauerraum bis zur Bühnenrampe. Der Stadtrat schreit in die beiden gleichzeitigen Chöre hinein: „Wogegen protestieren Sie? Was wollen Sie?“ [13], wird aber von Pfiffen und „Bier“-Rufen der Haßkappen übertönt. Die Streitszene zwischen Stadtrat und Haßkappen findet inmitten des Publikums statt, dessen Ort von diesem Konflikt durchzogen beziehungsweise gespalten wird. Räumlich eingefaßt wird das Publikum und mit ihm die Szene des Konflikts von der jetzt schweigenden Chorriege auf der Bühne und den an die Parsifal-Aufführung erinnernden Blechbläsern auf dem Rang, die das ,Verwandlungsmotiv‘ aus Parsifal intonieren. Den fiktiven Ort des Gasthauses gibt es in der Inszenierung nicht, alles findet im Theater statt. So wird die Konfrontation der verschiedenen Gruppen in der Inszenierung nicht nur theatralisiert, sondern auch verschärft: durch das Gegenüber von der Festspielgesellschaft als Chor auf der Bühne und den Haßkappen als Gegenchor im Parkett, aber auch weil sich alles in einem Raum und mitten unter den Zuschauern abspielt, die durch die Ansprache des Stadtrats von Bayreuth und die räumliche Anordnung gleichsam zu Mitgliedern der Festspielgesellschaft geworden sind. Das Theater als realer Ort der Zusammenkunft wird somit zum Verhandlungsraum, in dem das, was auf dem Theater stattfindet, zuallererst verhandelt werden muß.
Eine weitere konfrontative Szene, in der verschiedene Chöre gegeneinander antreten, gibt es gegen Ende der Aufführung: Die Haßkappen postieren sich an der Bühnenrückwand und wiederholen ihre eingangs vom Stadtrat zitierte Kriegserklärung gegen Stadt, Staat und Festspielhaus. Die Szene spielt bei minimaler Beleuchtung, wie überhaupt weite Teile der Inszenierung, die sich dadurch vor allem als ein Theater der Stimmen kennzeichnet. Einzige Lichtquelle ist hier ein in der Mitte der Bühnenrampe lokalisierter Scheinwerfer. Man sieht den übergroßen Schatten des Golem und die unheimliche schwarze Riege der Haßkappen als Schattenfiguren. „Das Festspielhaus brennt“ [14] , skandieren sie und schlagen in einem vom Chorführer angegebenen Takt mit ihren Schlagstöcken auf den Bühnenboden. Die Bedrohlichkeit der Szenerie ergibt sich vor allem aus ihrer klanglichen Disposition: Da der Bühnenraum vollständig mit Holz ausgeschlagen ist, läßt das Knallen auf den Bühnenboden den gesamten Theaterraum erschallen. Das ganze Theater wird so auch physisch zum Resonanzraum dieses Chorauftritts, der, obgleich weit von der Bühnenkante entfernt, den ganzen Theaterraum erfaßt, nicht nur auditiv, sondern geradezu körperräumlich.
Währenddessen sind nach und nach alle Chormitglieder des Stücks auf die Vorderbühne getreten, und es haben sich fünf Gruppen gebildet, die man jetzt gleichzeitig hört: Ein Männer- und ein Frauenchor singen abwechselnd „Hojotoho–há“ (Ruf der Walküren in Wagners Ring der Nibelungen.) mit ansteigender Geschwindigkeit, so daß sie sich schließlich überlagern. Ein Kinderchor singt das Lied der Haßkappen („Haß macht Spaß“). Die Haßkappen haben ihre Schlagstöcke weggeworfen und sind mit der Kampfparole „Bayreuth brennt“ ebenfalls an die Bühnenrampe getreten. In diesen Stimmenkampf der verschiedenen Chorgruppen hinein erklingt wieder das bereits erwähnte Fanfaren-Motiv aus Parsifal. Nach dieser Szene, die von mehreren Auftritten der untoten Kundry-Figur unterbrochen wird, vereinen sich alle Chöre zu einem und singen das ,Gralsmotiv‘, während die Fanfaren wiederum das ,Liebesmotiv‘ spielen. Dies ist zum einen eine klangliche Radikalisierung, da sämtliche Chormitglieder an der Bühnenrampe stehen und ihre Stimmen das ganze Theater erfüllen, zum anderen aber auch inhaltlich, insofern es scheint, als würde der große, nunmehr aus allen Darstellern bestehende Chor, der Enthüllung des Grals – die ja hier nicht stattfindet –, nicht beiwohnen – wie die Gralsritter in WagnersParsifal –, sondern sie vielmehr fordern. Diese Haltung des Chores assoziiert die angeschlagene Gralsritterschaft, die zur Stärkung ihrer Gemeinschaft die Wiederaufnahme des Gralsritus fordert, der einzig Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit garantieren kann. Wie auch in weiteren Szenen der Inszenierung, die Parsifal zitieren, tritt der Chor hier, im Gegensatz zu Wagner, an die Stelle des Orchesters. Ein Orchester gibt es an dieser Stelle nicht, einzige Instrumentierung dieser Szene ist das Piano. Die Blechbläser (Fanfaren) bilden eine eigene Chorgruppe. Die Übernahme musikalischer Partien durch den Chor in den Parsifal-Szenen geht so weit, daß nicht nur die Gralsritter als Chor in den Vordergrund treten, sondern auch die Stimme des Protagonisten vervielfältigt wird, wenn er zum Schluß seine Machtübernahme mit den Worten besiegelt: „Enthüllet den Gral“. [15] Die bei Wagner darauf folgende chorische Huldigung Parsifals als Erlöser hingegen fällt aus. Kein Gral, keine Substitution der Blutdroge, keine Erlösung.
Wie der Chor in den Parsifal-Zitationen an die Stelle des Orchesters tritt, wird das Orchester in SchleefsGolem-Inszenierung durchgängig als Chor behandelt. Das wird auch in der räumlichen Anordnung deutlich, die der des Chors im Akademietheater gleicht. So umfassen auch die Spielorte des Orchesters den gesamten Theaterraum, indem sie von dem Rang, aus dem die ,Parsifal-Fanfaren‘ ertönen, bis zur Hinterbühne reichen. Das Orchester, derart als Chor behandelt, hat in diesem Theater genau wie der Chor keinen ihm eigenen Ort. Der fehlenden Orchestra korrespondiert in dieser Raumbehandlung die Abwesenheit des Orchestergrabens. Nicht der Bühne, also der Szene gegenüber, vor ihr oder gar unter ihr verborgen, unsichtbar in einen ,mystischen Abgrund‘ (Wagner) versenkt, spielt das Orchester, sondern: auf der Bühne, gegenüber den Zuschauern, sowie auf dem Rang, hinter den Zuschauern, der Bühne gegenüber. In der konsequenten Gleichbehandlung von Orchester und Chor, der räumlichen wie klanglichen Definition des Orchesters als Chor, wird also nicht zuletzt die Problematik eines im Theater nicht vorhandenen Chorraums deutlich.

5. Wagner und Schleef – Die Ersetzung des Chors durch das Orchester und das Problem des Orchestergrabens

In seinen Theaterarbeiten sowie in Droge Faust Parsifal – und hier insbesondere am Parsifal-Thema und seiner möglichen Umsetzung – problematisiert Schleef den Theaterraum immer wieder hinsichtlich des Verschwindens des Chors und der Abwesenheit eines expliziten Chorraums. In Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit Wagner ist zu fragen, inwiefern für Schleef die Positionierung des Orchesters im Musiktheater und insbesondere Wagners Lösung des Orchestergrabens ein Problem darstellt. In welchem Verhältnis stehen Orchester und Chor zueinander? Wie verhalten sich beide zu und in einem Theaterraum, der keinen Chorraum vorsieht? Wie plaziert man das Orchester in einem Theater, das nicht als Hörraum, sondern als reine Schauanlage konzipiert ist?
Wagner löst das Problem der aus den Theaterräumen gestrichenen Orchestra, eines fehlenden Chorraums im Theater praktisch, indem er einen Graben zwischen Bühne und ,Cavea‘ (Wagner) zieht und so das Orchester optisch verschwinden läßt. Theoretisch behauptet er, in Oper und Drama, die vollständige, adäquate Ersetzung des Chors durch das nunmehr unsichtbare, moderne Orchester. Für Schleef stellt der Orchestergraben jedoch keine Lösung des Problems dar, sondern eine Verschärfung. Das Problem der Situierung des Orchesters in den als Schauräumen angelegten Theaterräumen, deren Tradition bis heute wirksam ist, ist auch für Schleef das zentrale Problem des Chorauftritts, die Frage nach einem Ort des Chors im Theater.
In der erstmalig 1852 erschienenen Schrift Oper und Drama formuliert Wagner die theoretische Konzeption seines Musiktheaters in Absetzung von der zeitgenössischen Oper, in der der Chor zum gänzlich inhaltlosen Teil der Theaterapparatur herabgesunken sei und das Orchester mit der Übernahme der Gesangsmelodie nur mehr als Stimmverstärker aufgefaßt werde. Wagner plädiert für die jeweilige Eigenständigkeit von Stimme und Orchester, ,Wortsprache‘ und ,Tonsprache‘, und für die vollständige Abschaffung des herkömmlichen Opernchors. Die Bedeutung des Chors aber ist in Wagners Musiktheaterkonzeption auf das moderne Orchester übergegangen, das jenen fortan ästhetisch ersetzen soll. [16] Der Protagonist, respektive Sänger, sei als ,individuell menschliche Erscheinung‘ des Chors aus der Orchestra hinauf auf die Bühne gestiegen, als eine einzelne Stimme, die aus dem Orchester, dem ehemaligen Chor herausrage. Wagner beschreibt hier die Geburt des Protagonisten aus dem Chor und dessen zukünftige Ersetzung durch das Orchester: Die Orchestra wird zum Orchester. Wagner streicht damit nicht nur den Chor, sondern indem er die (ehemalige) Orchestra als Orchesterraum definiert, wird die Bühne zum alleinigen Darstellungsraum erhoben, als alleiniger Ort der Sichtbarkeit und der Kundgebung der individuellen menschlichen Stimme. Aufgrund dieser hier angedeuteten räumlichen Aufteilung kann das Orchester, wie im Bayreuther Festspielhaus realisiert, im Graben verschwinden. Daß die Unsichtbarmachung des Orchesters aber das theatrale Problem der Beziehung zwischen Graben und Bühne, die problematische Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theater nicht löst, ist ein Punkt, den Einar Schleef in seinen Texten und Theaterarbeiten immer wieder bearbeitet.
Warum also muß das von Wagner als moderner Nachfolger des antiken Chors definierte Orchester aus der Sichtbarkeit verschwinden? Zu welchem Zweck werden sichtbare Sänger von unsichtbarer Musik getrennt? Vor welchem gedanklichen Hintergrund wird der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum installiert?
In seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses stellt Wagner das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum unter den Begriff der ,erhabenen Täuschung‘. Diese solle es ermöglichen, von jeglicher zwischen Bühne und Zuschauer gelegenen Realität abzusehen. Daher sieht Wagner sich genötigt, das Orchester unsichtbar zu machen. Aus dieser „Nötigung“ [17] ergibt sich die Abschaffung der Logenränge zugunsten einer ,Cavea‘-Form. Das Orchester als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Bild-Szene, als die Wagner die Bühne bestimmt, habe in der Versenkung zu verschwinden. Sein Auftrittsort ist jetzt die Rest-Orchestra, also der ehemalige Chorraum, welcher mit der Erfindung des Orchestergrabens endgültig aus dem sichtbaren Theaterraum gestrichen wird. Die Einrichtung des Orchestergrabens als inhaltlich nicht näher definiertem Zwischenraum zwischen Proszenium und den vorderen Sitzreihen des Publikums feiert Wagner als ,mystischen Abgrund‘, welcher ,Realität‘ und ,Idealität‘ zu trennen habe. Folgt man der Beschreibung dieser räumlichen Anordnung unter dem Gesichtspunkt der in Oper und Drama proklamierten Ersetzung des Chors durch das Orchester, bleibt zunächst die Merkwürdigkeit festzuhalten, daß Wagner den Bau seines Musiktheaters in erster Linie nach optischen Maßgaben einrichtet. Vom Hören ist in seinem Text zur Bayreuther Grundsteinlegung nicht viel die Rede, wenig auch von der Beziehung zwischen Orchester und Bühne. Die wichtigste Funktion des antiken Chors im Theater, die Veröffentlichung der gesprochenen Rede, kann dem in der Versenkung verschwundenen Orchester schwerlich zugeordnet werden. Das „Auseinanderdriften von Sprech- und Musiktheater“ [18], das Schleef konstatiert, die Manifestation der Trennung von Sehen und Hören im Theater, die Wagner nolens volens vorantreibt, sind keine Abstrakta, sondern ganz konkrete Probleme, die sich dem Theater stellen, insbesondere dem Chortheater, das im Kern dieses Problems arbeitet. Die von Wagner angestrebte Ersetzung des Chors durch das unsichtbare Orchester bleibt für Schleef vor allem auch deshalb problematisch, weil Ausgangspunkt der Überlegungen Wagners, wie er selbst in seiner Rede sagt, seine ,Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ ist. Schleef liest mit und gegen Wagners Theaterentwurf, wenn er analysiert: „Musik ist Dämmerung“ [19] . Der Zustand der Dämmerung in Wagners Stücken definiere dessen „Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum“ [20]. Von der szenischen Anlage deutet gerade Wagners „Bühnenweihfestspiel“Parsifal, das in Schleefs Golem-Inszenierung auf mehreren Ebenen zitiert wird, auf das Schwinden des Sehsinns. Keine lichten Gestalten, „schattig und ernst“ ist es im Gralswald. Auch die Gralsburg scheint alles andere als ein Ort der Hellsichtigkeit, und gerade zum Ende hin, zur vorgeblichen Erlösung, wird die Szene immer finsterer. An deren permanenter Verdunkelung scheint Wagner geradezu zu arbeiten, Weiheakt und Tragödie sind im hell erleuchteten Bühnenkasten nicht abzubilden.
Dunkel ist es auch in allen Parsifal-Zitaten in Golem. Die Inszenierung des Golem zeigt Schleefs Wagner-Rezeption auch als Revision, obwohl oder gerade weil er Wagner sehr genau liest. Schleef arbeitet auch hier an den Paradoxien der Theaterentwürfe Wagners: einerseits der vollständigen Ersetzung des antiken Chors durch das moderne Orchester und andererseits dessen Versenkung im Orchestergraben und damit letztlich Abschaffung eines Chorraums im Theater; einerseits die ,gänzliche Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ im Bayreuther Theaterbau und andererseits ständiges Ankämpfen gegen dieselben in der Konzeption der Stücke wie in Bühnenentwürfen; einerseits die Einführung der Arbeitsteilung zwischen Bühne und Orchestergraben und die nicht zuletzt durch das Verschwinden des Chorraums manifestierte Trennung von Sehen und Hören im Theater, und andererseits die vor allem in Oper und Drama formulierten Ideen zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk; letztlich auch das Problem der Gottabwesenheit und auf der anderen Seite der Versuch der Installation einer ,Kunstreligion‘, die ihren Höhepunkt in Parsifal findet, wo alle genannten Paradoxien zusammenzukommen scheinen. Das hier skizzierte Problem des Orchestergrabens ist für ein Theater, das die Arbeitsteilung weiterführt und die Trennung von Sehen und Hören nicht aufhebt, nicht zu lösen. Mit und gegen das große Vorbild Wagner arbeitet Schleefs Chortheater im Zentrum dieses Problems.

[[4] Vgl. ebd., S. 392. [[4]]

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Vgl. Schleef 1997, S. 266.
  2. Ebd., S. 12.
  3. Ebd., S. 13.
  4. Ebd., S. 265.
  5. Sophokles 1994, V. 817ff.
  6. Jelinek 1998, S. 18.
  7. Ebd., S. 268.
  8. Ebd., S. 8.
  9. inar Schleefs Chortheater weist als grundsätzliche Befragung des Theaterraums auf ein Paradox hin, das dem europäischen Theater von Beginn an eingeschrieben scheint: Dem Chor als erster Figur des Theaters scheint in diesem kein eigentlicher Ort zuzukommen.Schleefs Arbeit an diesem Paradox soll im folgenden an vier exemplarischen Punkten nachgezeichnet werden: an seiner analytischen Beschreibung der tragischen Bühne als Szene ,VOR DEM PALAST‘, an der Fragilität der theatralen Orte in der Inszenierung Ein Sportstück, an der Definition des Orchesters als Chor in der Inszenierung Der Golem in Bayreuth und an Schleefs Wagner-Rezeption und dem Problem des Orchestergrabens.

    2. Elektra ,VOR DEM PALAST‘ – Die Gründung des Proszeniums

    Das antike Theater gründet in einem doppelten Raum-Problem: Zum einen ist das Proszenium als Ort des tragischen Protagonisten ein Un-Ort zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor. Die Tragödie zeigt den leidenden Protagonisten im Schwebezustand zwischen diesen beiden Orten, von denen er durch die Geschichte, die verlautbart wird, unwiderruflich getrennt ist. Der Ort, an dem dieses Getrenntsein sich mitteilt und erfahrbar wird, ist das Proszenium, das Schleef in seinem Essay Droge Faust Parsifal mit der Angabe ,VOR DEM PALAST‘ bezeichnet. Das zweite Problem ist das räumliche Verhältnis zwischen Chor und Protagonist – und damit auch zwischen Chor und Palast/Skene. Indem die Szene ,VOR DEM PALAST‘ sich zwischen Palast und Chorraum schiebt, kann das Proszenium auch als Barriere zwischen Orchestra und Skene aufgefaßt werden. Das heißt nicht nur der auf der tragischen Szene ausgesetzte Protagonist entfernt sich durch sein Hervortreten vom Zentrum der Macht, auch der Chor wird durch die Errichtung des Proszeniums von dem Palast abgeschnitten, als dessen ,eigentlichen Bauherren‘ ihn Schleef beschreibt. [1]
    ,VOR DEM PALAST‘ tritt nicht nur die grundlegende Spaltung zwischen Chor und Protagonist, Protagonist und Palast hervor. Indem die Orchestra nach der Errichtung des Proszeniums nicht mehr gemeinsamer Auftrittsort von Chor und Schauspieler ist, zeigt sich, daß auch die Herkunft der Chor-Figur eine andere ist. Schleef schreibt, sie gehöre eher zur „Bühnenlandschaft“, sie sei vielmehr selbst Landschaft. Doch diese Landschaft in ihrer „ursprünglichen, heilenden Bedeutung“ [2] so Schleef, als Ort, an dem „sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen könnte“[3], scheint in den Tragödien allenfalls im Konjunktiv auf. Die Landschaft, aus der der Chor hier kommt, um vor den Toren des Palasts zu klagen, ist keine unzerstörte Idylle. Grund der Versammlung des Chors vor dem Palast – im Theater, in der Orchestra – ist in den antiken Tragödien stets eine existentielle Bedrohung: Krieg, Terror, Rechtsbruch. Politischer Grund des Auftritts der Chor-Figur auf dem Theater ist es, diese Situation zu veröffentlichen, auf dem Theater zu verhandeln. Meist gibt es keine Lösung des Konflikts, zumindest keine friedliche, das heißt: keine Lösung ohne Opfer. Davon sprechen die Tragödien, in denen, so Schleef, noch das Menschenopfer erinnert werde. [4] Droge Faust Parsifal definiert die Bühne der antiken Tragödie als Szene ,VOR DEM PALAST‘:

    VOR DEM PALAST, das ist die antike Konstellation, das ist das antike Bühnenbild, das ist die Voraussetzung für den Individualisierungsprozeß, das ist das Zeichen für das bevorstehende Opfer, das ist das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander. [5]

    Die paradigmatische Figur, an der Schleef die ,antike Konstellation‘ als Szene ,VOR DEM PALAST‘ beschreibt, ist Elektra. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind der zweite Teil der Orestie Die Choephoren / Die Grabspenderinnen sowie die sophokleische Elektra. Aischylos’ Stück hat einen wesentlich höheren Chor-Anteil, worauf schon der Titel schließen läßt, während Sophokles Elektra im eigentlichen Sinn aufs Proszenium stellt, indem er die Szene ,VOR DEM PALAST‘ definiert. Da Droge Faust Parsifal die unterschiedlichen theatralen Versionen des Elektra-Stoffs vermischt, sollen diese hier im Hinblick auf das Verhältnis von Chor und Protagonist kurz skizziert werden.
    Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Aigisth verweigert Elektra ein einvernehmliches Leben mit den neuen Machthabern, den Mördern ihres Vaters. Plötzlich kommt Orest, der von der Mutter verbannte Bruder Elektras, zurück nach Mykene. Unter Strafandrohung bei Unterlassung hat er, so Aischylos, von Apoll den Auftrag bekommen, den Vatermord zu rächen. Die Szene beginnt in den Choephoren am Grab Agamemnons, wo der Chor die Wiederherstellung der genealogischen Ordnung und die Beendigung der unrechtmäßigen, tyrannischen Herrschaft Aigisths fordert. Gemeinsam bitten Chor, Elektra und Orest die chtonischen (Erd-)Götter um Unterstützung bei der Ausführung der Rache. In der Mitte des Stücks wechselt der Schauplatz vom Grabhügel zum Palast. Orest gelangt mittels einer List in den Palast und führt den Rachemord durch. Elektra tritt nicht mehr auf.
    In Sophokles’ Elektra hingegen ist sie die ganze Zeit auf der Bühne, das heißt ,VOR DEM PALAST‘, in den sie es ablehnt zurückzukehren.

    Doch nein! nie werd ich für die künftige Zeit
    Im Haus mit denen leben, sondern hier am Tor,
    Dahingesunken, möge ohne Freund
    Das Leben mir verdorren! [6]

    Sophokles’ Elektra ist es, die den Ort ,VOR DEM PALAST‘ benennt, den sie während des ganzen Stückes nicht verläßt. Im Gegensatz zu den Choephoren ist es hier auch Elektra, die Orest verstärkt zur Rachetat antreibt. Der Chor drängt nicht auf Wiederherstellung der legitimen väterlichen Ordnung, sondern hält Elektra zur Mäßigung an. Bei Aischylos wie bei Sophokles ist Elektra eine gekrümmte Figur, sie behält die am Grab des Vaters eingenommene Haltung bei. Ihr Ort ist am Boden vor dem Palast, aus dem sie ausgestoßen ist beziehungsweise in den sie sich weigert, wieder einzutreten. Obwohl sie die Tat nicht ausführt, ist Sophokles’ Elektra die große Rachefigur, indem sie Orest zum Mord antreibt, dessen Auftrag nun, anders als in den Choephoren, kein göttlicher mehr ist, sondern ein selbstgegebener. Diese Dimension der Elektra-Figur wird von ihrer ununterbrochenen Präsenz in der Szene bekräftigt, während ihr Drama bei Aischylos mit der Ankunft des Bruders zuende ist.
    Elektra bleibe, so Schleef, eine „schwierige Figur“, „wie die Waffe, der das Geschoß fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuß als auch Treffer imaginieren läßt.“ [7] (Schleef 1997, S. 266.) Von der „übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt“ [8], gibt Elektra ihren Thronanspruch auf und verharrt am Boden vor den Toren des Palasts. Mit dieser Geste der Unterlassung gründet sie das Proszenium, den Ort ,VOR DEM PALAST‘, als Unort, der sich ex negativodefiniert: Er ist nicht Palast, nicht Landschaft, nicht Orchestra. Dieser Ort, der weder Skene noch Orchestra ist, wird zum Ort der Klage des tragischen Protagonisten, zu dem Ort, der den Konflikt anzeigt und ausspricht.
    Mit der Errichtung des Proszeniums auf dem Theater muß der Chor notwendig vom Palast wegrücken. Das Proszenium ist somit nicht nur Auftrittsort des tragischen Protagonisten, sondern auch Barriere zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene. Diese räumliche Trennung von Chorraum und Skene bezeichnet den „Chor-Riß“, als welchen Schleef die irreversible Trennung der Einzelfigur vom Chor beschreibt, deren Tragödie sich „demnach nur im Wechsel mit dem Chor“ abbilden lasse. [9]
    Der Chor, einst Zentrum des Theaters, in das er, von außen kommend, feierlich eingezogen ist, findet im Proszenium seine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Das Proszenium, das in der Folge immer größer wird und schließlich die Bühne ganz einnimmt, steht mehr und mehr gegen die Orchestra, die immer kleiner wird und letztlich ganz aus dem Theater verschwindet – wie der Chor.

    3. ,Unter dem Eindruck der Tragödie‘ – Ein Sportstück

    In der Uraufführung von Elfriede Jelineks Sportstück, 1998 am Burgtheater, gibt es keinen Palast und keine Orchestra. Dem korrespondiert die grundsätzliche Abwesenheit protagonistischer Figuren. Die Bühne ist zumeist in rampenparallele, beleuchtete und nicht-beleuchtete Streifen eingeteilt, was die Fragilität der Auftrittsorte sowie den Status der Figuren kennzeichnet. Die Orte des Chors sowie der einzeln auftretenden Figuren werden mittels Licht hergestellt. So erinnert der erleuchtete Teil der Vorderbühne bis zur Bühnenkante an die im Theater nicht vorhandene Orchestra, und für den Auftritt der Einzelfigur markiert ein parallel zur Rampe verlaufender Lichtsteg unter dem Eisernen Vorhang das Proszenium.
    Als Figur der Frage, dem Publikum direkt zugewandt, tritt der große Chor in der von Schleef sogenannten ,mäßigen Chorkleidung‘ (Hier: bodenlange, weite schwarze Kutten, die nur Gesicht und Hände der Chormitglieder zu sehen geben.) an die Bühnenrampe. Dieser Ort ist in der Inszenierung als expliziter Ort des sprechenden Chors markiert, in dem er, hell erleuchtet und halbrund mit der Kante der Vorderbühne abschließend, auf das Fehlen einer Orchestra, eines Chorraums im Theater, aufmerksam macht. Hier tritt in der Inszenierung der sowohl inhaltlich wie auch klanglich vielfältigste Chor auf. Diesem ersten Auftritt des Chores geht die lange Rede einer Frauenfigur voraus, eine Ansprache der Mutter an den abwesenden Sohn, der Opfer des von ihm betriebenen Leistungssports werden wird. Daß diese Figur keine tragische Protagonistin ist, sondern allenfalls „unter dem Eindruck der Tragödie“ [7] steht, wie es in Ein Sportstück heißt, verdeutlicht die Bühnenbeleuchtung: Das Proszenium, markiert durch den Lichtstreifen, kann jederzeit verschwinden. An diesem fragilen Ort hält die Mutter ihre Anklage – an den Sohn, der sie verlassen hat, an den Sport, der ihr den Sohn geraubt hat. Nach ihrer Ansprache pfeift sie zum Wettkampf, worauf 47 Chormitglieder an der Frau vorbei bis zur Rampe laufen, wo sie dicht aneinander gedrängt stehen bleiben. Der gesamte Bühnenboden ist jetzt wieder in das schon beschriebene Lichtmuster eingeteilt. Der Teil der Vorderbühne, auf dem der Chor steht, ist hell erleuchtet. Der Lichtstreifen auf der Höhe des Eisernen Vorhangs, wo die Mutter steht, ist nunmehr ein Lichtstreifen unter vielen, womit das vorherige Proszenium verschwunden ist.
    Schleefs Sportstück-Inszenierung konfrontiert zwei Szenen aus Hugo von Hofmannsthals Elektra mit Jelineks Figur der Elfie Elektra, die als Chor und jenseits der Sichtbarkeit auftritt. Elfie Elektra aus Jelineks Sportstück ist keine protagonistische Figur. Ihre „Programmversionen“ hat sie sich „angelesen wie ein Dieb“ [8], heißt es im Stück. Aus ihr spricht nicht nur die Elektra-Figur, die die Lücke in der Genealogie beklagt und Rache für den Vatermord ankündigt, sondern ebenso die Stimmen derjenigen, die mit den Toten nichts zu tun haben wollen. Ihre Rede ist in sich vielstimmig, das heißt, sie verweist nicht auf die Fiktion einer personalen Figur, die mit einer einheitlichen, in sich konsistenten Stimme sprechen würde. Im Gegensatz zur Figur der Elektra, die, obwohl Besiegte, wie alle Elektra-Versionen bis zu Hofmannsthal zeigen, die Schichten ihres Besiegtseins vergessen machend, als Figur der Rache auftritt, hat Elfie Elektra an Kraft verloren. Der Entschluß zum „Krieg gegen Mama“ [9] wird als Haltung nicht durchgeführt. Von dieser Unterlassung spricht der Text des Elfie-Elektra-Chores, der Klage, Anklage, Selbstanklage, aber nicht Racheankündigung ist. ( „Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte“, heißt es entsprechend im Text des Matrosen-Chores {{10}} .) Elfie Elektra, die die Elektra-Geschichte mit sich trägt, aber eine längst Besiegte ist, ist als Figur nicht an Sichtbarkeit geknüpft. Dieser Figur entspricht im Bühnenraum kein noch so prekäres Proszenium. In der Inszenierung tritt Elfie Elektra als nur akustisch vernehmbare Chor-Figur auf der nicht einsehbaren Hinterbühne auf.
    Der Chor der Matrosen – in Jelineks Text „Der Taucher“ {{11}} –, der sich als Elfie Elektras Bruder zu erkennen gibt, ist im Gegensatz dazu extrem in der Sichtbarkeit organisiert. Aus der Unterbühne kommend beendet der Matrosen-Chor, diese vielgestaltige Wiedergänger-Figur des Orest, eine Szene zwischen Elektra und Chrysothemis aus Hofmannsthals Stück. Auf die falsche Nachricht von Orests Tod beschließt Elektra, den Rachemord notfalls auch alleine auszuführen. Die Körper der Matrosen, von der Unterbühne beleuchtet, werfen bereits riesige Schatten an die Brandmauer. Schließlich beginnt der Matrosenchor, die beiden Schwestern übertönend, zu sprechen. Diese brutale Beendigung der Elektra-Szene spiegelt sich im Text der Matrosen, der von der umfassenden Besiegtheit der Elektra-Figur spricht. Die Vorderbühne wird bis zur Rampe hell erleuchtet, und die Riege der Matrosen nimmt den bis dahin leeren Ort an der Bühnenkante ein, der die Orchestra erinnert.
    Nach Ende ihres Textes marschieren die Matrosen zu dem Ort auf der Bühne zurück, an dem sie zuvor ‚aufgetaucht‘ sind. Während der ganzen Zeit, in der der nicht-sichtbare Elfie-Elektra-Chor spricht, bleibt der Matrosen-Chor als Schattenfigur dort stehen. Die stimmliche Präsenz des Elfie-Elektra-Chores, der nicht sichtbar ist, beherrscht nun die Szene. Der Merkwürdigkeit der leeren Vorderbühne während der Elfie-Elektra-Rede entspricht der schweigende Matrosen-Chor, der in der Position des Zuhörers erstarrt ist. Während er als Schattenfigur, die nicht abtreten kann, auf der Bühne steht, beherrscht der nicht zu sehende Elfie-Elektra-Chor, der klanglich viel variantenreicher ist als der Matrosen-Chor, die Szene auf ganz andere Weise. Indem diese Szene auf der visuellen Ebene stillsteht, wird der Theaterraum hier in erster Linie Klangraum. Darüber hinaus verstärkt das chorische Sprechen Elfie Elektras, indem es sich dem Auge entzieht, den Umstand, daß der Chor viel mehr mit dem Gehörtwerden verknüpft ist als mit dem Auftreten im Feld der Sichtbarkeit.

    4. Theaterraum als Chorraum und Orchester als Chor – Der Golem in Bayreuth

    1999 inszeniert Schleef am Burgtheater das ,Musiktheaterspiel‘Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz. Das Stück verbindet die Legende des Golem, einer verlebendigten Figur aus Lehm, die Rabbi Löw gemäß der Kabbala um 1600 in Prag geschaffen haben soll, mit Wagners Version des Parzival-Mythos, die 1882 im Bayreuther Festspielhaus als „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal zur Uraufführung kam. Auf der Textebene wird eine Linie von der in einem Akt der Hybris geschaffenen Figur des Golem zu den ,denkenden Maschinen‘ und perfekten Körpern behauptet, an deren Vision zeitgenössische Kybernetiker und Gentechniker arbeiten. Doch die von Menschenhand geschaffenen, seelenlosen Geschöpfe, so die These des Stücks, sind nur scheinbar kontrollierbar und haben längst begonnen, ihrerseits den Menschen zu beherrschen.
    Als ,Stück im Stück‘ ist in Golem die Aufführung des Parsifal szenischer Anlaß der Versammlung der Bayreuther Festspielgesellschaft. Das Festspielhaus wird jedoch von einer Gruppe gewalttätiger Jugendlicher besetzt, die drohen, das Theater abzubrennen. In dieser vom Stücktext vage als neonazistisch skizzierten Gruppierung der ,Haßkappen‘ scheint sowohl die Angstfigur des Golem wiederzukehren wie auch Parsifal, der vorgeblich ,reine Tor‘. Parsifal selbst, musikalisch extrem anwesend in der Inszenierung, tritt als Protagonist nicht mehr auf. Das Stück zeichnet sich überhaupt durch die strukturelle Abwesenheit protagonistischer Figuren aus. Als einzige Einzelfigur hat der Golem keine Sprechstimme. Zwar wird er, wie die Legende sagt, mittels eines ihm in die Stirn gesteckten Zettels, auf dem der unaussprechliche Name Gottes steht, zum Leben erweckt. Paradoxer Weise bleibt er jedoch eine sprachlose Figur. Der Golem scheint allenfalls in der vielstimmigen Wiedergänger-Figur der Haßkappen zur Sprache zu kommen, mit der er sich nach und nach verbündet.
    Bereits der Stücktext etabliert also eine grundsätzlich chorische Struktur. So ragen zwar einzelne Stimmen punktuell aus den chorischen Zusammenhängen heraus, treten jedoch nicht von diesen losgelöst auf. Schleefs Inszenierung greift diese chorische Struktur auf und radikalisiert sie in mehrfacher Hinsicht. Mit der Verabschiedung des Protagonisten bleibt als einzige theatrale Form die Chor-Szene, was sich nicht zuletzt auf die Behandlung des Theaterraums auswirkt.
    Einar Schleefs Golem-Inszenierung ist auch und vor allem eine grundsätzliche Befragung des Theaterraums in Hinblick auf einen Ort des Chors im Theater. Die große Frage, die sich gerade angesichts dieser durchgängig chorischen Inszenierung stellt, ist, ob es überhaupt einen Ort des Chors im Theater gibt. Da Golem ein Musical ist, muß die Frage gestellt werden, wie sich das Orchester zum Chor positioniert. Welche Stellung nimmt das Orchester in einem Theater ohne Chorraum und ohne Orchestergraben ein?
    Von Beginn an ist die Inszenierung durch den gleichzeitigen Auftritt verschiedener Chöre gekennzeichnet. Nach dem Einlaß tritt Einar Schleef als Stadtrat von Bayreuth in den Zuschauerraum, der wie die Bühne hell erleuchtet ist. Der Stadtrat erklärt dem Publikum die Bedrohung von Seiten der Haßkappen, die auf den Straßen einen Bürgerkrieg führen und dem Theater immer näher rücken. „Trotzdem“, so der Stadtrat, „der Aufführung des Parsifal heute wünschen wir gutes Gelingen“. {{12}}Der Chor der Festspielgesellschaft tritt an die Bühnenkante, und es beginnt ein elegischer, kakophonischer Gesang. Dieser Chor, der hier die Festspielgesellschaft vor der Aufführung des Parsifaldarstellt, wird sich später zum Orchester formieren. Das Orchester ist so bereits als Mitspieler und das heißt: als Chor definiert. Plötzlich stürmt eine Gruppe schwarz gekleideter, mit Schlagstöcken bewaffneter Männer und Frauen durch den Zuschauerraum bis zur Bühnenrampe. Der Stadtrat schreit in die beiden gleichzeitigen Chöre hinein: „Wogegen protestieren Sie? Was wollen Sie?“ {{13}}, wird aber von Pfiffen und „Bier“-Rufen der Haßkappen übertönt. Die Streitszene zwischen Stadtrat und Haßkappen findet inmitten des Publikums statt, dessen Ort von diesem Konflikt durchzogen beziehungsweise gespalten wird. Räumlich eingefaßt wird das Publikum und mit ihm die Szene des Konflikts von der jetzt schweigenden Chorriege auf der Bühne und den an die Parsifal-Aufführung erinnernden Blechbläsern auf dem Rang, die das ,Verwandlungsmotiv‘ aus Parsifal intonieren. Den fiktiven Ort des Gasthauses gibt es in der Inszenierung nicht, alles findet im Theater statt. So wird die Konfrontation der verschiedenen Gruppen in der Inszenierung nicht nur theatralisiert, sondern auch verschärft: durch das Gegenüber von der Festspielgesellschaft als Chor auf der Bühne und den Haßkappen als Gegenchor im Parkett, aber auch weil sich alles in einem Raum und mitten unter den Zuschauern abspielt, die durch die Ansprache des Stadtrats von Bayreuth und die räumliche Anordnung gleichsam zu Mitgliedern der Festspielgesellschaft geworden sind. Das Theater als realer Ort der Zusammenkunft wird somit zum Verhandlungsraum, in dem das, was auf dem Theater stattfindet, zuallererst verhandelt werden muß.
    Eine weitere konfrontative Szene, in der verschiedene Chöre gegeneinander antreten, gibt es gegen Ende der Aufführung: Die Haßkappen postieren sich an der Bühnenrückwand und wiederholen ihre eingangs vom Stadtrat zitierte Kriegserklärung gegen Stadt, Staat und Festspielhaus. Die Szene spielt bei minimaler Beleuchtung, wie überhaupt weite Teile der Inszenierung, die sich dadurch vor allem als ein Theater der Stimmen kennzeichnet. Einzige Lichtquelle ist hier ein in der Mitte der Bühnenrampe lokalisierter Scheinwerfer. Man sieht den übergroßen Schatten des Golem und die unheimliche schwarze Riege der Haßkappen als Schattenfiguren. „Das Festspielhaus brennt“ {{14}} , skandieren sie und schlagen in einem vom Chorführer angegebenen Takt mit ihren Schlagstöcken auf den Bühnenboden. Die Bedrohlichkeit der Szenerie ergibt sich vor allem aus ihrer klanglichen Disposition: Da der Bühnenraum vollständig mit Holz ausgeschlagen ist, läßt das Knallen auf den Bühnenboden den gesamten Theaterraum erschallen. Das ganze Theater wird so auch physisch zum Resonanzraum dieses Chorauftritts, der, obgleich weit von der Bühnenkante entfernt, den ganzen Theaterraum erfaßt, nicht nur auditiv, sondern geradezu körperräumlich.
    Währenddessen sind nach und nach alle Chormitglieder des Stücks auf die Vorderbühne getreten, und es haben sich fünf Gruppen gebildet, die man jetzt gleichzeitig hört: Ein Männer- und ein Frauenchor singen abwechselnd „Hojotoho–há“ (Ruf der Walküren in Wagners Ring der Nibelungen.) mit ansteigender Geschwindigkeit, so daß sie sich schließlich überlagern. Ein Kinderchor singt das Lied der Haßkappen („Haß macht Spaß“). Die Haßkappen haben ihre Schlagstöcke weggeworfen und sind mit der Kampfparole „Bayreuth brennt“ ebenfalls an die Bühnenrampe getreten. In diesen Stimmenkampf der verschiedenen Chorgruppen hinein erklingt wieder das bereits erwähnte Fanfaren-Motiv aus Parsifal. Nach dieser Szene, die von mehreren Auftritten der untoten Kundry-Figur unterbrochen wird, vereinen sich alle Chöre zu einem und singen das ,Gralsmotiv‘, während die Fanfaren wiederum das ,Liebesmotiv‘ spielen. Dies ist zum einen eine klangliche Radikalisierung, da sämtliche Chormitglieder an der Bühnenrampe stehen und ihre Stimmen das ganze Theater erfüllen, zum anderen aber auch inhaltlich, insofern es scheint, als würde der große, nunmehr aus allen Darstellern bestehende Chor, der Enthüllung des Grals – die ja hier nicht stattfindet –, nicht beiwohnen – wie die Gralsritter in WagnersParsifal –, sondern sie vielmehr fordern. Diese Haltung des Chores assoziiert die angeschlagene Gralsritterschaft, die zur Stärkung ihrer Gemeinschaft die Wiederaufnahme des Gralsritus fordert, der einzig Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit garantieren kann. Wie auch in weiteren Szenen der Inszenierung, die Parsifal zitieren, tritt der Chor hier, im Gegensatz zu Wagner, an die Stelle des Orchesters. Ein Orchester gibt es an dieser Stelle nicht, einzige Instrumentierung dieser Szene ist das Piano. Die Blechbläser (Fanfaren) bilden eine eigene Chorgruppe. Die Übernahme musikalischer Partien durch den Chor in den Parsifal-Szenen geht so weit, daß nicht nur die Gralsritter als Chor in den Vordergrund treten, sondern auch die Stimme des Protagonisten vervielfältigt wird, wenn er zum Schluß seine Machtübernahme mit den Worten besiegelt: „Enthüllet den Gral“. {{15}} Die bei Wagner darauf folgende chorische Huldigung Parsifals als Erlöser hingegen fällt aus. Kein Gral, keine Substitution der Blutdroge, keine Erlösung.
    Wie der Chor in den Parsifal-Zitationen an die Stelle des Orchesters tritt, wird das Orchester in SchleefsGolem-Inszenierung durchgängig als Chor behandelt. Das wird auch in der räumlichen Anordnung deutlich, die der des Chors im Akademietheater gleicht. So umfassen auch die Spielorte des Orchesters den gesamten Theaterraum, indem sie von dem Rang, aus dem die ,Parsifal-Fanfaren‘ ertönen, bis zur Hinterbühne reichen. Das Orchester, derart als Chor behandelt, hat in diesem Theater genau wie der Chor keinen ihm eigenen Ort. Der fehlenden Orchestra korrespondiert in dieser Raumbehandlung die Abwesenheit des Orchestergrabens. Nicht der Bühne, also der Szene gegenüber, vor ihr oder gar unter ihr verborgen, unsichtbar in einen ,mystischen Abgrund‘ (Wagner) versenkt, spielt das Orchester, sondern: auf der Bühne, gegenüber den Zuschauern, sowie auf dem Rang, hinter den Zuschauern, der Bühne gegenüber. In der konsequenten Gleichbehandlung von Orchester und Chor, der räumlichen wie klanglichen Definition des Orchesters als Chor, wird also nicht zuletzt die Problematik eines im Theater nicht vorhandenen Chorraums deutlich.

    5. Wagner und Schleef – Die Ersetzung des Chors durch das Orchester und das Problem des Orchestergrabens

    In seinen Theaterarbeiten sowie in Droge Faust Parsifal – und hier insbesondere am Parsifal-Thema und seiner möglichen Umsetzung – problematisiert Schleef den Theaterraum immer wieder hinsichtlich des Verschwindens des Chors und der Abwesenheit eines expliziten Chorraums. In Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit Wagner ist zu fragen, inwiefern für Schleef die Positionierung des Orchesters im Musiktheater und insbesondere Wagners Lösung des Orchestergrabens ein Problem darstellt. In welchem Verhältnis stehen Orchester und Chor zueinander? Wie verhalten sich beide zu und in einem Theaterraum, der keinen Chorraum vorsieht? Wie plaziert man das Orchester in einem Theater, das nicht als Hörraum, sondern als reine Schauanlage konzipiert ist?
    Wagner löst das Problem der aus den Theaterräumen gestrichenen Orchestra, eines fehlenden Chorraums im Theater praktisch, indem er einen Graben zwischen Bühne und ,Cavea‘ (Wagner) zieht und so das Orchester optisch verschwinden läßt. Theoretisch behauptet er, in Oper und Drama, die vollständige, adäquate Ersetzung des Chors durch das nunmehr unsichtbare, moderne Orchester. Für Schleef stellt der Orchestergraben jedoch keine Lösung des Problems dar, sondern eine Verschärfung. Das Problem der Situierung des Orchesters in den als Schauräumen angelegten Theaterräumen, deren Tradition bis heute wirksam ist, ist auch für Schleef das zentrale Problem des Chorauftritts, die Frage nach einem Ort des Chors im Theater.
    In der erstmalig 1852 erschienenen Schrift Oper und Drama formuliert Wagner die theoretische Konzeption seines Musiktheaters in Absetzung von der zeitgenössischen Oper, in der der Chor zum gänzlich inhaltlosen Teil der Theaterapparatur herabgesunken sei und das Orchester mit der Übernahme der Gesangsmelodie nur mehr als Stimmverstärker aufgefaßt werde. Wagner plädiert für die jeweilige Eigenständigkeit von Stimme und Orchester, ,Wortsprache‘ und ,Tonsprache‘, und für die vollständige Abschaffung des herkömmlichen Opernchors. Die Bedeutung des Chors aber ist in Wagners Musiktheaterkonzeption auf das moderne Orchester übergegangen, das jenen fortan ästhetisch ersetzen soll. {{16}} Der Protagonist, respektive Sänger, sei als ,individuell menschliche Erscheinung‘ des Chors aus der Orchestra hinauf auf die Bühne gestiegen, als eine einzelne Stimme, die aus dem Orchester, dem ehemaligen Chor herausrage. Wagner beschreibt hier die Geburt des Protagonisten aus dem Chor und dessen zukünftige Ersetzung durch das Orchester: Die Orchestra wird zum Orchester. Wagner streicht damit nicht nur den Chor, sondern indem er die (ehemalige) Orchestra als Orchesterraum definiert, wird die Bühne zum alleinigen Darstellungsraum erhoben, als alleiniger Ort der Sichtbarkeit und der Kundgebung der individuellen menschlichen Stimme. Aufgrund dieser hier angedeuteten räumlichen Aufteilung kann das Orchester, wie im Bayreuther Festspielhaus realisiert, im Graben verschwinden. Daß die Unsichtbarmachung des Orchesters aber das theatrale Problem der Beziehung zwischen Graben und Bühne, die problematische Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theater nicht löst, ist ein Punkt, den Einar Schleef in seinen Texten und Theaterarbeiten immer wieder bearbeitet.
    Warum also muß das von Wagner als moderner Nachfolger des antiken Chors definierte Orchester aus der Sichtbarkeit verschwinden? Zu welchem Zweck werden sichtbare Sänger von unsichtbarer Musik getrennt? Vor welchem gedanklichen Hintergrund wird der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum installiert?
    In seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses stellt Wagner das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum unter den Begriff der ,erhabenen Täuschung‘. Diese solle es ermöglichen, von jeglicher zwischen Bühne und Zuschauer gelegenen Realität abzusehen. Daher sieht Wagner sich genötigt, das Orchester unsichtbar zu machen. Aus dieser „Nötigung“ {{17}} ergibt sich die Abschaffung der Logenränge zugunsten einer ,Cavea‘-Form. Das Orchester als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Bild-Szene, als die Wagner die Bühne bestimmt, habe in der Versenkung zu verschwinden. Sein Auftrittsort ist jetzt die Rest-Orchestra, also der ehemalige Chorraum, welcher mit der Erfindung des Orchestergrabens endgültig aus dem sichtbaren Theaterraum gestrichen wird. Die Einrichtung des Orchestergrabens als inhaltlich nicht näher definiertem Zwischenraum zwischen Proszenium und den vorderen Sitzreihen des Publikums feiert Wagner als ,mystischen Abgrund‘, welcher ,Realität‘ und ,Idealität‘ zu trennen habe. Folgt man der Beschreibung dieser räumlichen Anordnung unter dem Gesichtspunkt der in Oper und Drama proklamierten Ersetzung des Chors durch das Orchester, bleibt zunächst die Merkwürdigkeit festzuhalten, daß Wagner den Bau seines Musiktheaters in erster Linie nach optischen Maßgaben einrichtet. Vom Hören ist in seinem Text zur Bayreuther Grundsteinlegung nicht viel die Rede, wenig auch von der Beziehung zwischen Orchester und Bühne. Die wichtigste Funktion des antiken Chors im Theater, die Veröffentlichung der gesprochenen Rede, kann dem in der Versenkung verschwundenen Orchester schwerlich zugeordnet werden. Das „Auseinanderdriften von Sprech- und Musiktheater“ {{18}}, das Schleef konstatiert, die Manifestation der Trennung von Sehen und Hören im Theater, die Wagner nolens volens vorantreibt, sind keine Abstrakta, sondern ganz konkrete Probleme, die sich dem Theater stellen, insbesondere dem Chortheater, das im Kern dieses Problems arbeitet. Die von Wagner angestrebte Ersetzung des Chors durch das unsichtbare Orchester bleibt für Schleef vor allem auch deshalb problematisch, weil Ausgangspunkt der Überlegungen Wagners, wie er selbst in seiner Rede sagt, seine ,Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ ist. Schleef liest mit und gegen Wagners Theaterentwurf, wenn er analysiert: „Musik ist Dämmerung“ {{19}} . Der Zustand der Dämmerung in Wagners Stücken definiere dessen „Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum“ {{20}}. Von der szenischen Anlage deutet gerade Wagners „Bühnenweihfestspiel“Parsifal, das in Schleefs Golem-Inszenierung auf mehreren Ebenen zitiert wird, auf das Schwinden des Sehsinns. Keine lichten Gestalten, „schattig und ernst“ ist es im Gralswald. Auch die Gralsburg scheint alles andere als ein Ort der Hellsichtigkeit, und gerade zum Ende hin, zur vorgeblichen Erlösung, wird die Szene immer finsterer. An deren permanenter Verdunkelung scheint Wagner geradezu zu arbeiten, Weiheakt und Tragödie sind im hell erleuchteten Bühnenkasten nicht abzubilden.
    Dunkel ist es auch in allen Parsifal-Zitaten in Golem. Die Inszenierung des Golem zeigt Schleefs Wagner-Rezeption auch als Revision, obwohl oder gerade weil er Wagner sehr genau liest. Schleef arbeitet auch hier an den Paradoxien der Theaterentwürfe Wagners: einerseits der vollständigen Ersetzung des antiken Chors durch das moderne Orchester und andererseits dessen Versenkung im Orchestergraben und damit letztlich Abschaffung eines Chorraums im Theater; einerseits die ,gänzliche Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ im Bayreuther Theaterbau und andererseits ständiges Ankämpfen gegen dieselben in der Konzeption der Stücke wie in Bühnenentwürfen; einerseits die Einführung der Arbeitsteilung zwischen Bühne und Orchestergraben und die nicht zuletzt durch das Verschwinden des Chorraums manifestierte Trennung von Sehen und Hören im Theater, und andererseits die vor allem in Oper und Drama formulierten Ideen zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk; letztlich auch das Problem der Gottabwesenheit und auf der anderen Seite der Versuch der Installation einer ,Kunstreligion‘, die ihren Höhepunkt in Parsifal findet, wo alle genannten Paradoxien zusammenzukommen scheinen. Das hier skizzierte Problem des Orchestergrabens ist für ein Theater, das die Arbeitsteilung weiterführt und die Trennung von Sehen und Hören nicht aufhebt, nicht zu lösen. Mit und gegen das große Vorbild Wagner arbeitet Schleefs Chortheater im Zentrum dieses Problems.

    [[4] Vgl. ebd., S. 392. [[4]]

    [[10]]ebd., S. 169[[10]]
    [[11]] im Nebentext als plurale Figur gekennzeichnet: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“. In: Jelinek 1998., S. 167. [[11]]
    [[12]] Berkéwicz 1999, S. 10. Von dieser Fassung abweichender Aufführungstext ist mit * gekennzeichnet. [[12]]
    [[13]] Ebd., S. 14. [[13]]
    [[14]] Ebd., S. 61. [[14]]
    [[15]] Wagner 1950, S. 61. [[15]]
    [[16]] Vgl. Wagner1984, S. 349. [[16]]
    [[17]] Wagner, Richard: „Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth“. Hier zitiert nach: http://www.bayreuther-festspiele.de. [[17]]
    [[18]] Schleef 1997, S. 50. [[18]]
    [[19]] Ebd., S. 74 u.266 f. [[19]]
    [[20]] Ebd., S. 74. [

  10. Schleefs Chortheater weist als grundsätzliche Befragung des Theaterraums auf ein Paradox hin, das dem europäischen Theater von Beginn an eingeschrieben scheint: Dem Chor als erster Figur des Theaters scheint in diesem kein eigentlicher Ort zuzukommen.Schleefs Arbeit an diesem Paradox soll im folgenden an vier exemplarischen Punkten nachgezeichnet werden: an seiner analytischen Beschreibung der tragischen Bühne als Szene ,VOR DEM PALAST‘, an der Fragilität der theatralen Orte in der Inszenierung Ein Sportstück, an der Definition des Orchesters als Chor in der Inszenierung Der Golem in Bayreuth und an Schleefs Wagner-Rezeption und dem Problem des Orchestergrabens.

    2. Elektra ,VOR DEM PALAST‘ – Die Gründung des Proszeniums

    Das antike Theater gründet in einem doppelten Raum-Problem: Zum einen ist das Proszenium als Ort des tragischen Protagonisten ein Un-Ort zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor. Die Tragödie zeigt den leidenden Protagonisten im Schwebezustand zwischen diesen beiden Orten, von denen er durch die Geschichte, die verlautbart wird, unwiderruflich getrennt ist. Der Ort, an dem dieses Getrenntsein sich mitteilt und erfahrbar wird, ist das Proszenium, das Schleef in seinem Essay Droge Faust Parsifal mit der Angabe ,VOR DEM PALAST‘ bezeichnet. Das zweite Problem ist das räumliche Verhältnis zwischen Chor und Protagonist – und damit auch zwischen Chor und Palast/Skene. Indem die Szene ,VOR DEM PALAST‘ sich zwischen Palast und Chorraum schiebt, kann das Proszenium auch als Barriere zwischen Orchestra und Skene aufgefaßt werden. Das heißt nicht nur der auf der tragischen Szene ausgesetzte Protagonist entfernt sich durch sein Hervortreten vom Zentrum der Macht, auch der Chor wird durch die Errichtung des Proszeniums von dem Palast abgeschnitten, als dessen ,eigentlichen Bauherren‘ ihn Schleef beschreibt. [1]
    ,VOR DEM PALAST‘ tritt nicht nur die grundlegende Spaltung zwischen Chor und Protagonist, Protagonist und Palast hervor. Indem die Orchestra nach der Errichtung des Proszeniums nicht mehr gemeinsamer Auftrittsort von Chor und Schauspieler ist, zeigt sich, daß auch die Herkunft der Chor-Figur eine andere ist. Schleef schreibt, sie gehöre eher zur „Bühnenlandschaft“, sie sei vielmehr selbst Landschaft. Doch diese Landschaft in ihrer „ursprünglichen, heilenden Bedeutung“ [2] so Schleef, als Ort, an dem „sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen könnte“[3], scheint in den Tragödien allenfalls im Konjunktiv auf. Die Landschaft, aus der der Chor hier kommt, um vor den Toren des Palasts zu klagen, ist keine unzerstörte Idylle. Grund der Versammlung des Chors vor dem Palast – im Theater, in der Orchestra – ist in den antiken Tragödien stets eine existentielle Bedrohung: Krieg, Terror, Rechtsbruch. Politischer Grund des Auftritts der Chor-Figur auf dem Theater ist es, diese Situation zu veröffentlichen, auf dem Theater zu verhandeln. Meist gibt es keine Lösung des Konflikts, zumindest keine friedliche, das heißt: keine Lösung ohne Opfer. Davon sprechen die Tragödien, in denen, so Schleef, noch das Menschenopfer erinnert werde. [4] Droge Faust Parsifal definiert die Bühne der antiken Tragödie als Szene ,VOR DEM PALAST‘:

    VOR DEM PALAST, das ist die antike Konstellation, das ist das antike Bühnenbild, das ist die Voraussetzung für den Individualisierungsprozeß, das ist das Zeichen für das bevorstehende Opfer, das ist das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander. [5]

    Die paradigmatische Figur, an der Schleef die ,antike Konstellation‘ als Szene ,VOR DEM PALAST‘ beschreibt, ist Elektra. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind der zweite Teil der Orestie Die Choephoren / Die Grabspenderinnen sowie die sophokleische Elektra. Aischylos’ Stück hat einen wesentlich höheren Chor-Anteil, worauf schon der Titel schließen läßt, während Sophokles Elektra im eigentlichen Sinn aufs Proszenium stellt, indem er die Szene ,VOR DEM PALAST‘ definiert. Da Droge Faust Parsifal die unterschiedlichen theatralen Versionen des Elektra-Stoffs vermischt, sollen diese hier im Hinblick auf das Verhältnis von Chor und Protagonist kurz skizziert werden.
    Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Aigisth verweigert Elektra ein einvernehmliches Leben mit den neuen Machthabern, den Mördern ihres Vaters. Plötzlich kommt Orest, der von der Mutter verbannte Bruder Elektras, zurück nach Mykene. Unter Strafandrohung bei Unterlassung hat er, so Aischylos, von Apoll den Auftrag bekommen, den Vatermord zu rächen. Die Szene beginnt in den Choephoren am Grab Agamemnons, wo der Chor die Wiederherstellung der genealogischen Ordnung und die Beendigung der unrechtmäßigen, tyrannischen Herrschaft Aigisths fordert. Gemeinsam bitten Chor, Elektra und Orest die chtonischen (Erd-)Götter um Unterstützung bei der Ausführung der Rache. In der Mitte des Stücks wechselt der Schauplatz vom Grabhügel zum Palast. Orest gelangt mittels einer List in den Palast und führt den Rachemord durch. Elektra tritt nicht mehr auf.
    In Sophokles’ Elektra hingegen ist sie die ganze Zeit auf der Bühne, das heißt ,VOR DEM PALAST‘, in den sie es ablehnt zurückzukehren.

    Doch nein! nie werd ich für die künftige Zeit
    Im Haus mit denen leben, sondern hier am Tor,
    Dahingesunken, möge ohne Freund
    Das Leben mir verdorren! [6]

    Sophokles’ Elektra ist es, die den Ort ,VOR DEM PALAST‘ benennt, den sie während des ganzen Stückes nicht verläßt. Im Gegensatz zu den Choephoren ist es hier auch Elektra, die Orest verstärkt zur Rachetat antreibt. Der Chor drängt nicht auf Wiederherstellung der legitimen väterlichen Ordnung, sondern hält Elektra zur Mäßigung an. Bei Aischylos wie bei Sophokles ist Elektra eine gekrümmte Figur, sie behält die am Grab des Vaters eingenommene Haltung bei. Ihr Ort ist am Boden vor dem Palast, aus dem sie ausgestoßen ist beziehungsweise in den sie sich weigert, wieder einzutreten. Obwohl sie die Tat nicht ausführt, ist Sophokles’ Elektra die große Rachefigur, indem sie Orest zum Mord antreibt, dessen Auftrag nun, anders als in den Choephoren, kein göttlicher mehr ist, sondern ein selbstgegebener. Diese Dimension der Elektra-Figur wird von ihrer ununterbrochenen Präsenz in der Szene bekräftigt, während ihr Drama bei Aischylos mit der Ankunft des Bruders zuende ist.
    Elektra bleibe, so Schleef, eine „schwierige Figur“, „wie die Waffe, der das Geschoß fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuß als auch Treffer imaginieren läßt.“ [7] (Schleef 1997, S. 266.) Von der „übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt“ [8], gibt Elektra ihren Thronanspruch auf und verharrt am Boden vor den Toren des Palasts. Mit dieser Geste der Unterlassung gründet sie das Proszenium, den Ort ,VOR DEM PALAST‘, als Unort, der sich ex negativodefiniert: Er ist nicht Palast, nicht Landschaft, nicht Orchestra. Dieser Ort, der weder Skene noch Orchestra ist, wird zum Ort der Klage des tragischen Protagonisten, zu dem Ort, der den Konflikt anzeigt und ausspricht.
    Mit der Errichtung des Proszeniums auf dem Theater muß der Chor notwendig vom Palast wegrücken. Das Proszenium ist somit nicht nur Auftrittsort des tragischen Protagonisten, sondern auch Barriere zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene. Diese räumliche Trennung von Chorraum und Skene bezeichnet den „Chor-Riß“, als welchen Schleef die irreversible Trennung der Einzelfigur vom Chor beschreibt, deren Tragödie sich „demnach nur im Wechsel mit dem Chor“ abbilden lasse. [9]
    Der Chor, einst Zentrum des Theaters, in das er, von außen kommend, feierlich eingezogen ist, findet im Proszenium seine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Das Proszenium, das in der Folge immer größer wird und schließlich die Bühne ganz einnimmt, steht mehr und mehr gegen die Orchestra, die immer kleiner wird und letztlich ganz aus dem Theater verschwindet – wie der Chor.

    3. ,Unter dem Eindruck der Tragödie‘ – Ein Sportstück

    In der Uraufführung von Elfriede Jelineks Sportstück, 1998 am Burgtheater, gibt es keinen Palast und keine Orchestra. Dem korrespondiert die grundsätzliche Abwesenheit protagonistischer Figuren. Die Bühne ist zumeist in rampenparallele, beleuchtete und nicht-beleuchtete Streifen eingeteilt, was die Fragilität der Auftrittsorte sowie den Status der Figuren kennzeichnet. Die Orte des Chors sowie der einzeln auftretenden Figuren werden mittels Licht hergestellt. So erinnert der erleuchtete Teil der Vorderbühne bis zur Bühnenkante an die im Theater nicht vorhandene Orchestra, und für den Auftritt der Einzelfigur markiert ein parallel zur Rampe verlaufender Lichtsteg unter dem Eisernen Vorhang das Proszenium.
    Als Figur der Frage, dem Publikum direkt zugewandt, tritt der große Chor in der von Schleef sogenannten ,mäßigen Chorkleidung‘ (Hier: bodenlange, weite schwarze Kutten, die nur Gesicht und Hände der Chormitglieder zu sehen geben.) an die Bühnenrampe. Dieser Ort ist in der Inszenierung als expliziter Ort des sprechenden Chors markiert, in dem er, hell erleuchtet und halbrund mit der Kante der Vorderbühne abschließend, auf das Fehlen einer Orchestra, eines Chorraums im Theater, aufmerksam macht. Hier tritt in der Inszenierung der sowohl inhaltlich wie auch klanglich vielfältigste Chor auf. Diesem ersten Auftritt des Chores geht die lange Rede einer Frauenfigur voraus, eine Ansprache der Mutter an den abwesenden Sohn, der Opfer des von ihm betriebenen Leistungssports werden wird. Daß diese Figur keine tragische Protagonistin ist, sondern allenfalls „unter dem Eindruck der Tragödie“ [7] steht, wie es in Ein Sportstück heißt, verdeutlicht die Bühnenbeleuchtung: Das Proszenium, markiert durch den Lichtstreifen, kann jederzeit verschwinden. An diesem fragilen Ort hält die Mutter ihre Anklage – an den Sohn, der sie verlassen hat, an den Sport, der ihr den Sohn geraubt hat. Nach ihrer Ansprache pfeift sie zum Wettkampf, worauf 47 Chormitglieder an der Frau vorbei bis zur Rampe laufen, wo sie dicht aneinander gedrängt stehen bleiben. Der gesamte Bühnenboden ist jetzt wieder in das schon beschriebene Lichtmuster eingeteilt. Der Teil der Vorderbühne, auf dem der Chor steht, ist hell erleuchtet. Der Lichtstreifen auf der Höhe des Eisernen Vorhangs, wo die Mutter steht, ist nunmehr ein Lichtstreifen unter vielen, womit das vorherige Proszenium verschwunden ist.
    Schleefs Sportstück-Inszenierung konfrontiert zwei Szenen aus Hugo von Hofmannsthals Elektra mit Jelineks Figur der Elfie Elektra, die als Chor und jenseits der Sichtbarkeit auftritt. Elfie Elektra aus Jelineks Sportstück ist keine protagonistische Figur. Ihre „Programmversionen“ hat sie sich „angelesen wie ein Dieb“ [8], heißt es im Stück. Aus ihr spricht nicht nur die Elektra-Figur, die die Lücke in der Genealogie beklagt und Rache für den Vatermord ankündigt, sondern ebenso die Stimmen derjenigen, die mit den Toten nichts zu tun haben wollen. Ihre Rede ist in sich vielstimmig, das heißt, sie verweist nicht auf die Fiktion einer personalen Figur, die mit einer einheitlichen, in sich konsistenten Stimme sprechen würde. Im Gegensatz zur Figur der Elektra, die, obwohl Besiegte, wie alle Elektra-Versionen bis zu Hofmannsthal zeigen, die Schichten ihres Besiegtseins vergessen machend, als Figur der Rache auftritt, hat Elfie Elektra an Kraft verloren. Der Entschluß zum „Krieg gegen Mama“ [9] wird als Haltung nicht durchgeführt. Von dieser Unterlassung spricht der Text des Elfie-Elektra-Chores, der Klage, Anklage, Selbstanklage, aber nicht Racheankündigung ist. ( „Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte“, heißt es entsprechend im Text des Matrosen-Chores {{10}} .) Elfie Elektra, die die Elektra-Geschichte mit sich trägt, aber eine längst Besiegte ist, ist als Figur nicht an Sichtbarkeit geknüpft. Dieser Figur entspricht im Bühnenraum kein noch so prekäres Proszenium. In der Inszenierung tritt Elfie Elektra als nur akustisch vernehmbare Chor-Figur auf der nicht einsehbaren Hinterbühne auf.
    Der Chor der Matrosen – in Jelineks Text „Der Taucher“ {{11}} –, der sich als Elfie Elektras Bruder zu erkennen gibt, ist im Gegensatz dazu extrem in der Sichtbarkeit organisiert. Aus der Unterbühne kommend beendet der Matrosen-Chor, diese vielgestaltige Wiedergänger-Figur des Orest, eine Szene zwischen Elektra und Chrysothemis aus Hofmannsthals Stück. Auf die falsche Nachricht von Orests Tod beschließt Elektra, den Rachemord notfalls auch alleine auszuführen. Die Körper der Matrosen, von der Unterbühne beleuchtet, werfen bereits riesige Schatten an die Brandmauer. Schließlich beginnt der Matrosenchor, die beiden Schwestern übertönend, zu sprechen. Diese brutale Beendigung der Elektra-Szene spiegelt sich im Text der Matrosen, der von der umfassenden Besiegtheit der Elektra-Figur spricht. Die Vorderbühne wird bis zur Rampe hell erleuchtet, und die Riege der Matrosen nimmt den bis dahin leeren Ort an der Bühnenkante ein, der die Orchestra erinnert.
    Nach Ende ihres Textes marschieren die Matrosen zu dem Ort auf der Bühne zurück, an dem sie zuvor ‚aufgetaucht‘ sind. Während der ganzen Zeit, in der der nicht-sichtbare Elfie-Elektra-Chor spricht, bleibt der Matrosen-Chor als Schattenfigur dort stehen. Die stimmliche Präsenz des Elfie-Elektra-Chores, der nicht sichtbar ist, beherrscht nun die Szene. Der Merkwürdigkeit der leeren Vorderbühne während der Elfie-Elektra-Rede entspricht der schweigende Matrosen-Chor, der in der Position des Zuhörers erstarrt ist. Während er als Schattenfigur, die nicht abtreten kann, auf der Bühne steht, beherrscht der nicht zu sehende Elfie-Elektra-Chor, der klanglich viel variantenreicher ist als der Matrosen-Chor, die Szene auf ganz andere Weise. Indem diese Szene auf der visuellen Ebene stillsteht, wird der Theaterraum hier in erster Linie Klangraum. Darüber hinaus verstärkt das chorische Sprechen Elfie Elektras, indem es sich dem Auge entzieht, den Umstand, daß der Chor viel mehr mit dem Gehörtwerden verknüpft ist als mit dem Auftreten im Feld der Sichtbarkeit.

    4. Theaterraum als Chorraum und Orchester als Chor – Der Golem in Bayreuth

    1999 inszeniert Schleef am Burgtheater das ,Musiktheaterspiel‘Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz. Das Stück verbindet die Legende des Golem, einer verlebendigten Figur aus Lehm, die Rabbi Löw gemäß der Kabbala um 1600 in Prag geschaffen haben soll, mit Wagners Version des Parzival-Mythos, die 1882 im Bayreuther Festspielhaus als „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal zur Uraufführung kam. Auf der Textebene wird eine Linie von der in einem Akt der Hybris geschaffenen Figur des Golem zu den ,denkenden Maschinen‘ und perfekten Körpern behauptet, an deren Vision zeitgenössische Kybernetiker und Gentechniker arbeiten. Doch die von Menschenhand geschaffenen, seelenlosen Geschöpfe, so die These des Stücks, sind nur scheinbar kontrollierbar und haben längst begonnen, ihrerseits den Menschen zu beherrschen.
    Als ,Stück im Stück‘ ist in Golem die Aufführung des Parsifal szenischer Anlaß der Versammlung der Bayreuther Festspielgesellschaft. Das Festspielhaus wird jedoch von einer Gruppe gewalttätiger Jugendlicher besetzt, die drohen, das Theater abzubrennen. In dieser vom Stücktext vage als neonazistisch skizzierten Gruppierung der ,Haßkappen‘ scheint sowohl die Angstfigur des Golem wiederzukehren wie auch Parsifal, der vorgeblich ,reine Tor‘. Parsifal selbst, musikalisch extrem anwesend in der Inszenierung, tritt als Protagonist nicht mehr auf. Das Stück zeichnet sich überhaupt durch die strukturelle Abwesenheit protagonistischer Figuren aus. Als einzige Einzelfigur hat der Golem keine Sprechstimme. Zwar wird er, wie die Legende sagt, mittels eines ihm in die Stirn gesteckten Zettels, auf dem der unaussprechliche Name Gottes steht, zum Leben erweckt. Paradoxer Weise bleibt er jedoch eine sprachlose Figur. Der Golem scheint allenfalls in der vielstimmigen Wiedergänger-Figur der Haßkappen zur Sprache zu kommen, mit der er sich nach und nach verbündet.
    Bereits der Stücktext etabliert also eine grundsätzlich chorische Struktur. So ragen zwar einzelne Stimmen punktuell aus den chorischen Zusammenhängen heraus, treten jedoch nicht von diesen losgelöst auf. Schleefs Inszenierung greift diese chorische Struktur auf und radikalisiert sie in mehrfacher Hinsicht. Mit der Verabschiedung des Protagonisten bleibt als einzige theatrale Form die Chor-Szene, was sich nicht zuletzt auf die Behandlung des Theaterraums auswirkt.
    Einar Schleefs Golem-Inszenierung ist auch und vor allem eine grundsätzliche Befragung des Theaterraums in Hinblick auf einen Ort des Chors im Theater. Die große Frage, die sich gerade angesichts dieser durchgängig chorischen Inszenierung stellt, ist, ob es überhaupt einen Ort des Chors im Theater gibt. Da Golem ein Musical ist, muß die Frage gestellt werden, wie sich das Orchester zum Chor positioniert. Welche Stellung nimmt das Orchester in einem Theater ohne Chorraum und ohne Orchestergraben ein?
    Von Beginn an ist die Inszenierung durch den gleichzeitigen Auftritt verschiedener Chöre gekennzeichnet. Nach dem Einlaß tritt Einar Schleef als Stadtrat von Bayreuth in den Zuschauerraum, der wie die Bühne hell erleuchtet ist. Der Stadtrat erklärt dem Publikum die Bedrohung von Seiten der Haßkappen, die auf den Straßen einen Bürgerkrieg führen und dem Theater immer näher rücken. „Trotzdem“, so der Stadtrat, „der Aufführung des Parsifal heute wünschen wir gutes Gelingen“. {{12}}Der Chor der Festspielgesellschaft tritt an die Bühnenkante, und es beginnt ein elegischer, kakophonischer Gesang. Dieser Chor, der hier die Festspielgesellschaft vor der Aufführung des Parsifaldarstellt, wird sich später zum Orchester formieren. Das Orchester ist so bereits als Mitspieler und das heißt: als Chor definiert. Plötzlich stürmt eine Gruppe schwarz gekleideter, mit Schlagstöcken bewaffneter Männer und Frauen durch den Zuschauerraum bis zur Bühnenrampe. Der Stadtrat schreit in die beiden gleichzeitigen Chöre hinein: „Wogegen protestieren Sie? Was wollen Sie?“ {{13}}, wird aber von Pfiffen und „Bier“-Rufen der Haßkappen übertönt. Die Streitszene zwischen Stadtrat und Haßkappen findet inmitten des Publikums statt, dessen Ort von diesem Konflikt durchzogen beziehungsweise gespalten wird. Räumlich eingefaßt wird das Publikum und mit ihm die Szene des Konflikts von der jetzt schweigenden Chorriege auf der Bühne und den an die Parsifal-Aufführung erinnernden Blechbläsern auf dem Rang, die das ,Verwandlungsmotiv‘ aus Parsifal intonieren. Den fiktiven Ort des Gasthauses gibt es in der Inszenierung nicht, alles findet im Theater statt. So wird die Konfrontation der verschiedenen Gruppen in der Inszenierung nicht nur theatralisiert, sondern auch verschärft: durch das Gegenüber von der Festspielgesellschaft als Chor auf der Bühne und den Haßkappen als Gegenchor im Parkett, aber auch weil sich alles in einem Raum und mitten unter den Zuschauern abspielt, die durch die Ansprache des Stadtrats von Bayreuth und die räumliche Anordnung gleichsam zu Mitgliedern der Festspielgesellschaft geworden sind. Das Theater als realer Ort der Zusammenkunft wird somit zum Verhandlungsraum, in dem das, was auf dem Theater stattfindet, zuallererst verhandelt werden muß.
    Eine weitere konfrontative Szene, in der verschiedene Chöre gegeneinander antreten, gibt es gegen Ende der Aufführung: Die Haßkappen postieren sich an der Bühnenrückwand und wiederholen ihre eingangs vom Stadtrat zitierte Kriegserklärung gegen Stadt, Staat und Festspielhaus. Die Szene spielt bei minimaler Beleuchtung, wie überhaupt weite Teile der Inszenierung, die sich dadurch vor allem als ein Theater der Stimmen kennzeichnet. Einzige Lichtquelle ist hier ein in der Mitte der Bühnenrampe lokalisierter Scheinwerfer. Man sieht den übergroßen Schatten des Golem und die unheimliche schwarze Riege der Haßkappen als Schattenfiguren. „Das Festspielhaus brennt“ {{14}} , skandieren sie und schlagen in einem vom Chorführer angegebenen Takt mit ihren Schlagstöcken auf den Bühnenboden. Die Bedrohlichkeit der Szenerie ergibt sich vor allem aus ihrer klanglichen Disposition: Da der Bühnenraum vollständig mit Holz ausgeschlagen ist, läßt das Knallen auf den Bühnenboden den gesamten Theaterraum erschallen. Das ganze Theater wird so auch physisch zum Resonanzraum dieses Chorauftritts, der, obgleich weit von der Bühnenkante entfernt, den ganzen Theaterraum erfaßt, nicht nur auditiv, sondern geradezu körperräumlich.
    Währenddessen sind nach und nach alle Chormitglieder des Stücks auf die Vorderbühne getreten, und es haben sich fünf Gruppen gebildet, die man jetzt gleichzeitig hört: Ein Männer- und ein Frauenchor singen abwechselnd „Hojotoho–há“ (Ruf der Walküren in Wagners Ring der Nibelungen.) mit ansteigender Geschwindigkeit, so daß sie sich schließlich überlagern. Ein Kinderchor singt das Lied der Haßkappen („Haß macht Spaß“). Die Haßkappen haben ihre Schlagstöcke weggeworfen und sind mit der Kampfparole „Bayreuth brennt“ ebenfalls an die Bühnenrampe getreten. In diesen Stimmenkampf der verschiedenen Chorgruppen hinein erklingt wieder das bereits erwähnte Fanfaren-Motiv aus Parsifal. Nach dieser Szene, die von mehreren Auftritten der untoten Kundry-Figur unterbrochen wird, vereinen sich alle Chöre zu einem und singen das ,Gralsmotiv‘, während die Fanfaren wiederum das ,Liebesmotiv‘ spielen. Dies ist zum einen eine klangliche Radikalisierung, da sämtliche Chormitglieder an der Bühnenrampe stehen und ihre Stimmen das ganze Theater erfüllen, zum anderen aber auch inhaltlich, insofern es scheint, als würde der große, nunmehr aus allen Darstellern bestehende Chor, der Enthüllung des Grals – die ja hier nicht stattfindet –, nicht beiwohnen – wie die Gralsritter in WagnersParsifal –, sondern sie vielmehr fordern. Diese Haltung des Chores assoziiert die angeschlagene Gralsritterschaft, die zur Stärkung ihrer Gemeinschaft die Wiederaufnahme des Gralsritus fordert, der einzig Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit garantieren kann. Wie auch in weiteren Szenen der Inszenierung, die Parsifal zitieren, tritt der Chor hier, im Gegensatz zu Wagner, an die Stelle des Orchesters. Ein Orchester gibt es an dieser Stelle nicht, einzige Instrumentierung dieser Szene ist das Piano. Die Blechbläser (Fanfaren) bilden eine eigene Chorgruppe. Die Übernahme musikalischer Partien durch den Chor in den Parsifal-Szenen geht so weit, daß nicht nur die Gralsritter als Chor in den Vordergrund treten, sondern auch die Stimme des Protagonisten vervielfältigt wird, wenn er zum Schluß seine Machtübernahme mit den Worten besiegelt: „Enthüllet den Gral“. {{15}} Die bei Wagner darauf folgende chorische Huldigung Parsifals als Erlöser hingegen fällt aus. Kein Gral, keine Substitution der Blutdroge, keine Erlösung.
    Wie der Chor in den Parsifal-Zitationen an die Stelle des Orchesters tritt, wird das Orchester in SchleefsGolem-Inszenierung durchgängig als Chor behandelt. Das wird auch in der räumlichen Anordnung deutlich, die der des Chors im Akademietheater gleicht. So umfassen auch die Spielorte des Orchesters den gesamten Theaterraum, indem sie von dem Rang, aus dem die ,Parsifal-Fanfaren‘ ertönen, bis zur Hinterbühne reichen. Das Orchester, derart als Chor behandelt, hat in diesem Theater genau wie der Chor keinen ihm eigenen Ort. Der fehlenden Orchestra korrespondiert in dieser Raumbehandlung die Abwesenheit des Orchestergrabens. Nicht der Bühne, also der Szene gegenüber, vor ihr oder gar unter ihr verborgen, unsichtbar in einen ,mystischen Abgrund‘ (Wagner) versenkt, spielt das Orchester, sondern: auf der Bühne, gegenüber den Zuschauern, sowie auf dem Rang, hinter den Zuschauern, der Bühne gegenüber. In der konsequenten Gleichbehandlung von Orchester und Chor, der räumlichen wie klanglichen Definition des Orchesters als Chor, wird also nicht zuletzt die Problematik eines im Theater nicht vorhandenen Chorraums deutlich.

    5. Wagner und Schleef – Die Ersetzung des Chors durch das Orchester und das Problem des Orchestergrabens

    In seinen Theaterarbeiten sowie in Droge Faust Parsifal – und hier insbesondere am Parsifal-Thema und seiner möglichen Umsetzung – problematisiert Schleef den Theaterraum immer wieder hinsichtlich des Verschwindens des Chors und der Abwesenheit eines expliziten Chorraums. In Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit Wagner ist zu fragen, inwiefern für Schleef die Positionierung des Orchesters im Musiktheater und insbesondere Wagners Lösung des Orchestergrabens ein Problem darstellt. In welchem Verhältnis stehen Orchester und Chor zueinander? Wie verhalten sich beide zu und in einem Theaterraum, der keinen Chorraum vorsieht? Wie plaziert man das Orchester in einem Theater, das nicht als Hörraum, sondern als reine Schauanlage konzipiert ist?
    Wagner löst das Problem der aus den Theaterräumen gestrichenen Orchestra, eines fehlenden Chorraums im Theater praktisch, indem er einen Graben zwischen Bühne und ,Cavea‘ (Wagner) zieht und so das Orchester optisch verschwinden läßt. Theoretisch behauptet er, in Oper und Drama, die vollständige, adäquate Ersetzung des Chors durch das nunmehr unsichtbare, moderne Orchester. Für Schleef stellt der Orchestergraben jedoch keine Lösung des Problems dar, sondern eine Verschärfung. Das Problem der Situierung des Orchesters in den als Schauräumen angelegten Theaterräumen, deren Tradition bis heute wirksam ist, ist auch für Schleef das zentrale Problem des Chorauftritts, die Frage nach einem Ort des Chors im Theater.
    In der erstmalig 1852 erschienenen Schrift Oper und Drama formuliert Wagner die theoretische Konzeption seines Musiktheaters in Absetzung von der zeitgenössischen Oper, in der der Chor zum gänzlich inhaltlosen Teil der Theaterapparatur herabgesunken sei und das Orchester mit der Übernahme der Gesangsmelodie nur mehr als Stimmverstärker aufgefaßt werde. Wagner plädiert für die jeweilige Eigenständigkeit von Stimme und Orchester, ,Wortsprache‘ und ,Tonsprache‘, und für die vollständige Abschaffung des herkömmlichen Opernchors. Die Bedeutung des Chors aber ist in Wagners Musiktheaterkonzeption auf das moderne Orchester übergegangen, das jenen fortan ästhetisch ersetzen soll. {{16}} Der Protagonist, respektive Sänger, sei als ,individuell menschliche Erscheinung‘ des Chors aus der Orchestra hinauf auf die Bühne gestiegen, als eine einzelne Stimme, die aus dem Orchester, dem ehemaligen Chor herausrage. Wagner beschreibt hier die Geburt des Protagonisten aus dem Chor und dessen zukünftige Ersetzung durch das Orchester: Die Orchestra wird zum Orchester. Wagner streicht damit nicht nur den Chor, sondern indem er die (ehemalige) Orchestra als Orchesterraum definiert, wird die Bühne zum alleinigen Darstellungsraum erhoben, als alleiniger Ort der Sichtbarkeit und der Kundgebung der individuellen menschlichen Stimme. Aufgrund dieser hier angedeuteten räumlichen Aufteilung kann das Orchester, wie im Bayreuther Festspielhaus realisiert, im Graben verschwinden. Daß die Unsichtbarmachung des Orchesters aber das theatrale Problem der Beziehung zwischen Graben und Bühne, die problematische Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theater nicht löst, ist ein Punkt, den Einar Schleef in seinen Texten und Theaterarbeiten immer wieder bearbeitet.
    Warum also muß das von Wagner als moderner Nachfolger des antiken Chors definierte Orchester aus der Sichtbarkeit verschwinden? Zu welchem Zweck werden sichtbare Sänger von unsichtbarer Musik getrennt? Vor welchem gedanklichen Hintergrund wird der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum installiert?
    In seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses stellt Wagner das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum unter den Begriff der ,erhabenen Täuschung‘. Diese solle es ermöglichen, von jeglicher zwischen Bühne und Zuschauer gelegenen Realität abzusehen. Daher sieht Wagner sich genötigt, das Orchester unsichtbar zu machen. Aus dieser „Nötigung“ {{17}} ergibt sich die Abschaffung der Logenränge zugunsten einer ,Cavea‘-Form. Das Orchester als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Bild-Szene, als die Wagner die Bühne bestimmt, habe in der Versenkung zu verschwinden. Sein Auftrittsort ist jetzt die Rest-Orchestra, also der ehemalige Chorraum, welcher mit der Erfindung des Orchestergrabens endgültig aus dem sichtbaren Theaterraum gestrichen wird. Die Einrichtung des Orchestergrabens als inhaltlich nicht näher definiertem Zwischenraum zwischen Proszenium und den vorderen Sitzreihen des Publikums feiert Wagner als ,mystischen Abgrund‘, welcher ,Realität‘ und ,Idealität‘ zu trennen habe. Folgt man der Beschreibung dieser räumlichen Anordnung unter dem Gesichtspunkt der in Oper und Drama proklamierten Ersetzung des Chors durch das Orchester, bleibt zunächst die Merkwürdigkeit festzuhalten, daß Wagner den Bau seines Musiktheaters in erster Linie nach optischen Maßgaben einrichtet. Vom Hören ist in seinem Text zur Bayreuther Grundsteinlegung nicht viel die Rede, wenig auch von der Beziehung zwischen Orchester und Bühne. Die wichtigste Funktion des antiken Chors im Theater, die Veröffentlichung der gesprochenen Rede, kann dem in der Versenkung verschwundenen Orchester schwerlich zugeordnet werden. Das „Auseinanderdriften von Sprech- und Musiktheater“ {{18}}, das Schleef konstatiert, die Manifestation der Trennung von Sehen und Hören im Theater, die Wagner nolens volens vorantreibt, sind keine Abstrakta, sondern ganz konkrete Probleme, die sich dem Theater stellen, insbesondere dem Chortheater, das im Kern dieses Problems arbeitet. Die von Wagner angestrebte Ersetzung des Chors durch das unsichtbare Orchester bleibt für Schleef vor allem auch deshalb problematisch, weil Ausgangspunkt der Überlegungen Wagners, wie er selbst in seiner Rede sagt, seine ,Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ ist. Schleef liest mit und gegen Wagners Theaterentwurf, wenn er analysiert: „Musik ist Dämmerung“ {{19}} . Der Zustand der Dämmerung in Wagners Stücken definiere dessen „Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum“ {{20}}. Von der szenischen Anlage deutet gerade Wagners „Bühnenweihfestspiel“Parsifal, das in Schleefs Golem-Inszenierung auf mehreren Ebenen zitiert wird, auf das Schwinden des Sehsinns. Keine lichten Gestalten, „schattig und ernst“ ist es im Gralswald. Auch die Gralsburg scheint alles andere als ein Ort der Hellsichtigkeit, und gerade zum Ende hin, zur vorgeblichen Erlösung, wird die Szene immer finsterer. An deren permanenter Verdunkelung scheint Wagner geradezu zu arbeiten, Weiheakt und Tragödie sind im hell erleuchteten Bühnenkasten nicht abzubilden.
    Dunkel ist es auch in allen Parsifal-Zitaten in Golem. Die Inszenierung des Golem zeigt Schleefs Wagner-Rezeption auch als Revision, obwohl oder gerade weil er Wagner sehr genau liest. Schleef arbeitet auch hier an den Paradoxien der Theaterentwürfe Wagners: einerseits der vollständigen Ersetzung des antiken Chors durch das moderne Orchester und andererseits dessen Versenkung im Orchestergraben und damit letztlich Abschaffung eines Chorraums im Theater; einerseits die ,gänzliche Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ im Bayreuther Theaterbau und andererseits ständiges Ankämpfen gegen dieselben in der Konzeption der Stücke wie in Bühnenentwürfen; einerseits die Einführung der Arbeitsteilung zwischen Bühne und Orchestergraben und die nicht zuletzt durch das Verschwinden des Chorraums manifestierte Trennung von Sehen und Hören im Theater, und andererseits die vor allem in Oper und Drama formulierten Ideen zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk; letztlich auch das Problem der Gottabwesenheit und auf der anderen Seite der Versuch der Installation einer ,Kunstreligion‘, die ihren Höhepunkt in Parsifal findet, wo alle genannten Paradoxien zusammenzukommen scheinen. Das hier skizzierte Problem des Orchestergrabens ist für ein Theater, das die Arbeitsteilung weiterführt und die Trennung von Sehen und Hören nicht aufhebt, nicht zu lösen. Mit und gegen das große Vorbild Wagner arbeitet Schleefs Chortheater im Zentrum dieses Problems.

    [[4] Vgl. ebd., S. 392. [[4]]

    [[10]]ebd., S. 169[[10]]
    [[11]] im Nebentext als plurale Figur gekennzeichnet: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“. In: Jelinek 1998., S. 167. [[11]]
    [[12]] Berkéwicz 1999, S. 10. Von dieser Fassung abweichender Aufführungstext ist mit * gekennzeichnet. [[12]]
    [[13]] Ebd., S. 14. [[13]]
    [[14]] Ebd., S. 61. [[14]]
    [[15]] Wagner 1950, S. 61. [[15]]
    [[16]] Vgl. Wagner1984, S. 349. [[16]]
    [[17]] Wagner, Richard: „Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth“. Hier zitiert nach: http://www.bayreuther-festspiele.de. [[17]]
    [[18]] Schleef 1997, S. 50. [[18]]
    [[19]] Ebd., S. 74 u.266 f. [[19]]
    [[20]] Ebd., S. 74. [

  11. efs Chortheater weist als grundsätzliche Befragung des Theaterraums auf ein Paradox hin, das dem europäischen Theater von Beginn an eingeschrieben scheint: Dem Chor als erster Figur des Theaters scheint in diesem kein eigentlicher Ort zuzukommen.Schleefs Arbeit an diesem Paradox soll im folgenden an vier exemplarischen Punkten nachgezeichnet werden: an seiner analytischen Beschreibung der tragischen Bühne als Szene ,VOR DEM PALAST‘, an der Fragilität der theatralen Orte in der Inszenierung Ein Sportstück, an der Definition des Orchesters als Chor in der Inszenierung Der Golem in Bayreuth und an Schleefs Wagner-Rezeption und dem Problem des Orchestergrabens.

    2. Elektra ,VOR DEM PALAST‘ – Die Gründung des Proszeniums

    Das antike Theater gründet in einem doppelten Raum-Problem: Zum einen ist das Proszenium als Ort des tragischen Protagonisten ein Un-Ort zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor. Die Tragödie zeigt den leidenden Protagonisten im Schwebezustand zwischen diesen beiden Orten, von denen er durch die Geschichte, die verlautbart wird, unwiderruflich getrennt ist. Der Ort, an dem dieses Getrenntsein sich mitteilt und erfahrbar wird, ist das Proszenium, das Schleef in seinem Essay Droge Faust Parsifal mit der Angabe ,VOR DEM PALAST‘ bezeichnet. Das zweite Problem ist das räumliche Verhältnis zwischen Chor und Protagonist – und damit auch zwischen Chor und Palast/Skene. Indem die Szene ,VOR DEM PALAST‘ sich zwischen Palast und Chorraum schiebt, kann das Proszenium auch als Barriere zwischen Orchestra und Skene aufgefaßt werden. Das heißt nicht nur der auf der tragischen Szene ausgesetzte Protagonist entfernt sich durch sein Hervortreten vom Zentrum der Macht, auch der Chor wird durch die Errichtung des Proszeniums von dem Palast abgeschnitten, als dessen ,eigentlichen Bauherren‘ ihn Schleef beschreibt. [1]
    ,VOR DEM PALAST‘ tritt nicht nur die grundlegende Spaltung zwischen Chor und Protagonist, Protagonist und Palast hervor. Indem die Orchestra nach der Errichtung des Proszeniums nicht mehr gemeinsamer Auftrittsort von Chor und Schauspieler ist, zeigt sich, daß auch die Herkunft der Chor-Figur eine andere ist. Schleef schreibt, sie gehöre eher zur „Bühnenlandschaft“, sie sei vielmehr selbst Landschaft. Doch diese Landschaft in ihrer „ursprünglichen, heilenden Bedeutung“ [2] so Schleef, als Ort, an dem „sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen könnte“[3], scheint in den Tragödien allenfalls im Konjunktiv auf. Die Landschaft, aus der der Chor hier kommt, um vor den Toren des Palasts zu klagen, ist keine unzerstörte Idylle. Grund der Versammlung des Chors vor dem Palast – im Theater, in der Orchestra – ist in den antiken Tragödien stets eine existentielle Bedrohung: Krieg, Terror, Rechtsbruch. Politischer Grund des Auftritts der Chor-Figur auf dem Theater ist es, diese Situation zu veröffentlichen, auf dem Theater zu verhandeln. Meist gibt es keine Lösung des Konflikts, zumindest keine friedliche, das heißt: keine Lösung ohne Opfer. Davon sprechen die Tragödien, in denen, so Schleef, noch das Menschenopfer erinnert werde. [4] Droge Faust Parsifal definiert die Bühne der antiken Tragödie als Szene ,VOR DEM PALAST‘:

    VOR DEM PALAST, das ist die antike Konstellation, das ist das antike Bühnenbild, das ist die Voraussetzung für den Individualisierungsprozeß, das ist das Zeichen für das bevorstehende Opfer, das ist das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander. [5]

    Die paradigmatische Figur, an der Schleef die ,antike Konstellation‘ als Szene ,VOR DEM PALAST‘ beschreibt, ist Elektra. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind der zweite Teil der Orestie Die Choephoren / Die Grabspenderinnen sowie die sophokleische Elektra. Aischylos’ Stück hat einen wesentlich höheren Chor-Anteil, worauf schon der Titel schließen läßt, während Sophokles Elektra im eigentlichen Sinn aufs Proszenium stellt, indem er die Szene ,VOR DEM PALAST‘ definiert. Da Droge Faust Parsifal die unterschiedlichen theatralen Versionen des Elektra-Stoffs vermischt, sollen diese hier im Hinblick auf das Verhältnis von Chor und Protagonist kurz skizziert werden.
    Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Aigisth verweigert Elektra ein einvernehmliches Leben mit den neuen Machthabern, den Mördern ihres Vaters. Plötzlich kommt Orest, der von der Mutter verbannte Bruder Elektras, zurück nach Mykene. Unter Strafandrohung bei Unterlassung hat er, so Aischylos, von Apoll den Auftrag bekommen, den Vatermord zu rächen. Die Szene beginnt in den Choephoren am Grab Agamemnons, wo der Chor die Wiederherstellung der genealogischen Ordnung und die Beendigung der unrechtmäßigen, tyrannischen Herrschaft Aigisths fordert. Gemeinsam bitten Chor, Elektra und Orest die chtonischen (Erd-)Götter um Unterstützung bei der Ausführung der Rache. In der Mitte des Stücks wechselt der Schauplatz vom Grabhügel zum Palast. Orest gelangt mittels einer List in den Palast und führt den Rachemord durch. Elektra tritt nicht mehr auf.
    In Sophokles’ Elektra hingegen ist sie die ganze Zeit auf der Bühne, das heißt ,VOR DEM PALAST‘, in den sie es ablehnt zurückzukehren.

    Doch nein! nie werd ich für die künftige Zeit
    Im Haus mit denen leben, sondern hier am Tor,
    Dahingesunken, möge ohne Freund
    Das Leben mir verdorren! [6]

    Sophokles’ Elektra ist es, die den Ort ,VOR DEM PALAST‘ benennt, den sie während des ganzen Stückes nicht verläßt. Im Gegensatz zu den Choephoren ist es hier auch Elektra, die Orest verstärkt zur Rachetat antreibt. Der Chor drängt nicht auf Wiederherstellung der legitimen väterlichen Ordnung, sondern hält Elektra zur Mäßigung an. Bei Aischylos wie bei Sophokles ist Elektra eine gekrümmte Figur, sie behält die am Grab des Vaters eingenommene Haltung bei. Ihr Ort ist am Boden vor dem Palast, aus dem sie ausgestoßen ist beziehungsweise in den sie sich weigert, wieder einzutreten. Obwohl sie die Tat nicht ausführt, ist Sophokles’ Elektra die große Rachefigur, indem sie Orest zum Mord antreibt, dessen Auftrag nun, anders als in den Choephoren, kein göttlicher mehr ist, sondern ein selbstgegebener. Diese Dimension der Elektra-Figur wird von ihrer ununterbrochenen Präsenz in der Szene bekräftigt, während ihr Drama bei Aischylos mit der Ankunft des Bruders zuende ist.
    Elektra bleibe, so Schleef, eine „schwierige Figur“, „wie die Waffe, der das Geschoß fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuß als auch Treffer imaginieren läßt.“ [7] (Schleef 1997, S. 266.) Von der „übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt“ [8], gibt Elektra ihren Thronanspruch auf und verharrt am Boden vor den Toren des Palasts. Mit dieser Geste der Unterlassung gründet sie das Proszenium, den Ort ,VOR DEM PALAST‘, als Unort, der sich ex negativodefiniert: Er ist nicht Palast, nicht Landschaft, nicht Orchestra. Dieser Ort, der weder Skene noch Orchestra ist, wird zum Ort der Klage des tragischen Protagonisten, zu dem Ort, der den Konflikt anzeigt und ausspricht.
    Mit der Errichtung des Proszeniums auf dem Theater muß der Chor notwendig vom Palast wegrücken. Das Proszenium ist somit nicht nur Auftrittsort des tragischen Protagonisten, sondern auch Barriere zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene. Diese räumliche Trennung von Chorraum und Skene bezeichnet den „Chor-Riß“, als welchen Schleef die irreversible Trennung der Einzelfigur vom Chor beschreibt, deren Tragödie sich „demnach nur im Wechsel mit dem Chor“ abbilden lasse. [9]
    Der Chor, einst Zentrum des Theaters, in das er, von außen kommend, feierlich eingezogen ist, findet im Proszenium seine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Das Proszenium, das in der Folge immer größer wird und schließlich die Bühne ganz einnimmt, steht mehr und mehr gegen die Orchestra, die immer kleiner wird und letztlich ganz aus dem Theater verschwindet – wie der Chor.

    3. ,Unter dem Eindruck der Tragödie‘ – Ein Sportstück

    In der Uraufführung von Elfriede Jelineks Sportstück, 1998 am Burgtheater, gibt es keinen Palast und keine Orchestra. Dem korrespondiert die grundsätzliche Abwesenheit protagonistischer Figuren. Die Bühne ist zumeist in rampenparallele, beleuchtete und nicht-beleuchtete Streifen eingeteilt, was die Fragilität der Auftrittsorte sowie den Status der Figuren kennzeichnet. Die Orte des Chors sowie der einzeln auftretenden Figuren werden mittels Licht hergestellt. So erinnert der erleuchtete Teil der Vorderbühne bis zur Bühnenkante an die im Theater nicht vorhandene Orchestra, und für den Auftritt der Einzelfigur markiert ein parallel zur Rampe verlaufender Lichtsteg unter dem Eisernen Vorhang das Proszenium.
    Als Figur der Frage, dem Publikum direkt zugewandt, tritt der große Chor in der von Schleef sogenannten ,mäßigen Chorkleidung‘ (Hier: bodenlange, weite schwarze Kutten, die nur Gesicht und Hände der Chormitglieder zu sehen geben.) an die Bühnenrampe. Dieser Ort ist in der Inszenierung als expliziter Ort des sprechenden Chors markiert, in dem er, hell erleuchtet und halbrund mit der Kante der Vorderbühne abschließend, auf das Fehlen einer Orchestra, eines Chorraums im Theater, aufmerksam macht. Hier tritt in der Inszenierung der sowohl inhaltlich wie auch klanglich vielfältigste Chor auf. Diesem ersten Auftritt des Chores geht die lange Rede einer Frauenfigur voraus, eine Ansprache der Mutter an den abwesenden Sohn, der Opfer des von ihm betriebenen Leistungssports werden wird. Daß diese Figur keine tragische Protagonistin ist, sondern allenfalls „unter dem Eindruck der Tragödie“ [7] steht, wie es in Ein Sportstück heißt, verdeutlicht die Bühnenbeleuchtung: Das Proszenium, markiert durch den Lichtstreifen, kann jederzeit verschwinden. An diesem fragilen Ort hält die Mutter ihre Anklage – an den Sohn, der sie verlassen hat, an den Sport, der ihr den Sohn geraubt hat. Nach ihrer Ansprache pfeift sie zum Wettkampf, worauf 47 Chormitglieder an der Frau vorbei bis zur Rampe laufen, wo sie dicht aneinander gedrängt stehen bleiben. Der gesamte Bühnenboden ist jetzt wieder in das schon beschriebene Lichtmuster eingeteilt. Der Teil der Vorderbühne, auf dem der Chor steht, ist hell erleuchtet. Der Lichtstreifen auf der Höhe des Eisernen Vorhangs, wo die Mutter steht, ist nunmehr ein Lichtstreifen unter vielen, womit das vorherige Proszenium verschwunden ist.
    Schleefs Sportstück-Inszenierung konfrontiert zwei Szenen aus Hugo von Hofmannsthals Elektra mit Jelineks Figur der Elfie Elektra, die als Chor und jenseits der Sichtbarkeit auftritt. Elfie Elektra aus Jelineks Sportstück ist keine protagonistische Figur. Ihre „Programmversionen“ hat sie sich „angelesen wie ein Dieb“ [8], heißt es im Stück. Aus ihr spricht nicht nur die Elektra-Figur, die die Lücke in der Genealogie beklagt und Rache für den Vatermord ankündigt, sondern ebenso die Stimmen derjenigen, die mit den Toten nichts zu tun haben wollen. Ihre Rede ist in sich vielstimmig, das heißt, sie verweist nicht auf die Fiktion einer personalen Figur, die mit einer einheitlichen, in sich konsistenten Stimme sprechen würde. Im Gegensatz zur Figur der Elektra, die, obwohl Besiegte, wie alle Elektra-Versionen bis zu Hofmannsthal zeigen, die Schichten ihres Besiegtseins vergessen machend, als Figur der Rache auftritt, hat Elfie Elektra an Kraft verloren. Der Entschluß zum „Krieg gegen Mama“ [9] wird als Haltung nicht durchgeführt. Von dieser Unterlassung spricht der Text des Elfie-Elektra-Chores, der Klage, Anklage, Selbstanklage, aber nicht Racheankündigung ist. ( „Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte“, heißt es entsprechend im Text des Matrosen-Chores {{10}} .) Elfie Elektra, die die Elektra-Geschichte mit sich trägt, aber eine längst Besiegte ist, ist als Figur nicht an Sichtbarkeit geknüpft. Dieser Figur entspricht im Bühnenraum kein noch so prekäres Proszenium. In der Inszenierung tritt Elfie Elektra als nur akustisch vernehmbare Chor-Figur auf der nicht einsehbaren Hinterbühne auf.
    Der Chor der Matrosen – in Jelineks Text „Der Taucher“ {{11}} –, der sich als Elfie Elektras Bruder zu erkennen gibt, ist im Gegensatz dazu extrem in der Sichtbarkeit organisiert. Aus der Unterbühne kommend beendet der Matrosen-Chor, diese vielgestaltige Wiedergänger-Figur des Orest, eine Szene zwischen Elektra und Chrysothemis aus Hofmannsthals Stück. Auf die falsche Nachricht von Orests Tod beschließt Elektra, den Rachemord notfalls auch alleine auszuführen. Die Körper der Matrosen, von der Unterbühne beleuchtet, werfen bereits riesige Schatten an die Brandmauer. Schließlich beginnt der Matrosenchor, die beiden Schwestern übertönend, zu sprechen. Diese brutale Beendigung der Elektra-Szene spiegelt sich im Text der Matrosen, der von der umfassenden Besiegtheit der Elektra-Figur spricht. Die Vorderbühne wird bis zur Rampe hell erleuchtet, und die Riege der Matrosen nimmt den bis dahin leeren Ort an der Bühnenkante ein, der die Orchestra erinnert.
    Nach Ende ihres Textes marschieren die Matrosen zu dem Ort auf der Bühne zurück, an dem sie zuvor ‚aufgetaucht‘ sind. Während der ganzen Zeit, in der der nicht-sichtbare Elfie-Elektra-Chor spricht, bleibt der Matrosen-Chor als Schattenfigur dort stehen. Die stimmliche Präsenz des Elfie-Elektra-Chores, der nicht sichtbar ist, beherrscht nun die Szene. Der Merkwürdigkeit der leeren Vorderbühne während der Elfie-Elektra-Rede entspricht der schweigende Matrosen-Chor, der in der Position des Zuhörers erstarrt ist. Während er als Schattenfigur, die nicht abtreten kann, auf der Bühne steht, beherrscht der nicht zu sehende Elfie-Elektra-Chor, der klanglich viel variantenreicher ist als der Matrosen-Chor, die Szene auf ganz andere Weise. Indem diese Szene auf der visuellen Ebene stillsteht, wird der Theaterraum hier in erster Linie Klangraum. Darüber hinaus verstärkt das chorische Sprechen Elfie Elektras, indem es sich dem Auge entzieht, den Umstand, daß der Chor viel mehr mit dem Gehörtwerden verknüpft ist als mit dem Auftreten im Feld der Sichtbarkeit.

    4. Theaterraum als Chorraum und Orchester als Chor – Der Golem in Bayreuth

    1999 inszeniert Schleef am Burgtheater das ,Musiktheaterspiel‘Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz. Das Stück verbindet die Legende des Golem, einer verlebendigten Figur aus Lehm, die Rabbi Löw gemäß der Kabbala um 1600 in Prag geschaffen haben soll, mit Wagners Version des Parzival-Mythos, die 1882 im Bayreuther Festspielhaus als „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal zur Uraufführung kam. Auf der Textebene wird eine Linie von der in einem Akt der Hybris geschaffenen Figur des Golem zu den ,denkenden Maschinen‘ und perfekten Körpern behauptet, an deren Vision zeitgenössische Kybernetiker und Gentechniker arbeiten. Doch die von Menschenhand geschaffenen, seelenlosen Geschöpfe, so die These des Stücks, sind nur scheinbar kontrollierbar und haben längst begonnen, ihrerseits den Menschen zu beherrschen.
    Als ,Stück im Stück‘ ist in Golem die Aufführung des Parsifal szenischer Anlaß der Versammlung der Bayreuther Festspielgesellschaft. Das Festspielhaus wird jedoch von einer Gruppe gewalttätiger Jugendlicher besetzt, die drohen, das Theater abzubrennen. In dieser vom Stücktext vage als neonazistisch skizzierten Gruppierung der ,Haßkappen‘ scheint sowohl die Angstfigur des Golem wiederzukehren wie auch Parsifal, der vorgeblich ,reine Tor‘. Parsifal selbst, musikalisch extrem anwesend in der Inszenierung, tritt als Protagonist nicht mehr auf. Das Stück zeichnet sich überhaupt durch die strukturelle Abwesenheit protagonistischer Figuren aus. Als einzige Einzelfigur hat der Golem keine Sprechstimme. Zwar wird er, wie die Legende sagt, mittels eines ihm in die Stirn gesteckten Zettels, auf dem der unaussprechliche Name Gottes steht, zum Leben erweckt. Paradoxer Weise bleibt er jedoch eine sprachlose Figur. Der Golem scheint allenfalls in der vielstimmigen Wiedergänger-Figur der Haßkappen zur Sprache zu kommen, mit der er sich nach und nach verbündet.
    Bereits der Stücktext etabliert also eine grundsätzlich chorische Struktur. So ragen zwar einzelne Stimmen punktuell aus den chorischen Zusammenhängen heraus, treten jedoch nicht von diesen losgelöst auf. Schleefs Inszenierung greift diese chorische Struktur auf und radikalisiert sie in mehrfacher Hinsicht. Mit der Verabschiedung des Protagonisten bleibt als einzige theatrale Form die Chor-Szene, was sich nicht zuletzt auf die Behandlung des Theaterraums auswirkt.
    Einar Schleefs Golem-Inszenierung ist auch und vor allem eine grundsätzliche Befragung des Theaterraums in Hinblick auf einen Ort des Chors im Theater. Die große Frage, die sich gerade angesichts dieser durchgängig chorischen Inszenierung stellt, ist, ob es überhaupt einen Ort des Chors im Theater gibt. Da Golem ein Musical ist, muß die Frage gestellt werden, wie sich das Orchester zum Chor positioniert. Welche Stellung nimmt das Orchester in einem Theater ohne Chorraum und ohne Orchestergraben ein?
    Von Beginn an ist die Inszenierung durch den gleichzeitigen Auftritt verschiedener Chöre gekennzeichnet. Nach dem Einlaß tritt Einar Schleef als Stadtrat von Bayreuth in den Zuschauerraum, der wie die Bühne hell erleuchtet ist. Der Stadtrat erklärt dem Publikum die Bedrohung von Seiten der Haßkappen, die auf den Straßen einen Bürgerkrieg führen und dem Theater immer näher rücken. „Trotzdem“, so der Stadtrat, „der Aufführung des Parsifal heute wünschen wir gutes Gelingen“. {{12}}Der Chor der Festspielgesellschaft tritt an die Bühnenkante, und es beginnt ein elegischer, kakophonischer Gesang. Dieser Chor, der hier die Festspielgesellschaft vor der Aufführung des Parsifaldarstellt, wird sich später zum Orchester formieren. Das Orchester ist so bereits als Mitspieler und das heißt: als Chor definiert. Plötzlich stürmt eine Gruppe schwarz gekleideter, mit Schlagstöcken bewaffneter Männer und Frauen durch den Zuschauerraum bis zur Bühnenrampe. Der Stadtrat schreit in die beiden gleichzeitigen Chöre hinein: „Wogegen protestieren Sie? Was wollen Sie?“ {{13}}, wird aber von Pfiffen und „Bier“-Rufen der Haßkappen übertönt. Die Streitszene zwischen Stadtrat und Haßkappen findet inmitten des Publikums statt, dessen Ort von diesem Konflikt durchzogen beziehungsweise gespalten wird. Räumlich eingefaßt wird das Publikum und mit ihm die Szene des Konflikts von der jetzt schweigenden Chorriege auf der Bühne und den an die Parsifal-Aufführung erinnernden Blechbläsern auf dem Rang, die das ,Verwandlungsmotiv‘ aus Parsifal intonieren. Den fiktiven Ort des Gasthauses gibt es in der Inszenierung nicht, alles findet im Theater statt. So wird die Konfrontation der verschiedenen Gruppen in der Inszenierung nicht nur theatralisiert, sondern auch verschärft: durch das Gegenüber von der Festspielgesellschaft als Chor auf der Bühne und den Haßkappen als Gegenchor im Parkett, aber auch weil sich alles in einem Raum und mitten unter den Zuschauern abspielt, die durch die Ansprache des Stadtrats von Bayreuth und die räumliche Anordnung gleichsam zu Mitgliedern der Festspielgesellschaft geworden sind. Das Theater als realer Ort der Zusammenkunft wird somit zum Verhandlungsraum, in dem das, was auf dem Theater stattfindet, zuallererst verhandelt werden muß.
    Eine weitere konfrontative Szene, in der verschiedene Chöre gegeneinander antreten, gibt es gegen Ende der Aufführung: Die Haßkappen postieren sich an der Bühnenrückwand und wiederholen ihre eingangs vom Stadtrat zitierte Kriegserklärung gegen Stadt, Staat und Festspielhaus. Die Szene spielt bei minimaler Beleuchtung, wie überhaupt weite Teile der Inszenierung, die sich dadurch vor allem als ein Theater der Stimmen kennzeichnet. Einzige Lichtquelle ist hier ein in der Mitte der Bühnenrampe lokalisierter Scheinwerfer. Man sieht den übergroßen Schatten des Golem und die unheimliche schwarze Riege der Haßkappen als Schattenfiguren. „Das Festspielhaus brennt“ {{14}} , skandieren sie und schlagen in einem vom Chorführer angegebenen Takt mit ihren Schlagstöcken auf den Bühnenboden. Die Bedrohlichkeit der Szenerie ergibt sich vor allem aus ihrer klanglichen Disposition: Da der Bühnenraum vollständig mit Holz ausgeschlagen ist, läßt das Knallen auf den Bühnenboden den gesamten Theaterraum erschallen. Das ganze Theater wird so auch physisch zum Resonanzraum dieses Chorauftritts, der, obgleich weit von der Bühnenkante entfernt, den ganzen Theaterraum erfaßt, nicht nur auditiv, sondern geradezu körperräumlich.
    Währenddessen sind nach und nach alle Chormitglieder des Stücks auf die Vorderbühne getreten, und es haben sich fünf Gruppen gebildet, die man jetzt gleichzeitig hört: Ein Männer- und ein Frauenchor singen abwechselnd „Hojotoho–há“ (Ruf der Walküren in Wagners Ring der Nibelungen.) mit ansteigender Geschwindigkeit, so daß sie sich schließlich überlagern. Ein Kinderchor singt das Lied der Haßkappen („Haß macht Spaß“). Die Haßkappen haben ihre Schlagstöcke weggeworfen und sind mit der Kampfparole „Bayreuth brennt“ ebenfalls an die Bühnenrampe getreten. In diesen Stimmenkampf der verschiedenen Chorgruppen hinein erklingt wieder das bereits erwähnte Fanfaren-Motiv aus Parsifal. Nach dieser Szene, die von mehreren Auftritten der untoten Kundry-Figur unterbrochen wird, vereinen sich alle Chöre zu einem und singen das ,Gralsmotiv‘, während die Fanfaren wiederum das ,Liebesmotiv‘ spielen. Dies ist zum einen eine klangliche Radikalisierung, da sämtliche Chormitglieder an der Bühnenrampe stehen und ihre Stimmen das ganze Theater erfüllen, zum anderen aber auch inhaltlich, insofern es scheint, als würde der große, nunmehr aus allen Darstellern bestehende Chor, der Enthüllung des Grals – die ja hier nicht stattfindet –, nicht beiwohnen – wie die Gralsritter in WagnersParsifal –, sondern sie vielmehr fordern. Diese Haltung des Chores assoziiert die angeschlagene Gralsritterschaft, die zur Stärkung ihrer Gemeinschaft die Wiederaufnahme des Gralsritus fordert, der einzig Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit garantieren kann. Wie auch in weiteren Szenen der Inszenierung, die Parsifal zitieren, tritt der Chor hier, im Gegensatz zu Wagner, an die Stelle des Orchesters. Ein Orchester gibt es an dieser Stelle nicht, einzige Instrumentierung dieser Szene ist das Piano. Die Blechbläser (Fanfaren) bilden eine eigene Chorgruppe. Die Übernahme musikalischer Partien durch den Chor in den Parsifal-Szenen geht so weit, daß nicht nur die Gralsritter als Chor in den Vordergrund treten, sondern auch die Stimme des Protagonisten vervielfältigt wird, wenn er zum Schluß seine Machtübernahme mit den Worten besiegelt: „Enthüllet den Gral“. {{15}} Die bei Wagner darauf folgende chorische Huldigung Parsifals als Erlöser hingegen fällt aus. Kein Gral, keine Substitution der Blutdroge, keine Erlösung.
    Wie der Chor in den Parsifal-Zitationen an die Stelle des Orchesters tritt, wird das Orchester in SchleefsGolem-Inszenierung durchgängig als Chor behandelt. Das wird auch in der räumlichen Anordnung deutlich, die der des Chors im Akademietheater gleicht. So umfassen auch die Spielorte des Orchesters den gesamten Theaterraum, indem sie von dem Rang, aus dem die ,Parsifal-Fanfaren‘ ertönen, bis zur Hinterbühne reichen. Das Orchester, derart als Chor behandelt, hat in diesem Theater genau wie der Chor keinen ihm eigenen Ort. Der fehlenden Orchestra korrespondiert in dieser Raumbehandlung die Abwesenheit des Orchestergrabens. Nicht der Bühne, also der Szene gegenüber, vor ihr oder gar unter ihr verborgen, unsichtbar in einen ,mystischen Abgrund‘ (Wagner) versenkt, spielt das Orchester, sondern: auf der Bühne, gegenüber den Zuschauern, sowie auf dem Rang, hinter den Zuschauern, der Bühne gegenüber. In der konsequenten Gleichbehandlung von Orchester und Chor, der räumlichen wie klanglichen Definition des Orchesters als Chor, wird also nicht zuletzt die Problematik eines im Theater nicht vorhandenen Chorraums deutlich.

    5. Wagner und Schleef – Die Ersetzung des Chors durch das Orchester und das Problem des Orchestergrabens

    In seinen Theaterarbeiten sowie in Droge Faust Parsifal – und hier insbesondere am Parsifal-Thema und seiner möglichen Umsetzung – problematisiert Schleef den Theaterraum immer wieder hinsichtlich des Verschwindens des Chors und der Abwesenheit eines expliziten Chorraums. In Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit Wagner ist zu fragen, inwiefern für Schleef die Positionierung des Orchesters im Musiktheater und insbesondere Wagners Lösung des Orchestergrabens ein Problem darstellt. In welchem Verhältnis stehen Orchester und Chor zueinander? Wie verhalten sich beide zu und in einem Theaterraum, der keinen Chorraum vorsieht? Wie plaziert man das Orchester in einem Theater, das nicht als Hörraum, sondern als reine Schauanlage konzipiert ist?
    Wagner löst das Problem der aus den Theaterräumen gestrichenen Orchestra, eines fehlenden Chorraums im Theater praktisch, indem er einen Graben zwischen Bühne und ,Cavea‘ (Wagner) zieht und so das Orchester optisch verschwinden läßt. Theoretisch behauptet er, in Oper und Drama, die vollständige, adäquate Ersetzung des Chors durch das nunmehr unsichtbare, moderne Orchester. Für Schleef stellt der Orchestergraben jedoch keine Lösung des Problems dar, sondern eine Verschärfung. Das Problem der Situierung des Orchesters in den als Schauräumen angelegten Theaterräumen, deren Tradition bis heute wirksam ist, ist auch für Schleef das zentrale Problem des Chorauftritts, die Frage nach einem Ort des Chors im Theater.
    In der erstmalig 1852 erschienenen Schrift Oper und Drama formuliert Wagner die theoretische Konzeption seines Musiktheaters in Absetzung von der zeitgenössischen Oper, in der der Chor zum gänzlich inhaltlosen Teil der Theaterapparatur herabgesunken sei und das Orchester mit der Übernahme der Gesangsmelodie nur mehr als Stimmverstärker aufgefaßt werde. Wagner plädiert für die jeweilige Eigenständigkeit von Stimme und Orchester, ,Wortsprache‘ und ,Tonsprache‘, und für die vollständige Abschaffung des herkömmlichen Opernchors. Die Bedeutung des Chors aber ist in Wagners Musiktheaterkonzeption auf das moderne Orchester übergegangen, das jenen fortan ästhetisch ersetzen soll. {{16}} Der Protagonist, respektive Sänger, sei als ,individuell menschliche Erscheinung‘ des Chors aus der Orchestra hinauf auf die Bühne gestiegen, als eine einzelne Stimme, die aus dem Orchester, dem ehemaligen Chor herausrage. Wagner beschreibt hier die Geburt des Protagonisten aus dem Chor und dessen zukünftige Ersetzung durch das Orchester: Die Orchestra wird zum Orchester. Wagner streicht damit nicht nur den Chor, sondern indem er die (ehemalige) Orchestra als Orchesterraum definiert, wird die Bühne zum alleinigen Darstellungsraum erhoben, als alleiniger Ort der Sichtbarkeit und der Kundgebung der individuellen menschlichen Stimme. Aufgrund dieser hier angedeuteten räumlichen Aufteilung kann das Orchester, wie im Bayreuther Festspielhaus realisiert, im Graben verschwinden. Daß die Unsichtbarmachung des Orchesters aber das theatrale Problem der Beziehung zwischen Graben und Bühne, die problematische Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theater nicht löst, ist ein Punkt, den Einar Schleef in seinen Texten und Theaterarbeiten immer wieder bearbeitet.
    Warum also muß das von Wagner als moderner Nachfolger des antiken Chors definierte Orchester aus der Sichtbarkeit verschwinden? Zu welchem Zweck werden sichtbare Sänger von unsichtbarer Musik getrennt? Vor welchem gedanklichen Hintergrund wird der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum installiert?
    In seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses stellt Wagner das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum unter den Begriff der ,erhabenen Täuschung‘. Diese solle es ermöglichen, von jeglicher zwischen Bühne und Zuschauer gelegenen Realität abzusehen. Daher sieht Wagner sich genötigt, das Orchester unsichtbar zu machen. Aus dieser „Nötigung“ {{17}} ergibt sich die Abschaffung der Logenränge zugunsten einer ,Cavea‘-Form. Das Orchester als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Bild-Szene, als die Wagner die Bühne bestimmt, habe in der Versenkung zu verschwinden. Sein Auftrittsort ist jetzt die Rest-Orchestra, also der ehemalige Chorraum, welcher mit der Erfindung des Orchestergrabens endgültig aus dem sichtbaren Theaterraum gestrichen wird. Die Einrichtung des Orchestergrabens als inhaltlich nicht näher definiertem Zwischenraum zwischen Proszenium und den vorderen Sitzreihen des Publikums feiert Wagner als ,mystischen Abgrund‘, welcher ,Realität‘ und ,Idealität‘ zu trennen habe. Folgt man der Beschreibung dieser räumlichen Anordnung unter dem Gesichtspunkt der in Oper und Drama proklamierten Ersetzung des Chors durch das Orchester, bleibt zunächst die Merkwürdigkeit festzuhalten, daß Wagner den Bau seines Musiktheaters in erster Linie nach optischen Maßgaben einrichtet. Vom Hören ist in seinem Text zur Bayreuther Grundsteinlegung nicht viel die Rede, wenig auch von der Beziehung zwischen Orchester und Bühne. Die wichtigste Funktion des antiken Chors im Theater, die Veröffentlichung der gesprochenen Rede, kann dem in der Versenkung verschwundenen Orchester schwerlich zugeordnet werden. Das „Auseinanderdriften von Sprech- und Musiktheater“ {{18}}, das Schleef konstatiert, die Manifestation der Trennung von Sehen und Hören im Theater, die Wagner nolens volens vorantreibt, sind keine Abstrakta, sondern ganz konkrete Probleme, die sich dem Theater stellen, insbesondere dem Chortheater, das im Kern dieses Problems arbeitet. Die von Wagner angestrebte Ersetzung des Chors durch das unsichtbare Orchester bleibt für Schleef vor allem auch deshalb problematisch, weil Ausgangspunkt der Überlegungen Wagners, wie er selbst in seiner Rede sagt, seine ,Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ ist. Schleef liest mit und gegen Wagners Theaterentwurf, wenn er analysiert: „Musik ist Dämmerung“ {{19}} . Der Zustand der Dämmerung in Wagners Stücken definiere dessen „Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum“ {{20}}. Von der szenischen Anlage deutet gerade Wagners „Bühnenweihfestspiel“Parsifal, das in Schleefs Golem-Inszenierung auf mehreren Ebenen zitiert wird, auf das Schwinden des Sehsinns. Keine lichten Gestalten, „schattig und ernst“ ist es im Gralswald. Auch die Gralsburg scheint alles andere als ein Ort der Hellsichtigkeit, und gerade zum Ende hin, zur vorgeblichen Erlösung, wird die Szene immer finsterer. An deren permanenter Verdunkelung scheint Wagner geradezu zu arbeiten, Weiheakt und Tragödie sind im hell erleuchteten Bühnenkasten nicht abzubilden.
    Dunkel ist es auch in allen Parsifal-Zitaten in Golem. Die Inszenierung des Golem zeigt Schleefs Wagner-Rezeption auch als Revision, obwohl oder gerade weil er Wagner sehr genau liest. Schleef arbeitet auch hier an den Paradoxien der Theaterentwürfe Wagners: einerseits der vollständigen Ersetzung des antiken Chors durch das moderne Orchester und andererseits dessen Versenkung im Orchestergraben und damit letztlich Abschaffung eines Chorraums im Theater; einerseits die ,gänzliche Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive‘ im Bayreuther Theaterbau und andererseits ständiges Ankämpfen gegen dieselben in der Konzeption der Stücke wie in Bühnenentwürfen; einerseits die Einführung der Arbeitsteilung zwischen Bühne und Orchestergraben und die nicht zuletzt durch das Verschwinden des Chorraums manifestierte Trennung von Sehen und Hören im Theater, und andererseits die vor allem in Oper und Drama formulierten Ideen zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk; letztlich auch das Problem der Gottabwesenheit und auf der anderen Seite der Versuch der Installation einer ,Kunstreligion‘, die ihren Höhepunkt in Parsifal findet, wo alle genannten Paradoxien zusammenzukommen scheinen. Das hier skizzierte Problem des Orchestergrabens ist für ein Theater, das die Arbeitsteilung weiterführt und die Trennung von Sehen und Hören nicht aufhebt, nicht zu lösen. Mit und gegen das große Vorbild Wagner arbeitet Schleefs Chortheater im Zentrum dieses Problems.

    [[4] Vgl. ebd., S. 392. [[4]]

    [[10]]ebd., S. 169[[10]]
    [[11]] im Nebentext als plurale Figur gekennzeichnet: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“. In: Jelinek 1998., S. 167. [[11]]
    [[12]] Berkéwicz 1999, S. 10. Von dieser Fassung abweichender Aufführungstext ist mit * gekennzeichnet. [[12]]
    [[13]] Ebd., S. 14. [[13]]
    [[14]] Ebd., S. 61. [[14]]
    [[15]] Wagner 1950, S. 61. [[15]]
    [[16]] Vgl. Wagner1984, S. 349. [[16]]
    [[17]] Wagner, Richard: „Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth“. Hier zitiert nach: http://www.bayreuther-festspiele.de. [[17]]
    [[18]] Schleef 1997, S. 50. [[18]]
    [[19]] Ebd., S. 74 u.266 f. [[19]]
    [[20]] Ebd., S. 74. [

  12. ebd., S. 169
  13. im Nebentext als plurale Figur gekennzeichnet: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“. In: Jelinek 1998., S. 167.
  14. Berkéwicz 1999, S. 10. Von dieser Fassung abweichender Aufführungstext ist mit * gekennzeichnet.
  15. Ebd., S. 14.
  16. Ebd., S. 61.
  17. Wagner 1950, S. 61.
  18. Vgl. Wagner1984, S. 349.
  19. Wagner, Richard: „Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth“. Hier zitiert nach: http://www.bayreuther-festspiele.de.
  20. Schleef 1997, S. 50.
  21. Ebd., S. 74 u.266 f.
  22. Ebd., S. 74.

“Mitteilbarkeit” und “Exponierung” – Zu Walter Benjamins Auffassung des “Mediums”

1. Ursprung des Mediums: “Mitteilbarkeit” Walter Benjamin gilt heute nicht nur als einer der innovativsten Kritiker des 20. Jahrhunderts, sondern auch als ein bahnbrechender Denker der modernen Medien. Wie es dazu kam ist eine Frage, die mehr als bloß biographisches Interesse hat. Denn – so meine Hypothese – Benjamins Einsichten in die neuen Medien – Film, Radio, Photographie – kamen aus seiner Beschäftigung mit den “alten” Medien. Darunter verstehe ich nicht nur die bildenden Künste und die Literatur, sondern auch abstraktere “Medien” wie Zeit, Raum und Sprache, die vor allem von der Philosophie thematisiert und reflektiert worden sind. Benjamins frühe Schriften beschäftigen sich sehr intensiv mit solchen Fragen, und zwar aus einer Perspektive, die man heutzutage “medientheoretisch” nennen würde. In einer zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, sehr abstrakten Abhandlung von 1916 „Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Mens chen” versucht Benjamin, das Wesen der Sprache gerade in bezug auf ihre “Medialität” zu bestimmen. Aber wie immer bei Benjamin werden alte Wörter – hier: Medium – auf neue Weisen verwendet. Ein Medium also wird herkömmlich von seinem Wortsinn her gedacht, nämlich als eine Mitte oder als ein Mittel: d.h. als etwas, was außer ihm liegende, in sich konstituierte Entitäten voraussetzt. Ein Mittel setzt einen Zweck voraus; eine Mitte einen Anfang und ein Ende, sofern sie zeitlich gedacht wird, während sie aus räumlicher Perspektive als Intervall zwischen zwei Extremen oder Polen konzipiert wird. Alle solche herkömmlichen Auslegungen des Wortes “Medium” – die, wie es mir scheint, trotz McLuhan und der Folgen, die Verwendung des Wortes auch heute immer noch weitgehend bestimmen – werden ausdrücklich von Benjamin in diesem frühen Sprachaufsatz abgelehnt. Es geht ihm also darum, das Medium als ein Mittel ohne Zweck zu denken, wie er auch einige Jahre später sich vornehmen wird, einen politischen Aufsatz zu schreiben, der “Teleologie ohne Endzweck” heißen sollte. Gegen diese Instrumentalisierung der Sprache und des Mediums versucht Benjamin schon 1916, die Medialität der Sprache als “unmittelbar” zu denken, und zwar als eine “Mitteilbarkeit”, die nichts mitteilt als die Möglichkeit, sich mitzuteilen. “Mitteilen” ist hier also nicht als “Kommunikation” im landläufigen Sinne zu verstehen, sondern wörtlich, als eine Art von “Selbstteilung”, wodurch die Sprache sich aufteilt, um sich dann auch verteilen zu können.
Wenige Jahre später wollte Benjamin seine Habilitationsschrift über ein Thema schreiben, das vielleicht über diese “Mitteilbarkeit” Aufschluss gibt: über die scholastische Theorie der modi  ignificandi, der Weisen des Bedeutens (ein Traktat dieses Namens wurde damals dem Duns Scotus zugeschrieben – inzwischen wird es eher Thomas von Erfurt zugerechnet). Doch gerade als er sich an diese Arbeit machen wollte, habilitierte sich ein anderer junger Philosoph über das
gleiche Thema. Der Philosoph hieß Martin Heidegger (der übrigens zur gleichen Zeit wie Benjamin, d.h. 1913, Philosophie in Freiburg studiert hat, ohne dass die beiden sich begegnet sind). Jedenfalls musste Benjamin sich ein neues Habilitationsthema suchen. Er entschied sich für eines, das historisch wie inhaltlich unendlich weit entfernt von seiner ursprünglichen Intention zu sein scheint. Denn die Arbeit, die daraus entstand, behandelte den Ursprung des deutschen Trauerpspiels, d.h. das deutsche Theater des 17. Jahrhunderts.
Was könnte weiter entfernt sein, sowohl von der mittelalterlichen scholastischen Theorie des Bedeutens als vom Versuch, die “unmittelbare Medialität” der Sprache als “Mitteilbarkeit” zu denken, als diese Abhandlung?
Und dennoch schließt Entfernung manchmal Nähe gar nicht aus. Ja, gerade eine solche innige Entfernung könnte sich als eines der Hauptmerkmale des Mediums herausstellen, wie Benjamin es denkt. Um diese Vermutung zu erhärten, genügt es vielleicht, einige Zeilen aus der „erkenntniskritische[n] Vorrede” des Trauerspielbuches zu zitieren. Es geht um die Stelle, wo Benjamin versucht, seinen Begriff des “Ursprunges” zu artikulieren. Es ist durchaus bedenklich und symptomatisch, dass die meisten Interpreten Benjamins kaum auf seinen Ursprungsbegriff näher eingehen: vielleicht, weil der Begriff des Ursprunges später von Adorno so heftig kritisiert worden ist. Für Adorno war “Ursprung” immer nur einer der Grundbegriffe jenes Identitätsdenkens, das er mit Recht als Wurzel von so vielem Übel kritisierte. Bloß hatte dieses Wort für Benjamin, zumindest zu der Zeit, als er über das Trauerspiel arbeitete, einen ganz anderen Sinn: nicht einen mythischen, sondern einen historischen:

Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluss des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungs material hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt werden. In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt auseinandersetzt… (GS I.1, S. 226 –
Hervorhebung von mir, SW)

Ursprung, wie hier beschrieben, ist nicht mit dem absoluten Anfang eines zeitlosen Wesens gleichzusetzen: Er ist “historische Kategorie”, obwohl er “mit Entstehung dennoch nichts gemein [hat].” Er wird von Benjamin hier nicht als Werden eines Wesens gedacht, sondern als etwas “dem Werden und Vergehen Entspringendes”. Wichtig hier, wie auch überall sonst bei Benjamin, ist das sprachliche Detail: nämlich, die Verwendung des Gerundiums, “Entspringendes”. Das Gerundium, wörtlich “das Auszuführende”, stellt die Form des Zeitwortes dar, die auf eine sehr paradoxe weise “präsent” ist. Das Gerundium ist auch die Substantivierung des Partizips Präsens, also hier: “entspringend”. Aber seine Präsenz ist eine sehr eigenartige, weil sie in sich unabgeschlossen bleibt und damit nie ganz bestimmbar. Daher meidet Benjamin an der zitierten Stelle, Ursprung mit einem Artikel zu versehen: weder hier, noch im Titel seiner Buches heißt es “Der Ursprung…” sondern bloß Ursprung: Ursprung des deutschen Trauerspiels, und in dem zitierten Text: “Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie…”. Entspringendes dagegen, obwohl ein Substantiv, weist seiner Struktur nach auf das Partizip Präsens zurück, das heißt auf eine Form, welche die Anwesenheit, die Präsenz, in eine unabschließbare Reihe von Wiederholungen aufteilt und verteilt.

Schon die Morphologie der grammatischen Form des Gerundiums antizipiert also gleichsam den semantischen Inhalt des Wortes, Entspringendes, der durch die darauf folgenden Sätze ausgeführt wird. Diese Sätze besagen, dass “Ursprung” einerseits den Versuch einer “Restauration”, einer “Wiederherstellung” darstellt, andererseits aber als “eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes erkannt” werden will. Entscheidend hier sind wieder die Details, und zwar die knappe Verknüpfung “eben darin”. Gerade insofern als ein Ursprung versucht, einen früheren Zustand wiederherzustellen, zu “restaurieren”, muss er scheitern bzw. “unvollendet”, “unabgeschlossen” bleiben. Denn – hier die implizite Voraussetzung von Benjamins Ausführungen – die Wiederholung kann nie einfach als Wiederkehr des ganz Gleichen gelingen. Warum nicht? Wegen des Mediums, auf welches sie angewiesen ist: das der Zeit. Die Zeit ist hier das Medium auch und vor allem der Veränderung, nicht allein das der Beständigkeit. Und damit unterscheidet sich Benjamins Auffassung des Mediums von der vorherrschenden Meinung, welche seit Aristoteles das Medium als einen Zwischenraum auffasst, wodurch Dinge übertragen werden, die dann aber am Ende das bleiben (oder werden), was sie immer aktuell oder potentiell schon waren. [1]

Doch diese Unabgeschlossenheit des Ursprunges sieht nur aus der Perspektive der Identität wie
etwas Mangelhaftes aus. Aus Benjamins Sicht dagegen wird sie nichts weniger, als die Bedingung aller Geschichte. Allerdings nur insofern diese wiederum nicht als Verwirklichung eines  selbstidentischen verstanden wird, sondern als Eröffnung von Möglichkeiten der Veränderung, des Anders-Werden-Könnens. Diese Möglichkeiten haben daher auch einen anderen Status: Sie bestimmen sich nicht in Bezug auf eine noch zu verwirklichende Identität, sondern als ein Rhythmus, d.h. als eine rekurrierende zeitliche Vielfalt. Diese Vielfalt wird nur einer “Doppeleinsicht” zugänglich, deren Bedingung Benjamin in den folgenden Sätzen ausführt:

Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. Die Richtlinien der philosophischen Betrachtung sind in der Dialektik, die dem Ursprung beiwohnt, aufgezeichnet. Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und Wiederholung durcheinander sich bedingt. Die Kategorie des Ursprunges ist also nicht, wie (Hermann) Cohen meint, eine rein logische, sondern historisch. (GS I.1, 226)

Jene “Doppeleinsicht” darf also nicht so gedacht werden, als ob sie nur die Summe von zwei Einzeleinsichten wäre. Zunächst könnte es so scheinen, als ob Benjamin so etwas meint. Er behauptet, dass der Ursprung zwar nicht über “dem tatsächlichen Befunde” sich erhebt, wie etwa eine platonische Idee, sondern dass er “dessen Vor- und Nachgeschichte” betrifft. Man könnte das so lesen, als ob es sich um die Vor- und Nachgeschichte von etwas handelt, das sich eindeutig identifizieren ließe, einer Wesenheit also. Doch ein bedeutsames Detail zeigt, dass es hier um etwas anderes geht. Denn nachdem Benjamin geschrieben hat, wie man den Ursprung nicht zu denken hat, zeigt er, nicht wie er vorzustellen wäre, sondern vielmehr im Denken anzutreffen. Nämlich als “Einmaligkeit und Wiederholung”. Und zwar nicht, indem Einmaligkeit und Wiederholung als Gegensätze gedacht werden, die sich ausschließen, sondern als Momente, die jeweils durcheinander bedingt werden. Der Rhythmus von “Vorgeschichte” und “Nachgeschichte” besteht also darin, dass das eine, indem es sich wiederholt, zugleich sich verändert.[2] Das Einmalige muss demnach als das gedacht werden, was erst vermöge seiner nachträglichen Wiederholung retrospektiv erkennbar wird. Aus dieser sich immer verändernden Wiederkehr ergibt sich die Beziehung von Einmaligkeit und Wiederholung, welche Benjamin zufolge die Geschichte (als) ursprünglich konstituiert.

Diese Bewegung des Ursprunges als Wiederholung eines Einmaligen, welches sich erst in der
Veränderung zu erkennen gibt, bildet das Urphänomen (oder auch Aura [3]) des Medialen im
Denken Benjamins. Seine eigene Denkbewegung hier ist selbst auch ursprünglich in diesem
Sinne, insofern sie Benjamins frühere Auffassung der Sprache als Medium der unmittelbaren
Mitteilbarkeit [4] sowohl wiederholt wie sie auch verändert. Diese Veränderung wird durch die “Idee” jenes “allegorischen Theaters” bestimmt, als welches Benjamin den Ursprung des deutschen Trauerspieles darstellt. Es handelt sich dabei um ein Theater, das zugleich sprachlich und medial ist, und zwar genau im Sinne des früheren Sprachaufsatzes, wo die Medialität der Sprache als die einer unmittelbaren Mitteilbarkeit bestimmt wird. Dieses bedeutet nun keineswegs, dass das deutsche Theater der Barockzeit nur ein “Lesetheater” sei, oder dass es wesentlich aus einer diskursiven Sprache besteht, sondern dass es sich durch die Möglichkeit bestimmt, sich unmittelbar mitzuteilen: d.h. sich aufzuteilen und zu verteilen. Als “allegorisches” Theater teilt sich das deutsche Trauerspiel  der Barockzeit auf und mit. Doch indem es sich so mitteilt, verschiebt sich seine Bedeutung. Diese Sinnesverschiebung lässt sich jedoch nur nachträglich, historisch, und unvollendet wiederherstellen. Im Einzelnen darauf einzugehen ist hier nicht der Ort. Im Allgemeinen dagegen nennt Benjamin sein Vorhaben die “Darstellung einer Idee”. Diese Darstellung bleibt, historisch gesehen, immer virtuell:

Die Darstellung einer Idee [also in diesem Zusammenhang: “das deutsche Drama der Gegenreformation” (GS I.1, 229) als ursprüngliches Phänomen] kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr mögliche n Extreme nicht abgeschritten ist. Das Abschreiten bleibt virtuell. (ebd., 227)

Das Abschreiten des Kreises, einschließlich “der in ihr [der Idee] möglichen Extreme”, muss virtuell bleiben gerade insofern als er geschichtlich ist: d.h. seine Möglichkeiten lassen sich nicht erschöpfend darstellen oder begrenzen, sie bleiben offen, der Zukunft zugewandt. Zu dieser offenen Zukunft, in der die “Extreme” der Einmaligkeit und der Wiederholung sich in immer anderen Konfigurationen auseinandersetzen, gehört auch “das epische Theater” Brechts.

2. Episches Theater als “zitierbare Geste” oder Einrichtung als Exponierung
Der Aufsatz “Was ist das epische Theater?” scheint performativ das darzustellen, wovon wir gerade gesprochen haben. Denn er spaltet sich in zwei Versionen auf. Der erste wurde 1931 geschrieben und war ursprünglich für die Frankfurter Zeitung bestimmt, die ihn dann aber nicht abgedruckt hat. Erst acht Jahre später nahm Benjamin den Text wieder auf, revidierte ihn und veröffentlichte die neue Version in der Exilzeitschrift Maß und Wert. In diesen acht Jahren hat sich Entscheidendes zugetragen: vor allem die Machtergreifung der Nationalsozialisten und damit dauerhaftes Exil für Benjamin wie für Brecht (und zahllose Andere). Die Unterschiede zwischen den zwei Texten sind also erheblich. Der zweite “wiederholt” den ersten, greift Stellen aus ihm heraus und setzt sie neu zusammen. Am deutlichsten treten solche Veränderungen am Versuch Benjamins hervor, das zeitgenössische Theater als “Podium” zu bestimmen. Der Text von 1931 stellt diese Bestimmung der Bühne als Podium gleich programmatisch an den Anfang:

Worum es heute im Theater geht, lässt sich genauer mit Beziehung auf die Bühne als auf das Drama bestimmen. Es geht um die Verschüttung der Orchestra. Der Abgrund, der die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, der Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Erhabenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, dieser Abgrund, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprunges am unverwischbarsten trägt, ist funktionslos geworden. Noch liegt die Bühne erhöht, steigt nicht mehr aus einer unermesslichen Tiefe auf; sie ist Podium geworden. Auf diesem Podium gilt
es, sich einzurichten. Das ist die Lage.[5]

Die gesamte, darauf folgende Deutung des epischen Theaters steht also, in diesem Text, als Antwort auf die Frage: Wie richtet sich das Theater auf einen und einem Bühnenraum ein, der sich von seinem “sakralen Ursprung” endlich freigemacht hat, weil er nicht mehr durch einen “Abgrund” vom Zuschauerraum getrennt ist, sondern, wie ein “Podium”, zu ihm dazugehört? Gewiss “liegt” dieses Podium “noch erhöht”, steigt aber “nicht mehr aus einer unermesslichen Tiefe auf”. “Das ist die Lage” des Theaters, aber auch über das Theater hinaus, die Lage der Gesellschaft, welcher das Theater angehört.

Dieser programmatische Anfang, dessen apodiktischer Ton an die emphatischen Auftakte der Schriften von Carl Schmitt erinnert (z.B. “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet” [6]), wird im Text von 1939 am Schluss versetzt, wo er einen ganz anderen Stellenwert bekommt:

Worum es dem epischen Theater zu tun ist, lässt sich vom Begriff der Bühne her leichter definieren als vom Begriff des neuen Dramas. Das epische Theater trägt einem Umstand Rechnung, den man zu wenig beachtet hat. Er kann als die Verschüttung der Orchestra bezeichnet werden. Der Abgrund, der die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, der Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Erhabenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, dieser Abgrund, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprunges am unverwischbarsten trägt, hat an Bedeutung immer mehr eingebüßt. Noch liegt die Bühne erhöht. Aber sie steigt nicht mehr aus einer unermesslichen Tiefe auf: sie ist Podium geworden. Lehrstück und episches Theater sind ein Versuch, auf diesem Podium sich einzurichten. (GS II.2, 539)

In der Zeit zwischen 1931 und 1939 hat sich Benjamins Einschätzung der historischen “Lage” jenes “Abgrundes”, welcher “die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet”, wesentlich verschoben. Der erwähnte Abgrund möge zwar “an Bedeutung immer mehr eingebüßt” haben, sei aber noch lange nicht völlig “funktionslos” geworden. Deshalb lässt sich “die Lage” nicht befehlsartig formulieren – “auf diesem Podium gilt es, sich einzurichten” – und programmatisch an den Anfang setzen, sondern erst ans Ende, wo sie den viel bescheideneren “Versuch” des Brechtschen Lehrstückes beschreibt, sich auf dieses Podium einzurichten[7]. Aus dem apodiktischen Anfang des früheren Textes ist das vorsichtige Schlusswort des späteren geworden.

Es ist, als ob sich Benjamin in der Zwischenzeit überlegt hätte, dass die Trennung des Theaters von seinen “sakralen Ursprüngen” gar nicht so unproblematisch vor sich ginge, wie er sich noch 1931 gedacht hatte, und vor allem, dass ihre Folgen gar nicht so eindeutig waren. Mit einer verwandten Frage hatte er sich schon in Bezug auf das deutsche Trauerspiel auseinander gesetzt. “Das deutsche Drama der Gegenreformation” (GS I.1, 229), wie er das barocke Trauerspiel häufig bezeichnet, stelle eine nicht religiöse Erwiderung auf eine religiöse Krise dar, die Benjamin mit dem Lutherschen “Sturm gegen das Werk” (GS I.1, 317) verbindet. Luthers Entwertung des Handelns zugunsten des Glaubens – seine Lehre des sola fides, derzufolge der Glaube allein zur Gnade führe – lockerte zunächst die Verbindung zwischen dem christlichen Heilsversprechen und der Kirche auf. Damit aber würde nicht allein die Kirche in Frage gestellt, sondern zugleich alle Institutionen. Deshalb betrachtete Benjamin die “Gegenreformation” als eine Bewegung, die nicht auf den Katholizis mus allein beschränkt war, sondern die “beide christliche Konfessionen” betraf. Aus dieser Perspektive betrachtet, schrieb Benjamin dem deutschen Trauerspiel der Barockzeit eine doppelte Rolle zu: Es bekämpfte die Melancholie einer entleerten Welt und bestätigte sie zugleich. Denn Benjamin zufolge stellt die Melancholie die Reaktion auf eine Welt dar, in der menschliches Tun und Wollen keine Verbindung mehr zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Sterblichkeit und Auferstehung herzustellen vermochten. Anstelle des Versprechens eines geretteten Lebens gab es nur noch die “maskenhafte Neubelebung” der “entleerten Welt” auf der Bühne durch das Trauerspiel (GS I.1, 318). Doch indem diese Neubelebung “maskenhaft” bleibt, stellt sie keinen Ersatz für eine religiöse Heilsgeschichte. Deshalb das Bedürfnis jener barocken Ostentation, die an die Stelle einer christlichen Verklärung trat, ohne diese einfach ersetzen zu können bzw. auf die Angst und Hoffnung zu erwidern, die sich früher an das Heilsversprechen verknüpft hatten. Gegen die Entwertung der erscheinenden Welt durch den Hinweis auf die Innerlichkeit des Glaubens reagiert das deutsche Trauerspiel mit der Ostentation eines Theaters, welches die eigene Theatralität und Medialität geradezu provokatorisch in den Vordergrund stellt: als Möglichkeit, die zerstörerische Wirkung der Zeit zumindest vorläufig aufhalten zu können, und zwar dadurch, dass die Zeit theatralisch verräumlicht und damit “säkularisiert” wird. Denn für Benjamin fallen diese zwei Begriffe zusammen. Die Zeit wird “säkularisiert”, indem sie theatralisch verräumlicht wird. Als Verräumlichung unterbricht die theatralische Säkularisierung den verderblichen Verlauf der Zeit, wenn auch nur vorübergehend. Der Fortgang der “Handlung” wird suspendiert und durch die episodenhaften Schliche der “Intrige” ersetzt. An die Stelle des heroischen Souveräns tritt der Intrigant.

Viele von diesen Zügen nun finden sich wieder in Benjamins Deutung des epischen Theaters. Die Unterbrechung der Fabel, d.h. des Fortgangs der Handlung, durch Einschübe, die auf “Zustände” hinweisen, welche jene Handlung erst ermöglichen; die Betonung des “untragischen Helden”, der weniger ein Handelnder als ein Denkender ist – dies sind Züge, die Benjamin schon in seiner Diskussion des barocken Trauerspiels herausgearbeitet hatte.

Aber es gibt einen anderen Zug, worauf Benjamin in dem zweiten Text übers epische Theater besonderen Wert legt und in dem wir nichts weniger als den Ursprung des epischen Theaters erblicken können. Es handelt sich um “den zitierbaren Gestus”, wie Benjamin einen der Abschnitte des späteren Textes nennt. Schon in der früheren Version hatte er betont, wie die Unterbrechung der Handlung und der Erwartung, welche das epische Theater auszeichnet, besonders an Gesten hängt: “Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen” (GS II.2, 521). Man sollte einen Augenblick lang bei der Neuigkeit dieser Auffassung des Gestus verweilen: Dieser wird aber gerade nicht von der Seite des Ausdrucks bestimmt; es geht weniger darum, etwas Innerliches, Unsichtbares (wie etwa den Glauben oder das Gefühl) nach Außen zu befördern, um es damit sichtbar werden zu lassen. Das kann zwar bei Gesten vorkommen, bleibt aber für Benjamin nicht das Entscheidende. Entscheidend für ihn ist nicht das Innerliche, sondern das Äußerliche, Räumliche, Relationale. Der Fortgang der Zeit, als Medium von zielgerichteten Bewegungen verstanden, wird durch die Geste unterbrochen aber auch fixiert. Denn “im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute”, so Benjamin, hat die Geste “einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende […]” (GS II.2, 521). Diese Fixierbarkeit der Geste jedoch dient nicht dazu, sie eindeutig bestimmbar zu machen, sondern vielmehr, den Anspruch auf unendliche Bedeutsamkeit, der sonst mit Handlungen und Unternehmungen verbunden wird, einzuschränken. Die Fixierbarkeit der Geste macht diese einmalig, während ihre Zitierbarkeit diese einmalige Fixierung wieder relativiert.

Benjamin übernimmt also die Brechtsche Betonung der Bedeutung des Gestus fürs epische Theater – “Das epische Theater ist gestisch” – und verwandelt sie zugleich, indem er hinzufügt, dass die Geste dennoch nur “sein Material” bietet (GS II.2, 521). Etwas anderes muss also noch hinzugedacht werden, um der eigentlichen Bedeutung des Gestus für das epische Theater gerecht zu werden. Dieses Andere wird aber erst im Text von 1939 formuliert, und zwar in dem Begriffspaar “Zitierbarkeit” und “Fixierbarkeit”. Nicht die Geste allein zeichnet das epische Theater aus, sondern die Tatsache, dass sie von vornherein als “zitierbar” und “fixierbar” aufgeführt wird.

Damit korrigiert Benjamin seine eigene, frühere Bestimmung der Geste als bloße Unterbrechung, welche die Zeit gleichsam suspendiert. Was die Geste unterbricht, ist nicht die Zeit als solche und auch nicht ihre Auffassung als Medium eines zielgerichteten Fortschrittes. Sie tut das, aber sie tut etwas noch bedeutsamer: Sie unterbricht sich selbst. Die Geste unterbricht sich selbst, indem sie sich einerseits fixiert, d.h. an einer ganz bestimmten Stelle vork ommt, während sie als Zitierbares zugleich sich in einer doppelten Verweisung aufspaltet: Als Zitierbares weist sie zugleich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Die “Fixierbarkeit” der Geste wird durch ihre Zitierbarkeit nicht allein unterbrochen, sondern zugleich aufgebrochen. Eine solche Bewegung des sich unterbrechenden Aufbrechens darf aber nicht allein als Mangel gedacht werden:

Man darf hier weiter ausgreifen und sich darauf besinnen, dass das Unterbrechen eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung ist. Es reicht über den Bezirk der Kunst weit hinaus. Es liegt, um nur eines herauszugreifen, dem Zitat zugrunde. Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen. Es ist daher wohl verständlich, dass das epische Theater, das auf die Unterbrechung gestellt ist, ein in spezifischem Sinne zitierbares ist. Die Zitierbarkeit seiner Texte hätte nichts Besonderes. Anders steht es mit den Gesten, die im Verlaufe des Spiels am Platze sind. (GS II.2, 536)

Die Geste ist jeweils “fixierbar”, was ihren Anfang und ihr Ende betrifft: Sie ist an einen Körper gebunden, also an etwas, was notwendigerweise immer irgendwie lokalisiert ist. Aber diese Lokalisierung, besonders auf der Bühne, vollzieht sich nie auf eindeutige Weise, sofern sie “zitierbar” bleibt. Es handelt sich also nicht um ausgeführte Gegebenheiten, sondern um aufführbare Möglichkeiten, Virtualitäten, die sich nie ganz in der Gegenwart verwirklichen oder aktualisieren können. Die zitierbare Fixierbarkeit des theatralischen Gestus bleibt also aporetisch: eine Möglichkeit, die sich nicht allein an ihrer Verwirklichung messen kann. Die Zitierbarkeit ist eine von jenen ursprünglichen “Konstellationen”, in der “Einmaligkeit” und “Wiederholbarkeit” sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. “Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang zu unterbrechen.” Umso gewaltsamer, wenn es nicht allein um geschriebene Texte geht, sondern um körperliche Gesten.

Die konkrete Lösung dieser Aporie heißt also nicht “Verwirklichung“, sondern “Aufführbarkeit”. Eine Geste, die zugleich “zitierbar” und “fixierbar” ist, kann nicht ausgeführt, sondern nur aufgeführt werden. Aufgeführt heißt aber, nicht etwas von innen nach außen auszuführen, sondern es gleichsam aufbrechen zu lassen, zum Aufbruch zu bringen. Etwas bricht auf, aber nur, indem es immer schon dabei ist – vermöge seiner Wiederholbarkeit, seiner Zitierbarkeit – von sich zu scheiden.

Denn wie schon von Benjamin hervorgehoben, geht es hier nicht allein um zitierbare Texte, sondern um zitierbare Gesten. Eine Geste bleibt aber auf einen Körper angewiesen und damit an eine gewisse raumzeitliche Einmaligkeit gebunden. Sie hält nicht ewig, dauert nicht unendlich, bleibt immer irgendwie und irgendwo beschränk t. “Das ist die Lage”. Doch wie liegt diese Lage? Als “Podium”, wie sie Benjamin bezeichnet, liegt sie noch etwas in der Luft. Auf diesem Luftgestell verhalten sich Spieler zum Publikum “wie die Toten” zum “Lebendigen”. Beide sind nicht mehr wie durch eine n Abgrund voneinander getrennt. Und dennoch sind sie nicht identisch. Vielmehr scheiden sie sich, nicht so sehr voneinander als von sich selbst. Denn die Spieler sind lebendig, während die Lebendigen spielen; beide aber werden durch das Spiel zitierbarer, fixierbarer Gesten von ihrem unmittelbaren Vorkommen getrennt. Sie führen sich auf: einmalig und dennoch wiederholbar.

Auf eine solche Lage, auf einem solchen Podium des einmalig- wiederholbaren Scheidens, gilt es, sich einzurichten, und zwar, wie Benjamin im Trauerspielbuch noch schreibt, “mit dem banalen Fundus des Theaters”. Mit dem Fundus eines Theaters also, das nicht mehr verspricht, Apotheose und Heilsversprechen auf die Bühne zu bringen, sondern nur, wie Brechts episches Theater, “auf die große alt e Chance des Theaters zurück[greift] – auf die Exponierung des Anwesenden“[8].

Zu lernen, mit einer derartigen Exponierung umzugehen, ist vielleicht die dringendste Herausforderung, die uns heute durch die Medien, alte wie neue, aufgegeben wird. Es kann aber nur gelingen, dieser Aufgabe gerecht zu werden, sofern wir versuchen, alte und neue Medien in ihrer Verbundenheit und nicht allein in ihrer Verschiedenheit zu denken. Oder, wie Benjamin es vielleicht gesagt hätte: in der wiederholbaren Einmaligkeit ihres geschichtlichen Ursprunges.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Vgl. Aristoteles, Über die Seele, II, 419a.
  2. Später wird Derrida dafür die schwer übersetzbare französische Formel finden, ”tout autre est tout autre”: “Jedes Andere ist gänzlich anders”, aber auch: “Ganz anders ist der ganz Andere”.
  3. Benjamin vergleicht die Aura einmal mit dem Goetheschen Urphänomen.
  4. “Die Sprache … ist unmittelbar dasjenige, was an ihm mitteilbar ist. … Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung”, GS II.1, 142.
  5. GS II.2, 519. Hervorhebung von mir – SW.
  6. Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin : 1985, S. 11.
  7. Es soll bemerkt werden, dass das Wort “einrichten” hier eine doppelte Bedeutung erhält: sowohl zeitlich, sich auf etwas vorzubereiten, wie räumlich, sich in einem gegebenen Raum zu Recht zu finden.
  8. W. Benjamin, „Der Autor als Produzent“, GS II.2, 698. Hervorhebung von mir – SW.

Zu dieser Ausgabe

Diese Ausgabe des jährlichen Online-Journals der Gesellschaft für Theaterwissenschaft thewis erscheint im Vorfeld der Jahrestagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, die vom 12.-15. Oktober 2006 in Erlangen unter dem Thema „Theater und Medien“ stattfindet.
Thema und Gegenstand dieser Ausgabe sind Vorträge, Essays und Gespräche zum Theater von Einar Schleef, der in ganz anderer Weise als es die fachwissenschaftlichen Diskurse zu tun pflegen, mit der Entwicklung seines „Formenkanons“ auf die medialen Implikationen des abendländischen Theaters Bezug nahm.

 

Die Katastrophe als Prämisse. Über Darstellen ‚nach Auschwitz’ anlässlich der STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SEELE

(0)
In Weimar am Theater zu arbeiten heißt, sich über die Konventionen von Metaphern anders auseinander zu setzen als anderswo. Das liegt an Buchenwald. Der Allpräsenz dieser deutschen Geschichte entkommt in Weimar niemand, schon gar nicht auf dem Theater. Wenn man ein Zug-Geräusch in irgendeine szenische Situation einbaut, sind es die Züge ins Lager, wenn man auf den Eisernen Vorhang Feuer projiziert, sind das die Öfen. Ob man das so verstanden wissen will, ob man das meint oder nicht. Das ist so. Es liegt also nahe, sich mit Buchenwald auch bewusst auseinander zu setzen, sich diesem Ort auszusetzen und das Gespräch darüber, die Begegnung, nicht nur punktuell, sondern kontinuierlich zu suchen. Aus dieser Auseinandersetzung über einen langen Zeitraum entstand der Wunsch, dieses Sich-aufeinander-zu-Arbeiten einmal schriftlich zur Diskussion zu stellen. Die Arbeit an den STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SEELE I UND II, in denen die Fragen des Gedächtnisses, des Erinnerns und der Möglichkeit von Darstellung nicht nur implizierend mitgeführt, sondern thematisch gemacht wurden, war also nicht Grund, sondern vielmehr Anlass zu dem hier vorgelegten Versuch. Der deutlichen Zweiteilung dieses Textes liegt nicht eine Zweiteilung des Denkens zugrunde, sondern eine – vorläufige – Gelegenheit der Organisation des Schreibens.

(1)
Noch einmal:

Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.[1]

Mit seinen Ausführungen über Auschwitz, besonders im Spätwerk NEGATIVE DIALEKTIK, bringt Theodor W. Adorno die Philosophie in die Lager, wobei mit Auschwitz von Beginn an das System der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager pars pro toto bezeichnet wird. Es sind trostlose, selbstzerfleischende Ausführungen, die bestreiten, dass Philosophie die Ereignisse in den Lagern aufnehmen und erklären könne. „Nach Auschwitz“ meint bei ihm nichts weniger als das gegenwärtige abendländische Denken und Leben, zunächst einmal aber das Sprechen über die Shoah: „Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.“[2]

Die Gedanken, welche diese Sätze in Adornos übergreifend kulturkritischen Texten tragen, zielen nicht darauf ab, moralische Urteile zu erlassen oder Handlungsanleitungen zu geben, etwa ein Lyrikverbot. Vielmehr problematisiert Adorno in einer damals wie heute ungewohnten Dialektik Darstellbarkeit, indem er ausdrücklich theoretische Erkenntnis als Teil der „Barbarei“ einer Kultur nach Auschwitz bezeichnet. Das Denken solcher Zusammenhänge von Kultur und „Barbarei“ wirkt verstörend, vor allem in Situationen, in der eigene Kultur oft genug als Bestätigung für fremde „Barbarei“ gelten soll. Und verstörend wirkt auch der schwierige Begriff der Barbarei sowie die Drastik von Adornos Formulierungen: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“[3] Adorno kritisiert die Kultur einschließlich ihrer Kritiker, die sich außerhalb des Kritisierten wähnen. Er begreift die Gesellschaft als einen total gewordenen Schuldzusammenhang, gerade in Zeiten des Wiederaufbaus und einer Normalisierung, die er zu verunsichern sucht. In zu vielen Darstellungen und durch interpretatorische Sinnzuschreibungen der Shoah sieht er die Gefahr, dass sich die Erinnerung an Auschwitz in ihr Gegenteil verkehren könne, ja dass sich Auschwitz vergessen ließe, und dies auf dem Weg seiner ästhetischen Banalisierung durch eine alles vereinnahmende Kulturindustrie.

Auf eine solche Kritik der massenhaften medialen Darstellungen der Shoah als eines falschen, von Geschichte entfremdenden Umgangs mit dem Wissen um die Shoah sowie auf die Kritik der öffentlichen erinnerungskulturellen Routinen und Rituale zielt Adornos Begriff der Undarstellbarkeit – Kritik innerhalb einer Aufklärung also, die in einen reformulierten kategorischen Imperativ mündet, nämlich „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“[4].Adornos aufklärerische Ausführungen zur Darstellbarkeit respektive Undarstellbarkeit von Auschwitz – die wiederum selbst geradezu ein „Katalysator für Darstellungen“[5] der Shoah sind – haben nichts mit der Behauptung einer Nicht-Darstellbarkeit der Shoah zu tun, vielmehr sollen sie ein Denken ermöglichen, das Auschwitz nicht mythisiert oder sakralisiert, sondern als im historischen Kontext Geschehenes benennt; es nicht eskamotiert, sondern als von Menschen an Menschen Begangenes bestimmt. Es gilt, nach gesellschaftlichen Bedingungen, politischen Prozessen, kulturellen Zusammenhängen und Weltbildern zu fragen, nach Strukturen somit, in denen Auschwitz möglich war und welche nach wie vor wirken. Derlei Einsichten fordern nicht Erlösung, nicht Versöhnung, sondern unbedingte, gegenwartsbezogene Selbstreflexion. Noch kurz vor seinem Tode schreibt Adorno:

Nachdrücklich ist hervorzuheben, dass Erziehung nach Auschwitz gelingen könnte nur in einer Gesamtverfassung, welche nicht länger die Verhältnisse und die Menschen hervorbringt, die an Auschwitz die Schuld tragen. Jene Gesamtverfassung hat sich nicht geändert; fatal, dass jene, welche die Veränderung wollen, dagegen sich verstocken.[6]

In Jean-François Lyotards Versuch, Auschwitz zu denken, gerät Auschwitz zum Psychodrama der europäischen Zivilisation. Auschwitz – auf kultureller Ebene längst ein emblematisches Ereignis für den Niedergang der Ideale der Aufklärung und geschichtsphilosophischer Inbegriff eines Zivilisationsbruchs – spiegelt das Unbestimmte der Ereignisse und der Schwierigkeit, sie zu erfassen und darzustellen, wider. In seinem Hauptwerk DER WIDERSTREIT verweist Lyotard auf das Unbestimmte von Auschwitz:

Mutatis mutandis ist das Schweigen, das das Verbrechen von Auschwitz dem Historiker abverlangt, für die Mehrzahl der Menschen ein Zeichen. Die Zeichen […] sind keine Referenten […]; sie zeigen vielmehr an, dass etwas, das in Sätze gebracht werden muss, in den geltenden Idiomen nicht artikuliert werden kann […]. Das Schweigen, das den Satz Auschwitz war ein Vernichtungslager umgibt, ist kein Gemütszustand, sondern ein Zeichen dafür, dass etwas Ungeäußertes, Unbestimmtes zu äußern bleibt.[7]

Das Unbestimmte zeigt sich im Wesen der Geschehnisse selbst und im Idiom ihrer Darstellung. Lyotard präzisiert die Frage nach einem Gedächtnis, das seine eigene Unvollständigkeit mit derjenigen historischer Ereignisse vermittelt. Im Rückgriff auf Sigmund Freuds Vorstellungen über die Arbeit der Verdrängung und die Anamnese als unendlicher Aufgabe begründet er Auschwitz als Ereignis, das nicht in die Historie einzuordnen ist.

Lyotard warnt vor Gewissheiten, denn jede scheinbare Gewissheit, die Geschehnisse und ihre Repräsentationen erklärt zu haben, umschließe schon das Vergessen der Ereignisse. Aus dergleichen „vollständiger Erinnerung“ erwachse also eine Variante des Vergessens, im Gegensatz zum Verwischen sämtlicher Spuren, weshalb Vergangenes in der Schwebe gehalten gehöre. Und gegen solche Aufhebung des Vergangenen mahnt er an, in keiner Darstellung den Rest des Undarstellbaren zu vergessen. Das bedeutet auch hier keine wohlfeile Behauptung einer Nicht-Darstellbarkeit der Shoah, sondern die Notwendigkeit von Darstellungen, die ihre eigenen Grenzen zeigen müssen. Weitere Motive der Negativen Dialektik Adornos aufnehmend fragt er – nicht wenig erinnerungskulturkritisch: „Folgt andererseits aus der Annahme, dass ‚nach Auschwitz’ der spekulative Diskurs zu Tode gekommen ist, dass er lediglich dem subjektiven Geschwätz und der Bosheit der Bescheidenheit das Feld überlässt?“[8]Die Formulierung „nach Auschwitz“ in den Versuchen Adornos und Lyotards, ein Danach mit Auschwitz als nicht-akzidentieller, unabschließbarer Wunde zu denken und zu schreiben, meint neben der Frage nach der Möglichkeit von Zeugenschaft auch eine zeittheoretische Frage nach dem Tod und nach der Problematisierung jeglichen Resultats einer spekulativen Dialektik. Was nach Auschwitz nicht mehr möglich scheint, ist die Logik der Versöhnung. Eine Nicht-Kommunizierbarkeit unterbricht den ‚schönen Tod’, wie ihn die geschichtsphilosophische Dialektik als etwas Vollendbares zu begründen sucht. Lyotard betont, dass die Schuld der unendlichen Anamnese eine Begrenzung des Kommunizierbaren und damit des Gemeinschaftlichen besagt. „Unvereinbarkeit statt obsessioneller Kommunikationszwang – so lautet Lyotards Plädoyer für eine unzeitgemäße Differenz.“[9]

In seinem Vortrag LYOTARD UND WIR und wir erprobt Jacques Derrida, im Gedenken an Lyotard, ein Jenseits von Tod und Trauer auszuloten. Derrida bezieht sich ebenfalls auf Adornos NEGATIVE DIALEKTIK: „Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.“[10].Schlimmer als der Tod sei der Tod, weil keine Gelegenheit zur Trauer bestünde, weil Zeugenschaft verunmöglicht sei. Nach Lyotard liege die neue Form des Todes darin, den Tod absolut zu machen, so dass keine Spuren zurück bleiben. Menschen sterben in Auschwitz keinen normalen Tod, einen, der noch irgendwie Sinn macht, sondern einen absoluten Tod, der nicht nur Menschen auslöscht, sondern auch ihre Namen. In Auschwitz ist der Tod die Regel für jene, die zu den zur systematischen Tötung vorgesehenen Gruppen von Menschen gehören, wie Juden, Zigeuner, Kranke: die extreme Form des Genozids, gekennzeichnet durch ideologische Ausschließlichkeit, globale Reichweite und Orientierung auf totale Vernichtung – ein Akt abgründiger Brutalität. Dieser Tod in den Konzentrations- und Vernichtungslagern bringt überlieferte Kategorien durcheinander, kein geläufiges Bild, keine gewohnte Sprache kann angemessen sein. Deshalb, so Derrida, kann es keine Trauer geben, und dennoch habe Lyotard recht, wenn er sagt, dass „die massenhaft hingerichteten Juden, abwesend, gegenwärtiger als jedes Gegenwärtige sind“[11].

In seiner Arbeit zu Walter Benjamins ZUR KRITIK DER GEWALT widmet sich Jacques Derrida der spekulativen Frage, wie Benjamin von der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ gesprochen haben würde. Folgt man mit Derrida einem „Benjaminschen Diskurs“, dann zeigt sich, dass gerade nach Auschwitz

nicht nur der Diskurs, die Literatur und die Dichtung keineswegs unmöglich sind, sondern sogar ursprünglicher und eschatologischer denn je die Bestimmung erhalten, sich von einer Rückkehr oder einer – noch – versprochenen Ankunft der Namensprache (einer Sprache oder einer Poetik des Beim-Namen-Rufens, die sich der Sprache der Zeichen, der informativen oder kommunikativen Repräsentation widersetzt) bestimmen zu lassen[12].

Derrida stellt Benjamins messianischen Erwartungshorizont in Frage und erteilt der von Benjamin entfalteten eschatologischen Dimension einer göttlichen Gerechtigkeit jenseits von Recht und Staat eine deutliche Absage, haben doch die politischen Konsequenzen aus solcher Utopie im Nationalsozialismus ihre Monstrosität offenbart, deren zynischste Vorstellung es noch wäre, „dass man den Holocaust als Entsühnung und unentzifferbare Signatur eines gerechten und gewaltsamen göttlichen Zorns deuten könnte“[13]. Exakt dagegen setzt Derrida auf Vermittlung durch sprachliche Auseinandersetzung und auf Verantwortung, die wirksames Eingreifen ermöglicht:

Ich weiß nicht, ob man dieser namenlosen Sache, die man Endlösung nennt, etwas entnehmen kann, was sich als Lehre bezeichnen lässt. Gäbe es aber eine solche Lehre, eine einzigartige Lehre unter den stets einzigartigen Lehren, die man aus einem besonderen Mord, aus allen kollektiven Vernichtungen der Geschichte ziehen könnte (jeder individuelle Mord, jeder Kollektivmord sind ein Singuläres, sie sind also unendlich und unvergleichbar), so wäre die Lehre, die wir heute daraus ziehen könnten (und wenn wir sie ziehen können, müssen wir es auch tun), die, dass wir die mögliche Mitschuld all dieser Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht, denken, erkennen, vorstellen, formalisieren, beurteilen müssen.[14]

Seit der Shoah, so Derrida ganz ähnlich wie Adorno und Lyotard, diktiert die „Endlösung“ das Denken. Die Shoah ist geschehen, und insofern sie geschehen ist, hört sie nicht auf, als was auch immer wiederzukehren und alles zu affizieren. Die radikalen Aufklärer Adorno, Lyotard und Derrida fordern eine stetige Beschäftigung mit der Bedeutung des erinnerten Geschehens und eine Positionierung in genau dieser Beschäftigung und damit gegenüber Geschichte und Politik. Darin eint sie auch die Sorge um die Möglichkeit des Vergessens von Dingen, gerade weil sie erhalten werden – das Wissen um das Risiko, das zu entleeren oder zu verlieren, was man erhalten möchte.

Die (philosophischen) Debatten um Darstellung und Interpretation der Shoah verhandeln die Möglichkeit der Angemessenheit von Vermittlung dessen, was gemeinhin als ungeheuerlich, unbegreiflich, unsagbar, unbeschreiblich, einzigartig bezeichnet wird. Gleichzeitig gibt es unablässig mehr Stimmen, Geschichten, Texte und Bilder, die sich bemühen, immer gründlichere Wirklichkeiten der Shoah zu erlangen und zeigen, dass dies sehr wohl gelingt. Neue Begriffe werden gefunden, die, wie unzulänglich auch immer, das Debakel der Normen und die Dimension des Leidens ausdrücken. Bei allen Problemen der Darstellung historischer Ereignisse, bei allen Schwierigkeiten des Verständnisses von Historie generell, bleibt doch, dass zwischen den Geschehnissen und den Mitteln ihrer Darstellung eine wechselseitige Beziehung besteht. Genau diese Interdependenz dient dem Verständnis und bedingt die Notwendigkeit der Darstellungen, durch die überhaupt erst ein Bewusstsein von Historie – und deren Verdrängung – möglich wird. Die Tatsache, dass Darstellungen von Auschwitz vielfach existieren, ist Vorbedingung für die Auseinandersetzungen mit den Darstellungsformen. Begleitet werden die Auseinandersetzungen, etwa die unumgängliche Bewertung der Darstellungen nach historischen, ästhetischen, moralischen und pädagogischen Kriterien, von Fragen prinzipieller Darstellbarkeit und damit Vorstellungen einer Undarstellbarkeit. Doch ist die Rede von der Undarstellbarkeit selbst schon eine Darstellung der Shoah: Eine Rede, die auch darauf beharrt, dass die Beschäftigung mit der Shoah nicht abzuschließen ist, dass Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit mithin in der Reflexion über die Shoah ein unentbehrliches Mittel zum Verständnis oder zumindest Missverständnis ist.

Immer schon trägt die Rede von der Undarstellbarkeit selbst zu einer Umdeutung der Shoah bei und ist von Anbeginn an mit der Potenzierung populärer Darstellungen besonders innerhalb der massenmedialen, auch konsumorientierten Vermittlung von Auschwitz verwoben. Angesichts solcher Formen einer ‚Auschwitz-Kultur’ formuliert Jean-Luc Nancy:

Man muss deshalb hören, man muss all das hören, was gesagt wird, alles, unablässig. Man muss die unaufhörliche Wiederholung hören, die Diskussion über das Darstellbare und Undarstellbare, über die Poesie und ihre Unmöglichkeit, über die Fiktion und ihre Nichtannehmbarkeit, und auch alle Debatten über die begründeten oder zweifelhaften Vergleiche, wenn man hier von einem ‚neuen Holocaust’, dort von einem ‚neuen Hitlerismus’ und überall von ‚Genozid’ spricht. Man muss genau dieses Innehalten, dieses Stocken und fast dieses Ersticken unserer Reden durch eine quälende, wachsende – man könnte fast sagen ‚totalitäre’ Präsenz hören.[15]

Soll der paradoxen Gefahr, dass gerade die quantitativ und qualitativ mannigfaltigen Darstellungen der Shoah es sind, die Angst vor einem Vergessen – durch Überdruss gewissermaßen – auslösen, begegnet werden, kann das Motiv, Auschwitz als undarstellbares Ereignis anzudenken, tatsächlich beständig Kraft gewinnen, weil es die aufklärerische Beschäftigung mit der Shoah verstetigt. Genauso gebrauchen Adorno und Lyotard im Spannungsfeld ihrer Kulturkritiken diese Denkfigur, ähnlich wie Derrida in der Dekonstruktion als seiner Form einer Aufklärungskritik, die im Namen einer kommenden Aufklärung fortschreitet.

Adorno wie Lyotard fordern dabei die Hinwendung zur Kunst, so, als ob Kunst immer schon dazu dient, Darstellungsformen zu schaffen, die blockierte Wege der Vermittlung öffnen und dadurch eine wahrhaftige Erinnerung an Leiden wiedergewinnen könnten. Adorno unterstreicht die Möglichkeit der Kunst, das Undarstellbare darzustellen – entsprechend der Vorstellung von Kunst als einer symbolischen Form. Er lässt nicht ab vom Anspruch der Kunst, wahr zu sein und bestimmt Kunst als absolut selbstreflexiv, was ihren Bezug zur ‚Barbarei’ und ihre Verstrickung in Schuldzusammenhänge fortwährend einschließt. Ganz ähnlich Lyotard, der, an der Psychoanalyse orientiert, kulturelle Ausschlussmechanismen und Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens – das Verdrängte und das individuell Traumatische bei Freud – als Ursache für Undarstellbarkeit thematisiert und mit dem Begriff der Undarstellbarkeit auf das vom Subjekt nicht Fassbare verweist. Er postuliert eine Kunst, die durch ihren Ereignischarakter den Menschen überfordert, eine Kunst, die keinen Erfahrungen gemäß einzuordnen ist. Kunstwerke sollen auf die Grenzen symbolischer Formen und auf die Ausschlüsse, die durch die Gültigkeit der einzigen, ‚vollständigen’ Erzählungen entstehen, aufmerksam machen. Gefordert ist also eine Kunst als Erkenntnisakt, die das kritische Wissen um Undarstellbares in die Darstellungen aufnimmt, den Begriff der Undarstellbarkeit gerade nicht zu Entlastungsstrategien wie Lyrik- oder Bilderverboten dehnt, sondern schlicht die Formen der Darstellungen stetig neu reflektiert.

(2)
Dass die Frage nach der Darstellbarkeit respektive Undarstellbarkeit von Auschwitz kritisches Potential birgt, belegt nicht zuletzt eine jahrzehntelange, wechselvolle, beschreibbare Geschichte der Erinnerung zum Beispiel in Deutschland, vor deren Hintergrund vieles weniger neu erscheint. Kultur und Gesellschaft verändern sich, inklusive des Wissens um die Shoah und der Bedingungen der Darstellungen. Kultur lässt sich dabei vielleicht noch weniger als je zuvor als sicheres Reservat begreifen. Nimmt man sie ernst, muss man an sie vielmehr eben genau die Maßstäbe anlegen, die sie selbst hervorgebracht hat. Und weil gerade die Geschichte Weimars und Buchenwalds paradigmatisch verdeutlicht, dass ein logischer Gegensatz zwischen Kultur und ‚Barbarei’ nicht behauptet werden kann, ist es nur schlüssig, einen Versuch, die ‚deutsche Seele’ zu beschreiben, genau in diesem deutschen Symbolort zu beginnen. Dies unternahmen in den Jahren 2009 und 2010 am Deutschen Nationaltheater in Weimar die Hausregisseurin Nora Schlocker und die Autorin Tine Rahel Völcker. Im Vorfeld der zu feiernden deutschen Einheit näherten sie sich mit Schauspielerinnen und Schauspielern, Chefdramaturgin, Ausstatterin und Assistenten dem Kulturraum Weimar und Buchenwald. Sie spürten der Kunst und Kultur in diesem sich humanistischer Aufklärung und zivilisatorischen Fortschritts rühmenden Ort nach, recherchierten zum Umgang mit dem Erbe und dem Mythos von Weimar zu Zeiten der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus sowie zum Gebrauch deutscher Kultur als ausgrenzendem Mittel. Sie arbeiteten vor Ort in Weimar, besuchten all die Institutionen, stritten, schrieben, probten, ließen den ambivalenten Ort an sich zerren – nicht selbstquälerisch, sondern ihn sich offensiv aneignend. Sie entwickelten ein Bühnenstück.

Die Frage am Beginn der Arbeit an den Stückentwicklungen war – und ist es vielleicht jedes Mal, wenn man ausgehend von einer Idee, einer Frage zu einer performativen Arbeit sich durchwühlen will und das im Vorwärtsdrängen und im Zurückschauen nur kann – also sprunghaft und nicht linear (so wie auch der Bericht darüber im Nachhinein in Sprüngen, Auslassungen, Einfügungen sich nur präsentieren kann): Wie kommt man von der Idee, von der Theorie zur Erzählung. In diesem Fall durch das vielleicht, was in Jacques Derridas „Asche als Haus des Seins […] Deine Vorsicht ist naiv“[16] von Martin Heideggers Satz „Die Sprache ist das Haus des Seins“[17] durchstrahlt. Heidegger schreibt 1947:

Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen einer Handlung ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist.[18]

Noch mal: Es ist die Suche nach einer Sprache für die Konstellation, in der wir uns befinden, in die wir hineingeboren, in der wir ‚gelandet’ sind, die Beschreibung dessen, was vor uns war und was wir demzufolge in uns suchen, die Beschreibung dessen, was wir nicht wissen. Unsere Vorsicht war naiv.

Der Anlass, über eine Stückentwicklung nachzudenken, war der 20. Jahrestag des sogenannten Mauerfalls: Was kann, was soll ein Theater tun, um so eine Zahl zu begehen? Menschen in der unmittelbaren Umgebung, im Theater selbst, in Weimar über ihre Wahrnehmung dieses Jubiläums zu befragen war ein aller erster Anfang. Beim Lesen, Herumfragen, Recherchieren schien es, dass der Mauerfall ein Thema ist, das den Westen viel mehr interessiert als den Osten. Der Fokus verlagerte sich dann auf die Auseinandersetzung mit der Situation: Wo ist man eigentlich, wo, an was für einem Ort macht man Theater und wer ist man im Verhältnis zu dem, was man vorfindet? Der Plan wurde es, mit zwei Stückentwicklungen unter dem Arbeitstitel DEUTSCHE SEELE I UND II einen großen Bogen zu erzählen: Ausgehend von Weimar während der Weimarer Republik über Buchenwald bis in die Weimarer Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Besatzungs- und DDR-Zeiten. In zwei Schritten, zwei Stückentwicklungen, zwei Abteilungen. Denn sehr schnell wurde erstens deutlich, es geht um Deutschland, nicht nur um Weimar, und zweitens, dass mindestens zwei ‚Ablieferungen’ entstehen würden; die erste, die sich zwischen 1919 und 1945 abspielen würde, und die zweite, die die Anfänge der DDR und ihrer Krisenhaftigkeit betrachten sollte. Es schien nur konsequent, im Wissen um die Geschehnisse 1989/90 in der Zeit der Weimarer Republik einzusetzen. Der zweite Teil war für den Herbst 2009 geplant und fand mit den gleichen Spielern (Xenia Noetzelmann, Philipp Engelhardt, Florian Jahr, Philipp Oehme) plus einem weiteren (Simon Zagermann) statt. Die Entwicklung von ein paar der Figuren aus dem ersten Teil wurde nach 1945 und in der DDR weiter untersucht, andere wurden fallengelassen, neue dazu ‚erfunden’. Vom ersten Teil, (K)EI(N)LAND (Uraufführung Ende April 2009), soll hier die Rede sein.

Tine Rahel Völcker, eine junge Autorin, deren Arbeitsweise es ist, sich sowohl mit der Regie, der Dramaturgie, der Ausstattung als auch mit den Schauspielern auseinander zu setzen, kam aus Berlin dazu. Sie las, verleibte sich dabei ein unglaubliches Pensum und Spektrum innerhalb kürzester Zeit ein, ventilierte das, plagte sich, schrieb, bestellte mehr, gab zu lesen, besprach Faszinationen und Schwierigkeiten, hörte zu, schrieb den Spielern ihre Rollen auf den Leib; sie mochte sich nicht nur auseinandersetzen, sie wollte einbeziehen. Die Regisseurin Nora Schlocker, Tine Rahel Völcker und die Schauspielerin Xenia Noetzelmann waren für die ersten Wochen der Recherche der Nukleus der Stückentwicklung STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SEELE I. Die Annäherung an mögliche Themenfelder und Zeitabschnitte wurde danach mehr und mehr zur gemeinsamen Arbeit aller. Es ging um Weimar als geradezu mystischen deutschen Ort in seiner Beschwörung von ‚klassischem Erbe’, seinem engen Geflecht von Kultur mit Politik und seiner nationalen, identitätsstiftenden Wirkung. Das Stück beginnt noch im Kaiserreich und endet in Buchenwald. Begibt man sich in die Geschichte Thüringens in der Weimarer Republik, zeigen sich fast wie von selbst etliche Parallelen zu einer Gegenwart, in der es vor allem um das Konstruieren und Beschwören nationaler Identität und nationaler Stärke geht. Auch in den 1920er Jahren wehrte sich eine Mehrheit in Deutschland gegen ein Bewusstsein von Schuld und beschwor stattdessen das Recht auf nationale Stärke.

Es war absolut erstaunlich, einzudringen in die Tatsache, dass die Wege der Menschen, die sich aus irgendeinem Grund nach Weimar begeben haben, um dort zu leben, zu arbeiten, ihre Netzwerke und Seilschaften zu knüpfen, sich immer wieder auffällig kreuzen, als Vorläufer, Nachfolger, Mitarbeiter, Anhänger, Gegner und Feinde. Selbst da, wo sich direkte Begegnungen nicht nachweisen lassen, braucht es höchstens immer noch einen anderen Namen, um die Verbindung zwischen zweien wieder herzustellen, die wiederum auf dritte und vierte verweisen – es waren Kulturkämpfer, nicht Kulturpessimisten, und das erste, was sie damals organisierten, waren die eigenen Treffpunkte als rechtsintellektueller Boheme.

Die Epoche der Weimarer Klassik erfüllte alle zeitgenössischen Sehnsüchte nach einer integralen Kultur, die man in der eigenen Gegenwart so schmerzlich vermisste. Und in dieser Sehnsucht nach einer einheitlichen, organischen, erhebenden und würdigen Kultur trafen sich Katholiken, Protestanten, Neuheiden und Freireligiöse, deren kulturelle Entwürfe immer je in anderer Akzentuierung mit der Trias Antike, Christentum und deutschem Volkstum jonglierten. Dass diese ganzheitlich ersehnte Kultur die gleiche Orientierungsleistung wie einstmals die christliche Religion vollbringen sollte, ist vielen Texten jener Zeit direkt anzumerken.[19]

Die Verbissenheit, mit der konservativ-nationale Kräfte ihr Weimarer Erbe verteidigten, hatte auch damit zu tun, dass sie mit der angeblich bedrohten Substanz der Nationalkultur zugleich ihren eigenen Status als privilegierte Deutungselite eben dieses Erbes verteidigten. Das Nachvollziehen unendlich vieler einzelner Biographien, die sich als wirklich ‚einzeln’ kaum je erfassen ließen, war ein erster Schritt. Die Zusammenhänge zwischen den politischen Parteien zu verstehen ein zweiter; Zeugen der Zeit persönlich zu befragen ein nächster.

Die ersten vierzehn Tage der Proben bestanden im Wesentlichen aus Gesprächen und Auseinandersetzungen über aktuelle und historische politische Überzeugungen. Das alles grundierende Problem aller war während der gesamten Zeit: Wie beziehe ich diese Zeit, die politischen und gesellschaftlichen Debatten, Fragen und Widersprüche, die Dilemmata der Menschen, über die ich lese, auf mich selbst als jemanden, der heute lebt, der nicht weiß, nicht dabei war? An der Frage Wie würde ich entscheiden, was würde ich gedacht, getan, gefühlt haben? entzündeten sich die heftigsten der Streitereien.

Um sprachlich dies überbordende historische Material bearbeiten zu können, habe ich nach einer Fläche gesucht, auf der die Auseinandersetzung mit diesem riesigen Thema ‚Deutsche Seele’ stattfinden kann, und die mir die Möglichkeit eigener Deutungsversuche und Provokation eröffnet. Eine Fläche, die einerseits dieses Riesending zu fassen vermag – also einengt – gleichzeitig aber ein Verweissystem und einen Kontext eröffnet zu früheren und späteren Phänomenen deutscher Kulturgeschichte und einen freien Umgang damit gestattet. Warum und wie auch immer – bin ich im Zuge dieser Arbeit also auf die Nibelungensage gestoßen, wo es interessante Parallelen gibt oder Reibungspunkte zum Beispiel zwischen Becher und Siegfried (der Anti-Held, der in tausend widersprüchliche Regungen zerrissene Becher, der an sich den Anspruch eines deutschen Heldenlebens stellt, einer Einheit und Klarheit und Stärke – Siegfried. Und auch Bechers ständiger Begleiter: der Tod, den Becher immer wieder herausfordert, bis er sich selbst beinah unbesiegbar und unsterblich glaubt). Oder zwischen der Anarchistin und Brunhild (die wild und unbezähmt und eigengesetzlich auf ihrer dunklen Insel haust – und nur mittels eines Tricks von den Männern in deren Welt und Herrschaftssystem entführt werden kann).[20]

Für Tine Rahel Völcker entstanden im Laufe ihrer eigenen und der Auseinandersetzungen in der Gruppe ‚Anti-Figuren’. Die Recherchen führten unweigerlich zu historischen Vorbildern, die in Figuren verwandelt – zum Teil biographisch, zum Teil zusammengeschmolzen aus Lebensgeschichten mehrerer Menschen – exemplarisch für bestimmte Vorgänge und Haltungen stehen. Völcker beschreibt das selbst so:

Diese Figuren, oder Anti-Figuren, drehen sich zwar alle um einFeld und um ähnliche Fragen, sind jedoch im gegenwärtigen Stadium nicht in eine gemeinsame geschlossene Stückhandlung zu verweben. Und ich möchte ihnen auch nicht den Zwang dazu auferlegen. Wenn das geschieht – in Ordnung. Wenn sie aber nur vereinzelt aufeinander treffen – ebenfalls in Ordnung. Im Zentrum meines Interesses bei der Vorbereitung stand und steht nicht das Konstruieren einer dramatischen Handlung (Story), sondern eben das Untersuchen der Lebens- und Gedankenwelten dieser – zumeist – Kulturmenschen und Künstler, im Weimar (und Thüringen) der Weimarer Republik und weiter der Nazizeit.[21]

Es sollten der Kontext der handelnden Figuren, ihre Verstrickungen aufgezeigt und die Hintergründe skizziert werden, wie sie zu ihren Haltungen, ihren Handlungen kamen. Anti-Figuren, die, soweit man das überhaupt überschauen kann, allesamt meinten, ‚das Richtige’ zu verfolgen. Figuren, die einem dabei immer wieder außerordentlich unsympathisch oder zumindest unangenehm sind – wovor man aber nicht weglaufen soll und sich in nette, liebenswürdige Identifikationsfiguren flüchten, weswegen also vorbeugend die Figuren von Anbeginn Anti-Figuren genannt wurden. Es sollte versucht werden, das Handeln und die Überzeugungen der Figuren nüchtern zu betrachten, sich dazu in alle Logik hineinzubegeben, das Schwärmerische – auch – in seiner Entstehungsgeschichte und von seinen Ursprüngen her (soweit die einsehbar sind) zu beachten, um vielleicht besser die Zusammenhänge zu erkennen, in denen die Figuren stehen – und letztlich eine Auseinandersetzung über die Zusammenhänge, in denen man gegenwärtig steht (und arbeitet) zu erreichen. Deshalb „Studie“. Dass es sich bei den Texten um Bühnentexte handelt, also Studie eine Studie für die Bühne meinte, steht außer Frage.

Ein schwieriger Balanceakt für die Spieler war es, nicht mit Figurenteilen ‚tatsächlicher’ Menschen (zum Beispiel Johannes R. Becher, Elfriede Lohse-Wächtler, Hans Severus Ziegler, Hans Wahl) zu verschmelzen, sie sich einerseits nicht einfach zu eigen zu machen und andererseits den Kern ihrer Auseinandersetzung mit diesen Figuren in sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Die Frage aller Fragen dabei: Wie spricht man einen Text, ohne ihn restlos in faulem Theaterzauber zu ‚verkörpern’, wie sagt man ihn denkend, wie so, dass der Zauber der Verwandlung passiert, aber nicht zur Illusion verkommt? Wie gestaltet man die Sichtbeziehung zum Publikum so, das weder Angst und Unbehagen auf beiden Seiten die Folge sind, wie sucht man gemeinsam, ohne kuschelig zu werden oder thesenhaft von der Kanzel zu ‚predigen’, oder, von etwas weiter weg formuliert: Wie ist Haltung beziehen noch möglich, wo Positionierung noch nötig? Eine wichtige Rolle innerhalb dieser Arbeit hat Musik gespielt: Die Lieder dieser Jahre, Musik, die alle kennen, Musik, die heute wie damals ‚Lebensgefühle’ verkörpert hat, die eine Figur unterstützen oder konterkarieren kann, immer wieder die Auseinandersetzung darüber, zu welcher Musik (‚staatstragende’ Hymnen, Choräle, Lieder, ‚subversive’ Songs) man sich heute wie ins Verhältnis setzt. Es war dann Live-Musik, die eingesetzt wurde, Improvisationen über ein Schubert-Lied als A-cappella, Popsongs, die von zwei Spielern, die sich auf der Gitarre selbst begleiteten, gesungen wurden. Eine andere Art der Subversion, nicht mehr die Songs selbst, sondern die Möglichkeit, sich als Spieler durch das Singen und Spielen gleichzeitig innerhalb und außerhalb einer Figur als nicht ohne Rest aufgehend in der Gemeinschaft des Abends, sie aber nicht verlassend, zu situieren.

So früh wie möglich wurde auch die Ausstatterin Jessica Rockstroh in die gesamten Überlegungen einbezogen, um eine Idee darüber zu entwickeln, auf welchem (Bühnen-) Boden denn diese Anti-Figuren stehen und auf welche Weise sie sich auf die Zuschauer beziehen; darüber, wie ein Raum kreiert werden kann, der von der gesamten Klaustrophobie genauso spricht, wie von der Ausgeschlossenheit, der inneren Vereinzelung eines jeden auf dem Weg zur Stromlinienform oder dem Dagegen. Es sollte erreicht werden, dass den Zuschauern die Entscheidung, sich einzulassen oder ‚außen vor’ zu bleiben nicht abgenommen und außerdem sichtbar wurde. Jessica Rockstroh und Nora Schlocker haben zusammen einen Raum gebaut, der auf der Seite der Spieler mehr als zwei Drittel der gesamten Fläche einnimmt: eine schwer begehbare, schiefe, nach rechts hinten oben ansteigende Ebene, welche die Zuschauer auf Armeslänge von den Spielern entfernt ganz an den Rand der unteren Seite drängt und ihnen auf der Längsseite der Fläche nur drei Sitzreihen zur Verfügung stellt. Das hat eine große Nähe und eine sehr direkte Sicht und Rück-Sicht zur Folge. Als Zuschauer sieht, hört und riecht man, es stellt sich eine Art öffentlicher Intimität her, die, wenn es gelingt, eine fast physische Spannung zwischen Bühne und Zuschauerraum erzeugt. Die gesamte Bühnenoberfläche wurde mit schwerem Papier beklebt, welches im Laufe der Inszenierung aufgerissen wurde, um auch den Raum des Unterbaus, den Kellerals Spielfläche zu nutzen. In Neonfarben waren die Seitenwände großflächig mit schwarz-roten Bäumen, mit Wald bemalt – für die Szene sowohl ein Hinweis auf die überherrschende Naturthematik, deren Übermalung durch Kultur als auch auf ein Dickicht. Kleinere Requisiten wurden entweder deutlich sichtbar auf die Spielfläche geklebt oder aus dem Unterbau mit nach oben gebracht. Die Beleuchtung war aufgrund der vielen verschiedenen, aber oft gleichzeitig auf engem Raum stattfindenden, manchmal ineinandergeschnittenen Situationen kompliziert und ausgetüftelt, aber niemals dunkel, auch nicht in den Reihen der Zuschauer.

Lange wurde während der Proben mit den Kostümen experimentiert. Es wurde mit der Möglichkeit nah an der dargestellten Zeit genauso gespielt wie mit der Idee nah an der Zeit der Darstellung, nah an verzweifelter Individualisierung oder an Uniformierung und damit, wie der Vorgang der Verwandlung von einer Figur in die andere auch über die Kostüme zu zeigen sein könnte. Wie können die Spieler welche Sachen durch die Vorstellung tragen, wenn die Spielweise so direkt ist, und wie kann ein Kostüm die Idee von Zeigen und Verkörpernunterstützen? Fertig war die Bühnenfassung des Stückes erst eine Woche vor der Premiere, bis dahin wurde immer weiter zugefügt, gekürzt, geändert, was dazu geführt hat, dass die Proben sich im Wesentlichen jeweils in mehrere Teile gegliedert haben, sehr lang in Einzelproben, Gruppenauseinandersetzungen und Gespräche. Dass die einzelnen Teile erst sehr spät zusammengefügt wurden, hatte sehr viel mit dieser Probenstruktur zu tun.

Unsere Vorsicht war naiv. Das Naive als Natürliches ist mit dem Wirklichen verschwistert. Das Wirkliche ohne sittlichen Bezug nennen wir gemein. Das wirgibt es nicht mehr, es ist den sentimentalischen Menschen „uneinig mit uns selbst und unglücklich in unsern Erfahrungen von Menschheit“[22]verschlossen. Die Vorsicht gibt es noch und sie äußert sich als Versuch, eine im Sinne der Naivität moralische Perspektive einzunehmen, die sich keiner Erfahrung entzieht, der Erfahrung keine Wirklichkeit voraus hat und darum Wege durch deutsche Wirklichkeiten andeuten und die nötige Verdichtung der Figuren und Geschichten als starke Komplexitätserweiterung zeichnen kann. Eine detaillierte Erforschung der Zusammenhänge mit dem Fokus auf dem Probenprozess, der im Kern darin bestand, die dynamische Beziehung zwischen Autorin, Regisseurin, Schauspielerinnen und Schauspielern, Dramaturgin und Bühnenbildnerin herzustellen, ohne Hierarchien mehr als Gebühr aufzubauen, mit einem Vorrang für das Erfahrungsexperiment, den Ermöglichungsraum, das war das Vorhaben. Über eine solche Methode bemerkt der Ethnologe Victor Turner aufgrund seiner Erfahrungen mit Richard Schechner:

Diese Art des Schauspielens unterscheidet sich von jener, die sich auf überragende professionelle Techniken verlässt, um nahezu jede westliche Rolle mit Ähnlichkeit nachzuahmen. Schechner zielt also eher auf poiesis als auf mimesis: auf das Machen, nicht auf das Vortäuschen. Die Rolle wächst mit dem Schauspieler, sie wird wahrhaft ‚geschaffen’ im Prozess der Proben, der zuweilen schmerzhafte Augenblicke der Selbstenthüllung mit sich bringt.[23]

Es ist eine gute Methode, um unvertrautes (oder allzu vertrautes) Material zu handhaben, es sich anzueignen. Diese Fähigkeit, Ereignisse, Wirklichkeitsstücke, Gesten, Vorkommnisse, Kontingenzen und Umgestaltungen in folgende Proben zu integrieren, zu übernehmen oder kurzerhand zu streichen, macht Tiefe, Reflexivität und Ambiguität aus. Indem durch die Darstellungen etwas über das Dargestellte gelernt und das Gelernte wieder dargestellt wurde, indem sich fast unzeitgemäß und kommuneartig – samt intensiver Lektüre im kleinen Kreis und regelrechten Exkursionen – in das Projektmaterial vergraben wurde, um dem Begriff der Seele und seiner Bedeutung auf die Spur zu kommen, und indem das Skript während des Probenprozesses ‚erfunden’ wurde, war es möglich, die persönlichen Haltungen aller Akteure in der Gruppe, deren Blicke auf das Geschehen im 20. Jahrhundert szenisch festzuhalten.

Und zur Folge hatte dieses Vorgehen auch, dass oft genug nicht passive Rezipienten im Zuschauerraum saßen, sondern eher Teilnehmer an und in Geschichte, die zur Selbstbeunruhigung, zum Sich-Rühren – auch durch (noch) Berührt-Werden im Theater – bereit waren. Dass (K)EI(N)LAND so ergreifen, nahegehen und verwunden kann, resultiert nicht in der Versicherung einer Gegenwart durch ihren Rückbezug auf Vergangenheit als einen Abstandsbeweis, verhandelt (K)EI(N)LAND doch weder eine arglose Freude an Weimars Kultur einerseits und ein gutmenschliches Entsetzen über Buchenwalds Barbarei andererseits, noch einen platten Vergleich gegenwärtiger Krisensymptome mit denen der Weimarer Republik. Vielmehr erfolgt anhand der Transformationsgeschichten der Anti-Figuren eine Darstellung, welche die eigenartig dichte Verflechtung von Kultur und ‚Barbarei’ in Weimar veranschaulicht und dabei eben auch Buchenwald als eine aus nationalsozialistischer Perspektive avantgardistische, biopolitisch-kulturelle Notwendigkeit, als ein Mittel der Kulturpflege durch Ausgrenzung aller als kulturfeindlich definierten Menschen vergegenwärtigt. Es geht in (K)EI(N)LAND eben nicht mehr um die dünne Metapher vom „janusköpfigen Weimar“, nicht mehr um dieses entlastungsbietende, ahistorisch vereinfachende Denken von Klassik hier und Stacheldraht dort. Für diesen Text und dieses Schauspiel ist die Katastrophe, welche den Sinn von Weimar umzukehren scheint, als Gesellschaftsverbrechen längst erkannt und Prämisse. Oder in Bezug auf Adornos destabilisierten Zivilisationsbegriff formuliert: Das Begriffspaar Zivilisation und Barbarei ist unbrauchbar für Text und Stück und keine hinreichende Kategorie, um die Katastrophe angemessen denken zu können.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Adorno, Theodor W.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 31.
  2. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 351.
  3. Ebd., S. 359.
  4. Ebd., S. 358.
  5. Krankenhagen, Stefan: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln 2001, S. 16.
  6. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a. M. 1969, S. 9.
  7. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München 1987, S. 105.
  8. Lyotard: „Streitgespräche, oder: Sätze bilden ‚nach Auschwitz’“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. S. 18 – 50, hier S. 25.
  9. Tholen: „Anamnesen des Undarstellbaren. Zum Widerstreit um das Vergessen(e)“, in: Weber/Tholen (Hg.): Das Vergessen(e), S. 225 – 238, hier S. 238.
  10. Adorno: Negative Dialektik, S. 364.
  11. Lyotard: Der Widerstreit, S. 183.
  12. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a. M. 1991, S. 63.
  13. Ebd., S. 124.
  14. Ebd. Und weiter zu dieser Aufgabe einer Philosophie nach Auschwitz: „Man muss sich zumindest die Frage stellen, wie die westliche, durch judäo-christliche Traditionen bestimmte Kultur ein Ereignis wie Auschwitz oder die Shoah möglich, oder nicht unmöglich, machen konnte.“ (Derrida: „Einzigartigkeit, Verjährung und Vergebbarkeit“, in: Bankier, David (Hg.): Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Forschern und Denkern, Göttingen 2006, S. 115. Das Interview mit Derrida wurde am 8. Januar 1998 in Jerusalem geführt.)
  15. Nancy, Jean-Luc: „Ein Hauch/Un Souffle“, in: Berg, Nicolas [u.a.] (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte – Philosophie – Literatur – Kunst, München 1996, S. 122 – 129, hier S. 125.
  16. Derrida: Feuer und Asche, Berlin 1988, S. 25.
  17. Heidegger, Martin: Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 5.
  18. Ebd.
  19. Völcker, Tine Rahel: Notizen während des Produktionsprozesses 2009, unveröffentlicht.
  20. Ebd.
  21. Ebd. Auf die Frage des Journalisten Fritz von Klinggräff nach der Arbeit mit historischen Figuren, nach der Notwendigkeit eines Johannes R. Becher, antwortet Tine Rahel Völcker: „Ich weiß es nicht, ich weiß nicht, warum nicht. Es ist zwar billig, andere zu zitieren, wenn einem selber nichts Rechtes einfällt, aber Heiner Müller hat gesagt, warum soll ich meine Zeit damit verschwenden, mir selber Geschichten auszudenken oder mir Figuren auszudenken, wenn man in der Geschichte alles schon vorfindet. Es ist nun mal da, das Geschichtsmaterial, und ich finde, man darf es in der Kunst, auf dem Theater auch als Material begreifen und benutzen, und das ist besonders für uns so, die wir halt Nachgeborene sind und uns zum Teil auch noch nicht mit dieser Zeit beschäftigt haben. Man muss sich die Historie erst mal anarbeiten, um sich an ihr abarbeiten zu können, und dabei ist einfach Becher eine unglaublich dankbare Figur.“ (Tine Rahel Völcker und Nora Schlocker im Interview mit Fritz von Klinggräff und Ronald Hirte, in: „Die Jahre weiß man nicht… Geschichte auf Radio Lotte“, Radio Lotte Weimar vom 17. September 2009)
  22. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, Frankfurt a. M. 1994, S. 87f.
  23. Turner, Victor: „Dramatisches Ritual – Rituelles Drama. Performative und reflexive Ethnologie“, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 193 – 209, hier S. 198.

Zu dieser Ausgabe

Was kann eine gute stehende Online-Zeitschrift eigentlich wirken? Diese Frage stellen sich seit ihrem Beginn die Herausgeber und Autoren dieser Zeitschrift, die zu einem Zeitpunkt erfunden wurde, als das Internet noch deutlich schwieriger zu bedienen und ein Online-Journal noch den Flair des neuen, unbekannten Mediums der ungeahnten Möglichkeiten hatte.

Mittlerweile ist die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass das Internet mehr oder weniger jedem mit ein wenig Geduld und Zeit ermöglicht, sich auf diesem Weg einen Zugang zu einer potentiell größeren Öffentlichkeit zu verschaffen – nur dass tatsächlich kaum jemand lesen will, was auf ungezählten Seiten in Blogs und Chatforen, auf Kommentarseiten und Newslettern verfasst und verbreitet wird. So stellt sich denn die Frage nach Sinn und Zweck einer Online-Zeitschrift heute anders als zum Zeitpunkt ihrer Begründung. Sie muss viel eher lauten: Welcher spezielle Zweck kann einen solchen Auftrittsort rechtfertigen und wie muss deshalb die Zeitschrift und ihre Netzumgebung gestaltet sein?

Die vorliegende Ausgabe, die von Martin Degeling, einem Studenten der Ruhr-Universität, neu gestaltet wurde, versucht, auf diese Frage einige Antworten zu geben. „Thewis“ sollte zunächst und in erster Linie ein Forum für Beiträge des Nachwuchses sein. Stehen Periodika wie das von Christopher Balme im Gunther Narr Verlag herausgegebene „Forum Modernes Theater“ nicht nur und erklärtermaßen, aber doch eher arrivierten Beitragenden unseres Faches offen, so liegt es nahe, „Thewis“ als ein Forum für den interessierten und engagierten Nachwuchs zu profilieren. Somit sind vor allem Studierende und Promovierende der Theaterwissenschaft und der benachbarten Fächer eingeladen, „Thewis“ als eine Plattform zu nutzen, um frühzeitig eine über den Arbeitszusammenhang eines Seminars, Kolloquiums oder Workshops hinausgehende Öffentlichkeit zu suchen. In Sonderheit eignet sich „Thewis“ daneben für solche Materialien und Forschungsergebnisse, die einen eher vorläufigen Charakter tragen. Es kann der Ort für erste Publikationen sein, die gewinnen, indem sie sich durch den Ernstfall einer Veröffentlichung herausgefordert fühlen. Es bietet sich zur Vorstellung von Projekten und Arbeitsvorhaben an, für die Diskussionen gesucht oder Kontakte und Mitarbeitende gewünscht werden. Es ist die richtige Adresse für entlegene Aspekte und für Formate, die in keinen Sammelband passen, weil sie zu lang sind oder zu spekulativ oder zu viele Abbildungen, Film- oder Hörbeispiele vorsehen. Die Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Hinsicht sind vielfältig. Sie sollten die Phantasie anregen und zum Experiment ermuntern, denn ein Online-Journal hat zusätzlich den großen Vorteil, eine kostengünstige Form der Publikation zu bilden.

Damit die Zeitschrift in diesem Sinne funktionieren kann, muss es einfacher werden, sie als Publikationsorgan zu benutzen. Die vorliegende Ausgabe ist deshalb in technischer Hinsicht so konzipiert, dass die Einrichtung einer Ausgabe in wenigen Stunden zu schaffen ist. Gleichzeitig muss die Zeitschrift aber Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dafür stand bereits bisher die Verbindung zur Gesellschaft und ihrer Webseite, denn wer immer sich über die Aktivitäten der Gesellschaft für Theaterwissenschaft informierte, kam an „Thewis“ nicht vorbei. Gleichwohl hieß dies auch, dass die Zeitschrift vor allem im Vorfeld des Kongresses der Gesellschaft konsultiert wurde – dann, wenn man wissen wollte, wer wann wo sprechen würde und bei wem man weitere Informationen dazu erhalten könnte. Was lag deshalb näher als die von unseren Studierenden vorgeschlagene Idee, „Thewis“ mit einem Veranstaltungskalender zu verbinden, der über die immer zahlreicher werdenden szenischen Projekte und künstlerischen Aktivitäten der Studierenden und Doktoranden der Theaterwissenschaft informiert. Wo gefragte Websites sich zunehmend dadurch auszeichnen, dass sie nicht für jeden etwas, sondern für konkrete Zielgruppen exakt die gesuchten Informationen bereit halten, da könnte, so das Kalkül, ein solcher Veranstaltungskalender zum Publikumsmagnet werden, welcher der mit ihm verbundenen Zeitschrift gleichsam als Kontakthof dienen könnte.

Die wechselseitige Bekanntgabe von geplanten Projekten, Aufführungsdaten und Orten soll ermöglichen, dass interessierte Studierende zunächst einmal von den Plänen, Sujets und Aufführungen der jeweils anderen überhaupt erfahren. Auch hier steht der Gedanke des Forums in Vordergrund, denn diese ‚Szene’ ist bislang völlig ohne jede Möglichkeit, sich gegenseitig wahrzunehmen. Denkbar ist, dass auch hier aus der Möglichkeit einer Vernetzung gezielte Besuche, Einladungen, Arbeitszusammenhänge und Auftritte in punktuell gemeinsamen Veranstaltungen, Plattformen etc. entstehen, ein Forum jedenfalls, das über die Öffentlichkeit des je eigenen Instituts oder Ortes hinausreicht – sofern dieses gewünscht oder gebraucht wird oder sich als sinnvoll und nützlich erweist.

Die vorliegende Ausgabe „Thewis 2008“ versteht sich auch als Diskussionsgrundlage über Sinn und Zweck einer derartigen Online- Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Entstanden ist mit „Thewis 2008“ ein Vorschlag, der vollkommen abhängig ist von seinem Gebrauch und seiner Verwendung durch die jüngere Generation innerhalb des Faches. Ihre Perspektiven, Sujets, Formen, Entwicklungen und Vorschläge sind von erheblichem Interesse – nicht ‚für die Zukunft’, wie eine Politikerfloskel vorschnell nahelegt, sondern für die Gegenwart einer lebendigen Theaterwissenschaft.

Einleitung

Die hier unter dem Titel “Fixieren und Bewegen – Heiner Müllers Inszenierungen auf Papier” präsentierten Aufsätze sind Zwischenergebnisse eines seit längerer Zeit am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit den Etudes théâtrales der Université de Paris X, Nanterre, sowie mit der Internationalen Heiner Müller-Gesellschaft verfolgten Forschungsprojekts über die Manuskripte Heiner Müllers.

Hervorgegangen sind sie aus einem Workshop gleichen Namens zu Fragen der Darstellung und Lektüre von Heiner Müllers Manuskripten, der vom 3.-5. März 2006 in Berlin stattfand. Ihm vorausgegangen war der Versuch, durch eine Transkription, die dem gleichermaßen graphischen wie textuellen Charakter der Schreibweise Heiner Müllers gerecht wird, sämtliche Manuskripte, die auf die eine oder andere Weise als Vorarbeiten einer bestimmten Szene von Heiner Müller gelten können, einem größeren Kreis von Forschern zugänglich zu machen. Dabei wurde mit Blick auf eine von der Internationalen Heiner Müller-Gesellschaft geplante “Werkstatt” zu “Leben Gundlings…” die Szene “Lessings Schlaf Traum Schrei” ausgewählt. Für diese Szene machten wir im Archiv der Akademie der Künste ein Corpus aus, das um die 100 Manuskriptblätter umfaßt. Ihre von Christina Schmidt erstellte Transkription wurde in einer vorläufigen Version zunächst einem internen Workshop an der Ruhr-Universität vorgelegt, der die Affinität der Fragestellungen von Heiner Müller und Michel Foucault zum Gegenstand hatte, danach den Teilnehmern dieses öffentlichen Workshops, denen dabei die Frage gestellt wurde, auf welche Weise der Blick auf die Manuskripte die Lektüre der gedruckten Szene verändert und welche neuen Deutungs- und Inszenierungsmöglichkeiten der Blick auf den Arbeitsprozeß Heiner Müllers ermöglicht.

Die Workshopteilnehmer – Studierende und Promovenden der Theater- und Literaturwissenschaft sowie interessierte Theatermacher und Experten für Fragen der Textgenese und das Werk Heiner Müllers – stellten im Verlauf des Workshops Beiträge unterschiedlicher Art vor, die aus ihrer je spezifischen Arbeit mit dem Material entstanden waren. Einige davon waren angesichts des kleinen Budgets zwangsläufig eher vorläufiger Natur: So wurde von Jurga Imbrasaite, Uta Lambertz und Alexander Kerlin (alle Bochum) eine sich an Formaten von “Forced Entertainment” orientierende Performance präsentiert, von Karima El Kharraze (Paris) ein die Nähe von Müller und Godard auslotender Videofilm, von Angela Konrad (Marseille) und Kerstin Schütze (Wien) Inszenierungs-Skizzen und - Tagebücher. Andere Beiträge stellten lediglich skizzenhafte erste Versuche des Umgangs mit dem Material dar, die als Impuls für die Diskussion, jedoch nicht als Beginn einer intensiveren Arbeit gedacht waren. Dagegen handelt es sich bei den hier dokumentierten Arbeiten um Ausarbeitungen erster Ergebnisse, die in einem weiteren Workshop im Juni 2008 in erweiterter Form neuerlich diskutiert wurden und nun mit dem Wunsch vorgelegt werden, die in den Workshops begonnene Diskussion in größerem Umfang fortzuführen.

Dazu zwei Vorbemerkungen:

– Es stellte sich bei der Recherche im Archiv schnell heraus, dass die anfangs avisierte Versammlung aller zu dieser einen Szene zugehörigen Manuskripte unmöglich ist. Die spezifische Arbeitsweise Müllers lässt dies als für diese Szene wie jeden anderen Text des Autors unmöglich erscheinen: Er arbeitete beständig an mehr als einem Stück und alle veröffentlichten Texte hatten einen langen, oft bis in die Anfangsjahre seiner schriftstellerischen Arbeit zurückreichenden Vorlauf. So konnte sich denn auch die Diskussion im Workshop zwar auf ein, gemessen am kurzen veröffentlichten Text, umfangreiches Corpus stützen, musste jedoch den letztlich vermutlich phantasmatischen Anspruch fallen lassen, einen umfassenden Blick auf die Textgenese werfen zu können. (Siehe dazu auch die Ausführungen von Christina Schmidt.)
– Es handelt sich hier um unterschiedliche Formen des Umgangs mit den Manuskripten, die durch unterschiedliche persönliche Voraussetzungen, aber auch durch unterschiedliche Interessen bedingt sind. Eine Festlegung darauf, wie die Manuskripte zu bewerten seien, wurde mit Bedacht vermieden: Im Einklang mit zumindest einem Teil der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zur Textgenese gingen wir vielmehr davon aus, dass das je singuläre Material eines Schriftstellers – bzw. in diesem Fall eines Dramatikers – eine je singuläre Form des Umgangs mit ihm hervorbringen muss, die sich erst im Zuge der Arbeit am Material ergeben kann. So sahen einige Beitragende in den Manuskripten Erläuterungen von für sich unklar bleibenden Passagen des veröffentlichten Textes, andere gingen dagegen von einem kategorischen Einschnitt aus, der durch die Veröffentlichung gesetzt wird. Einige versuchten die Lektüre einzelner Manuskriptseiten für sich, andere griffen Motive auf, die sich durch die Seiten hindurch in verschiedenen Varianten als gleichsam roter Faden ziehen, wieder andere nahmen die Manuskripte als ergänzendes Quellenmaterial, das Hypothesen mit Blick auf den Szenentext zu erhärten oder zu verwerfen erlaubt. Eine Synthese oder gar eine Auswahl “richtiger” und “falscher” Arbeit mit dem Material schien uns zu diesem Zeitpunkt weder beabsichtigt noch sinnvoll.

Nicht zuletzt lag der Schwerpunkt der Arbeit des Workshops auf dem Interesse an der je konkreten und dabei auch je anderen Erfahrung der Beteiligten. Alters-, Interessens- und Wissensbedingte Differenzen in der Wahrnehmung des Materials und im Umgang mit ihm waren ausdrücklich erwünscht. Kenntnisse auf dem Gebiet der Textgenese gingen bei einigen in die Betrachtung von Müllers Handschriften ein, waren jedoch aus unserer Sicht keine zwingende Voraussetzung. Denn wenn Müllers Manuskripte sicherlich in verschiedener Hinsicht solchen vergleichbar sind, über die bereits umfangreiche Arbeiten geschrieben und für die zum Teil aufwendigste Editionen erarbeitet wurden, sind sie doch von anderen Manuskripten auch deutlich zu unterscheiden. So kann etwa der Umgang mit den Manuskripten Paul Celans, Friedrich Hölderlins oder Franz Kafkas nicht einfach auf denjenigen mit Müllers Manuskripten übertragen werden. Ihre Aufarbeitung, das zeigen nicht zuletzt die durchweg suchenden und zum Teil geradezu zwangsläufig noch sehr spekulativen Beiträge, steht erst am Anfang.

Wenn die hier dokumentierten Ergebnisse auch vorläufiger Natur sind, so knüpft doch die in den zwei Workshops unternommene Arbeit wie das gesamte Forschungsprojekt zu Heiner Müllers Manuskripten an einen längeren Vorlauf an, der hier zumindest kurz erwähnt werden soll. Der Blick auf die Manuskripte Heiner Müllers und damit gewissermaßen in seiner Werkstatt wurde in größerem Umfang erstmals durch die Öffnung seines Archivs im Jahr 2000 möglich. Dieser Blick hat die Wahrnehmung seines Werkes verändert. Erste Veröffentlichungen von Manuskripten und Vorarbeiten in der von Müller herausgegebenen Schriftenreihe des Berliner Ensembles “Drucksache”[1], im Rahmen einer Heiner Müller – Ausstellung der “Akademie der Künste”[2] und in den Heften der von der Internationalen Heiner Müller-Gesellschaft edierten “Drucksache, neue Folge”, vor allem aber im Rahmen der mit einer Manuskripte-Ausstellung verbundenen Pariser Veranstaltung “Heiner Müller – Généalogie d’une oeuvre à venir”[3] legten den Schluss nahe, dass die Arbeit mit den Manuskripten einen großen Platz in der zukünftigen Praxis des Umgangs mit Müllers Texten in Forschung, Theater und Lektüre einnehmen werde. Deren Erschließung wurde und wird allerdings durch die mitunter schwer zu lesende Schrift Müllers und die wenig übersichtliche Streuung der Notate erschwert.

Wer die Manuskripte Heiner Müllers betrachtet, der blickt auf die Schauplätze mühsam still gestellter Konflikte: Texte wie “Die Hamletmaschine”, deren Genese in ersten wissenschaftlichen Arbeiten untersucht wurde, gingen aus einem Corpus von Manuskripten hervor, der mehrere hundert Seiten umfasst. In poetologischen und dramaturgischen Schriften wie dem Brief an den Regisseur Mitko Gotscheff verweisen zahlreiche Umstellungen, Streichungen und Einfügungen auf die Fragen und Aporien hin, die Müller im fertigen Drucktext vorläufig still gestellt und damit dem anderen Schau- und Kampfplatz der Auslegung übereignet hat. Das Studium dieser textgenetischen Dokumente, so die Hypothese, die am Ausgangspunkt der Bochumer Forschung zu den Manuskripten stand, wird in Zukunft voraussichtlich die unabdingbare Grundlage jeder ernst zu nehmenden Position zu Müllers Arbeiten darstellen.

Schon heute beeinflusst die Kenntnis der Manuskripte den Umgang von Regisseuren und Komponisten mit Müllers Werk – beispielhaft lässt sich dies an der 2003 an der Stuttgarter Staatsoper uraufgeführten Komposition „Im Spiegel wohnen“ zu Heiner Müllers „Bildbeschreibung“ beobachten (Musik: Andreas Breitscheid, Regie: Jean Jourdheuil): Die Kenntnis der Genese verschiebt die Auseinandersetzung mit dem Stück. Während der Text zuvor unter dem Eindruck der vorherrschenden Interpretationen als bestes Beispiel ‚postmodernen Schreibens‘ gelesen wurde, erschien er hier erstmals als Engführung einer Auseinandersetzung mit Picassos Guernica, Foucaults Überwachen und Strafen sowie Walter Benjamins Theorie der Geste Kafkas. Solche Deutungen wurden nicht zuletzt ermöglicht durch die Forschungsdiskussion, die im Rahmen der Bochumer Konferenz „Ende der Vorstellung“ im Jahr 2001 angestoßen wurde.[4] Sie war maßgeblich geprägt durch die Entdeckungen verschiedener Spuren in den Manuskripten.

Am Zustandekommen der vorliegenden Dokumentation von Zwischenergebnissen der Forschungsarbeit zu Heiner Müllers Manuskripten waren verschiedene Personen und Institutionen beteiligt, denen an dieser Stelle zu danken ist: Dem Rektorat der Ruhr-Universität Bochum für seine finanzielle Förderung des Forschungsprojekts, dem Procope-Programm des DAAD für die Ermöglichung der gemeinsamen Arbeit von Dozenten, Doktoranden und Studenten der Ruhr-Universität und der Université de Paris X, Nanterre, der Internationalen Heiner Müller-Gesellschaft und der Galerie Sophienstraße 8 in Berlin Lichtenberg, namentlich Klaudia Ruschkowski und Dörthe Lammel, für die Bereitstellung des Rahmens, in dem der Berliner Workshop abgehalten werden konnte und für seine organisatorische Unterstützung, der Stiftung Deutsche Klassenlotterie für die Gewährung eines Zuschusses zu dessen Kosten, B.K. Tragelehn, Julia Bernhard und Jean Jourdheuil für ihre fachkundige und engagierte Beratung, ihre Beteiligung am Projekt und ihre Mitarbeit in den Workshops, den studentischen Mitarbeitern Alexander Kerlin und Mirjam Schmuck für die tatkräftige Unterstützung bei der Ausrichtung der Workshops, der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, namentlich und stellvertretend Ihrem Präsidenten Andreas Kotte, für die Möglichkeit, die Arbeiten zu Müllers Manuskripten an dieser Stelle vor- und zur Diskussion zu stellen, Brigitte Maria Mayer, dem Suhrkamp-Verlag und der Akademie der Künste für die Gewährung der Rechte zum Abdruck der in den Beiträgen erwähnten Manuskripte Müllers und schließlich allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Vgl. insbesondere: Heiner Müller: Philoktet. Ein Brief. Traumtext. Drei Faksimiles. In: Drucksache 17. Hg. vom Berliner Ensemble. Redaktion Heiner Müller und Holger Teschke. Berlin, 2. Auflage, 1996.
  2. Vgl. “Wer haust in meiner Stirn”. Fundsachen Heiner Müller. Ausstellung vom 13. 12. 1998 – 14. 2. 1999. Dazu auch: Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Heiner-Müller-Archiv. Hg. von der KulturStiftung der Länder in Verbindung mit der Akademie der Künste. Berlin 1998.
  3. Heiner Müller: Généalogie d’une oeuvre à venir. Académie Expérimentale des Théâtres / Théâtre/Public 160-161, juillet-octobre 2001, hg. von Jean Jourdheuil und Nikolaus Müller-Schöll, darin insb. S. 14-25. Heiner Müller: Manuscris de HAMLET-MACHINE. Transcriptions-traductions. Transcriptions de Julia Bernhard. Traduction de Jean Jourdheuil et Heinz Schwarzinger. Paris, Les Éditions de Minuit, 2003.
  4. Vgl. Ulrike Haß (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin 2005. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die 2004 von Theo Girshausen und Günther Heeg initiierte Konferenz „Theatrographie. Heiner Müllers Theater der Schrift“.

Heiner Müller Manuskripte

In der folgenden Bilderserie finden Sie die originalen Handschriften und die Transkriptionen von Christina Schmidt im Wechsel.

3392 et in arcadia ego: die
Manuskript, Transkription
3392 LEBEN GRUNDLINGS FRIEDRICH VON PREISSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI
Manuskript, Transkription 1, 2
3393 – Freunde reden lautlos
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 Black Angel
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 Schauspieler wie geschminkt
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 D. Hamlets  H i Wittenberg
Manuskript, Transkription
3394 (scape goal)
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 Büsten d. ‚Klassiker‘
Manuskript, Transkription
3394 Kopf zuschnüen
Manuskript, Transkription
3394 sex [Zeilenumbruch] torture
Manuskript, Transkription
3394 Apotheose    looks
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 Rosen + Gedärme
Manuskript, Transkription
3394 Schau- — während ihm Lessingmaske
Manuskript, Transkription
3394 Autofriedhof
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 Proj.  Aus dem Preußen des zweiten Friedrich
Manuskript, Transkription 1, 2
3394 [um 90° gedreht zur übrigen Schreibrichtung] in Preußen wo die Welt
Manuskript, Transkription
3394 Patriotism. Great King
Manuskript, Transkription
3394 (=cry)
Manuskript, Transkription
3395 APOTHESE SPARTALUS EIN FRAGMENT
Manuskript, Transkription
5320 Gundling – Professor – Lessung
Manuskript, Transkription