Müllers Handschriften lesen. Ein Werkstattbericht

Die Manuskripte Heiner Müllers gleichen einem riesigem Rhizom, das zunächst unübersehbar scheint. Diese Netzwerkstruktur ist zum einen dadurch charakterisiert, dass sie weder einen „zentralen“ Zugang aufweist noch eine eindeutige Chronologie zulässt.

Zum anderen hält dieses Netzwerk gerade aus diesem Grund an jeder Stelle mannigfaltige Zugangsmöglichkeiten bereit – so zum Beispiel über ein thematisches oder sprachliches Motiv, eine Textzeile, eine Figur, den Verweis auf einen anderen Text, die Zeit der Publikation, eine Reise Müllers, einen Arbeitszusammenhang, eine Inszenierung usw. Schon an einem vergleichsweise kleinen Konvolut von Blättern, wie dem von uns exemplarisch untersuchten zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Müllers 1977 publizierten Theatertext Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei [1], wird diese rhizomatische Struktur der Manuskripte deutlich. So reichen die intertextuellen und interdisziplinären Verweise der Texte und Textentwürfe weit über das Konzentrat der Druckfassung hinaus, die in der Auseinandersetzung mit Müllers langjähriger Arbeit am Gundling-Stoff weniger als „Endfassung“ erscheint, denn vielmehr als eine mögliche Variante des Textes. In der intensiven Beschäftigung mit den Manuskripten, die insbesondere auch die Arbeit des Transkribierens erfordert, wurde außerdem deutlich, dass Müllers Handschriften neben ihrer inhaltlichen Aussagekraft auch eine hohe grafische Qualität eigen ist. Diese zeugt nicht zuletzt von der Räumlichkeit des Schreibprozesses, die wiederum mit Müllers szenischem Denken in einen höchst spannenden, produktiven Dialog zu treten scheint. Bevor ich näher auf die Eigenart der Manuskripte, die Problematik der Transkription[2] sowie auf die inhaltliche Dimension des Umgangs mit den Handschriften zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Leben Gundlings eingehe, seien zunächst Art und Umfang dieses riesigen, rhizomatisch verzweigten Konvoluts kurz umrissen.

1) Zu Art und Umfang der Manuskripte

Die gesamte Anzahl der nachgelassenen Manuskripte von eigener Hand, die im Heiner Müller-Archiv der Akademie der Künste Berlin vorliegen, beträgt nach vorsichtiger Schätzung zwischen 50.000 und 80.000 Blatt. [3] Allein zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“[4] aus Leben Gundlings finden sich 104 Blatt von unterschiedlichstem Format, darunter 75 Blatt, die unter dem Stichwort „Leben Gundlings“ katalogisiert sind, sowie 29 Blatt unter dem Stichwort „Werknotizen“.[5] Die Manuskripte zur „Lessing-Szene“ umfassen rein handschriftliche Manuskripte, reine Typoskripte sowie Typoskripte mit handschriftlicher Bearbeitung. Die Materialträger lassen sich zumeist als Papier unterschiedlichen Formats (hauptsächlich Din A4 und Din A5) sowie verschiedener Sorten kennzeichnen. So gibt es etwa karierte Blätter, grobfaseriges Papier (wie Löschpapier) und sehr dünnes, teilweise durchscheinendes Papier, das oft beidseitig beschrieben ist, wodurch die Lesbarkeit erheblich erschwert wird, besonders bei der häufig vorkommenden Benutzung von Bleistift. Weitere Materialträger sind zum Beispiel Rechnungen, Servietten, Zigarettenschachteln oder Briefe eigener und fremder Hand. Das Schreibwerkzeug variiert zwischen Schreibmaschine, Bleistift, Kugelschreiber, Füllfederhalter und Filzstift verschiedener Farben und Stärken, die teilweise neben- und übereinander gesetzt sind, so zum Beispiel auf dem Blatt „Autofriedhof“[6]. Aufgrund der beschriebenen teilweise sehr dünnen Papiersorten und des Alters der Blätter sind die Materialträger zum Teil sehr angegriffen, das Papier ist oft brüchig oder eingerissen, die Schrift verwischt oder verwischbar. Es stellt sich also nicht nur die Frage der Lesbarkeit dieser Dokumente, sondern langfristig auch der weiteren Konservierung.

2) Zur Topografie und Struktur der Manuskripte

Was beim Umgang mit den Manuskripten Müllers besonders ins Auge fällt, ist die starke grafische Gestaltung der einzelnen Blätter. Das betrifft zunächst die Textverteilung. So bestehen die Manuskripte eher selten aus einem fortlaufenden, das gesamte Blatt füllenden Text, sondern vielmehr aus verschieden großen Textblöcken oder -spalten, die in unterschiedlicher Schreibrichtung und Anordnung auf dem einzelnen Blatt verteilt sind. Dazu kommen Hinzufügungen, Streichungen, Verweise und Überarbeitungsschichten‚ die man mit einem Begriff Müllers als „Übermalungen“ bezeichnen könnte.[7] Neben den Textblöcken oder -spalten finden sich häufig kleine Zeichnungen und Anmerkungen. Schon die grafische Gestaltung und Anordnung des Textes auf dem Blatt zeigt also, dass der Vorgang des Schreibens alles andere als linear verläuft, Schreiben erscheint hier vielmehr als gedanklich weiträumiger und verzweigter Prozess. Auch stellt sich die Frage, wie Müllers grafische Auffassung der Schrift, die in seinen Manuskripten sichtbar wird, mit seinem szenischen Denken und dem Vorgang des Schreibens selbst zusammenhängt. Neben der Anordnung des Textes auf dem Blatt sind auf den Manuskripten ebenso die sprachlich nicht transkribierbaren Zeichnungen und Zeichen wie Muster, Pfeile und Korrekturzeichen zu sehen, die in jeder Druckfassung üblicher Weise getilgt sind. Diese nicht-sprachlichen Zeichen scheinen aber für die Auseinandersetzung mit Müllers Schreiben, genauso wichtig wie die semantische Information selbst. Sie lassen Umstellungen, Bezüge und die Entwicklung von Ideen, Motiven und Figuren hervortreten und zeugen häufig vom theatralen Charakter der Manuskripte. Des Weiteren ist in den handschriftlichen Manuskripten die Schreibweise der Zeichen (Striche, Pfeile und Buchstaben), der Zeichnungen und der Linienführung sichtbar: Ist etwas gleichmäßig, gerade, oder ist es ungleichmäßig, vermutlich schnell geschrieben, etwa als Notiz während einer Zugfahrt, wie zum Beispiel: „Blick aus dem DZug Dresden“[8]. Sowohl Notizen zu Reisen als auch ein bestimmtes Papier, etwa mit dem Wasserzeichen eines Hotels, aber auch Notizen auf Briefen oder Rechnungen geben Hinweise auf die mögliche Entstehungszeit eines Blattes. Die Frage der Datierbarkeit muss jedoch generell offen bleiben. Denn da die einzelnen Manuskriptblätter zumeist nicht datiert sind, ist ihre Entstehung zeitlich nicht festlegbar. Aus diesem Grund sowie der motivischen Vernetzung der einzelnen Blätter miteinander ist also auch inhaltlich keine Chronologie der Manuskripte konstruierbar. Insgesamt zeichnen sich die Manuskripte Müllers durch ihre Netzwerkstruktur aus. So wenig im allgemeinen eine Datierung der einzelnen Blätter möglich ist, so unmöglich ist es, die einzelnen Blätter einem veröffentlichten Text zuzuordnen. Vielmehr kann ein Blatt oder ein Konvolut von Blättern, das zu einem großen Teil Notizen, Szenen und Szenenentwürfe zu Leben Gundlings enthält, ebenso Notizen zu anderen Texten Müllers enthalten,etwa zu Die Hamletmaschine, Anatomie Titus Fall of Rome, Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, Der Horatier und Quartett. Zu finden sind daneben Verweise auf Texte anderer Autoren und auf unterschiedlichste Künstler (so unter anderem auf Brecht, Poussin, Max Ernst, Michelangelo, Rubens, Rembrandt, Godard, Billy Wilder, Fritz Lang), Themen, Zusammenhänge und Inszenierungen. Eine lineare Abfolge der Blätter zur „Lessing-Szene“ im Sinne einer chronologischen Re-Konstruktion der Textgenese ist auch aufgrund der Gleichzeitigkeit der disparaten Zitate, Verweise und Bezüge auf den Manuskriptblättern nicht herzustellen.

3) Zur inhaltlichen Dimension: Was erfährt man aus den Manuskripten?

Neben der grafischen Auffassung von Schrift, die in der Topografie von Müllers Handschriften zu Tage tritt, und dem prozessualen Charakter des Schreibens selbst, bleibt in den Manuskripten sichtbar und lesbar, was in der Druckfassung eines Stücks notwendig verschwunden ist. Dafür seien im Folgenden, zunächst summarisch, einige Beispiele genannt. So geben die Manuskripte zur „Lessing-Szene“ aus Leben Gundlings etwa zu lesen: „Nathan in Auschwitz“[9], Charles Manson als Präsident im Gefängnis[10], Charles Manson und Kingkong auf dem elektrischen Stuhl[11], King Kong als „letzte[r] Präsident der USA“[12], „Blumenkinder[] mit Maschinenpistolen und Wolfsmasken“ als Hofstaat und Mörder von Emilia Galotti und Lessing[13] sowie Lessing an einem Fallschirm im Kontext eines „flying nazicamp“[14]. All diese hier genannten expliziten Bezüge geben nur die Manuskripte zu lesen, nicht aber der publizierte Stücktext. Vergleicht man die Druckfassung der „Lessing-Szene“ mit den Manuskripten, lassen sich bezüglich der inhaltlichen Verschiebungen unterschiedliche Bewegungen ausmachen: Im Vergleich zu den Textfassungen der Manuskripte stellt die Druckfassung oft eine wesentliche Verdichtung und Abstraktion des Textes dar. So sind zum Beispiel im Fall des Blatts „Autofriedhof“[15] die Platzierung des Textes, die diversen Einfügungen, Streichungen, Umstellungen und Überschreibungen, mithin die Arbeits- oder Textschichten in der Druckfassung des Stücktextes nicht mehr sichtbar. Des Weiteren lassen sich Bewegungen der Dekontextualisierung feststellen. So sind Kontexte, die in den Manuskripten vorhanden sind, im gedruckten Text verschwunden. Als Beispiel ist der explizite Zusammenhang von Krieg und Nationalsozialismus mit der „Lessing“-Figur auf dem bereits genannten Blatt „Autofriedhof“ zu nennen. Ein weiterer Punkt, der die Bewegung von Manuskripttexten zum Drucktext häufig kennzeichnet, ist die Anonymisierung. So wird aus „King Kong“ oder „Ch. Manson“ im Gefängnis beziehungsweise auf dem elektrischen Stuhl in der Druckfassung der „Lessing-Szene“ nur mehr anonym der „LETZTE[] PRÄSIDENT[] DER USA“. Auf dem elektrischen Stuhl sitzt hier „ein Roboter ohne Gesicht“.[16] Nicht zuletzt zeigen die Manuskripte natürlich auch, was die Druckfassung unsichtbar macht: das Verhältnis von Hand und Schrift, Körper und Schrift – die Körperlichkeit der Schrift, das Schreiben als ‚Handarbeit’. Ohne an dieser Stelle schnelle Schlussfolgerungen formulieren oder Bewertungen vornehmen zu wollen, seien nachfolgend einige Beispiele für Erfahrungen im Umgang mit den Manuskripten zur Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ aus Leben Gundlings skizziert.

a) Schichten, Verdichtung, Dekontextualisierung Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394)

Bei dem bereits zitierten Blatt „Autofriedhof“ aus Signatur 3394 handelt es sich um ein handschriftliches Manuskript auf einem einseitig, mit verschiedenen Stiften beschriebenen Din A4-Blatt. Die Manuskriptseite steht in direktem Bezug zum 2. Abschnitt der Druckfassung der „Lessing-Szene“ aus Leben Gundlings. Der Wortlaut des abschließenden Textblocks lautet dort:

STIMME (+ PROJEKTION) STUNDE DER WEISSGLUT TOTE BÜFFEL AUS DEN CANONS GESCHWADER VON HAIEN ZÄHNE AUS SCHWARZEM LICHT DIE ALLIGA- TOREN MEINE FREUNDE GRAMMATIK DER ERDBEBEN HOCHZEIT VON FEUER UND WAS- SER MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH LAU- TREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLAN- TIS SOHN DER TOTEN[17]

Alle Motive dieser acht Zeilen der Druckfassung sind auch auf dem Manuskriptblatt vorhanden. Zudem sind dort jedoch mehrere Bearbeitungsschichten sichtbar, deutlich durch die Benutzung verschiedener Stifte, die Platzierung des Textes (so z.B. der Schrift am linken Rand von „morning red“ bis „der brennt“), Einfügungs- und Korrekturzeichen, Umstellungen (durch Nummerierung) oder Überschreiben von Text (wie rechts: „Die Sümpfe / ersteigen die / Highways“, was mit Filzstift über „ways sind / für euch“ geschrieben ist). Die Benutzung unterschiedlicher Stifte verweist auch auf die Zeitschichten der Arbeit am Text. Im Verhältnis zur Druckfassung werden die genannten Motive auf dem Manuskriptblatt zusätzlich kontextualisiert – so zum Beispiel mit der Assoziation von Krieg und Nationalsozialismus („flying nazicamp“), was ein anderes Licht auf den in der Druckfassung wesentlich abstrakteren Textabschnitt wirft. Des Weiteren gibt es Zusammenziehungen: „Maldoror / Lautr. Fürst v. Atlantis Sohn der Toten“ in der Manuskriptfassung wird zu: „LAU- / TREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLAN- / TIS SOHN DER TOTEN“[18] in der Druckfassung. Der Text erfährt insgesamt in seiner Genese eine extreme Verdichtung und teilweise Dekontextualisierung. Mit Blick aufs Theater stellt sich hier auch die Frage nach dem Status des Textes, dessen Blockform und der Anonymität der Stimme, vor allem im Vergleich mit den in der Druckfassung der Szene vorausgehenden Zitaten aus Lessings Stücken Emilia Galotti und Nathan der Weise – zitiert werden ausschnittweise die letzte Rede Emilias sowie der „Schluß der Ringparabel“, die „gleichzeitig“ von „NATHAN rezitiert“[19] werden soll.

b) Abstraktion und Anonymisierung Blatt „Freunde reden lautlos“ (3393) im Vergleich mit Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394)

Vergleicht man das vorgenannte Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394) mit dem ebenfalls handschriftlichen, beidseitig beschriebenen Manuskriptblatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393), ergibt sich eine Verschiebung von Textstatus und Figurenauftritt. Der in der Druckfassung extrem verdichtete Text – „STUNDE DER WEISSGLUT […]“[20] – ist hier parallel gesetzt zum Text der ‚Lessing’-Rede aus dieser Szene21 und tritt somit zu dieser in einen direkten Bezug. Auf dem Manuskriptblatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393) wird der vorzitierte Text – „STUNDE DER WEISSGLUT […]“[21] – mit einer Szene kontextualisiert, in der eine Figur namens „Lessing“ versucht, „Freunde“ abzuwehren, die „lautlos“ auf ihn einreden, ihn geradezu interviewen zu wollen scheinen: „Herr L. was halten Sie von / Lessing, was ist Ihre Meinung zu / halten Sie für repräsentativ“. Links von diesem Text, das Blatt ist in zwei Spalten eingeteilt, wie als Reaktion auf die Fragen der „lautlos[en]“ Redner: „Ich habe nichts zu schaffen mit / eurem Paradies für Dauerredner“. Unter dieser Szene beginnt der Text der apokalyptischen Szenerie, die Müller auch auf dem Blatt „Autofriedhof“ (Sign. 3394) malt. Hier jedoch in direktem Kontekt mit der „Lessing“-Figur, so dass der Text sich als Rede dieser Figur liest:

Die Alligatoren, m. Fr[eunde?]
Geschwader v. Haien (mit)
Zähnen aus weißem (Stahl)
(Licht)
tote Büffel aus den Canons
Grammatik der Erdbeben
das Schweigen der Tornados
Hurrikans[22]

Die Druckfassung hingegen scheint den Text wesentlich von einem figuralen Sprecher zu abstrahieren, wenn sie ihn gleichsam anonym mit „STIMME (+ PROJEKTION)“[23] überschreibt.

c) Abstraktion und Problematik des Namens bzw. Sprechens im Namen von… Blatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393)

Auf die Problematik des Namens oder des Sprechens im Namen von wird auf dem Blatt „Freunde reden lautlos“ (Sign. 3393) auch noch in einem weiteren Kontext verwiesen. Auf dem Manuskriptblatt heißt es:

Kellner stellen Büsten auf (Homer.
→ Brecht —————————-

Im Zusammenhang dieser Herrichtung der Bühne zu Beginn der ‚Lessing-Szene’ werden an anderer Stelle noch weitere Namen genannt: „Büsten (Aristot. Homer Horaz Shakesp.)“[24]. In der Druckfassung der Szene fällt in diesem Zusammenhang jede Namensnennung weg. Stattdessen heißt es dort, weniger konkret: „während Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen.“[25] Die Büsten bleiben anonym. Namentlich erwähnt werden hier nur „Leisewitz“ (als Autor eines Zitats über Lessing), Friedrich II. (als Benennung eines Zeitalters), Lessings dramatische Figuren „Emilia“ und „Nathan“, die auch als Sprecher auftreten sowie eine Figur namens „Lessing“, die, so der szenische Nebentext, von Kellnern in Schutzhelmen eine „Lessingbüste“ aufgesetzt bekommt.[26] Als Sprecher tritt dieser „Lessing“ jedoch nicht in Erscheinung. Vielmehr wird er durch die Rede eines „SCHAUSPIELER[S]“ figuriert, der die Rede ‚Lessings’ zu übernehmen scheint. Diese Rede wird jedoch gleichzeitig wieder als Zitat ausgewiesen, denn der „SCHAUSPIELER liest“ das Sprechen im Namen von „Lessing“: „Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing.“ [27] Dadurch ist das Sprechen im Namen von… (einer anderen Person, einer historischen Person, einer fiktiven Figur) in doppelter Weise als fiktionaler Vorgang ausgestellt: Zum einen wird das Sprechen im Namen von „Lessing“ durch den Schauspieler als entwendete Rede markiert, indem er, der offenbar nicht Lessing ist – was durch den vorangehenden Vorgang des Schminkens und Kostümanlegens („Lessingmaske“[28]) markiert ist –, vorgibt, den Namen „Gotthold Ephraim Lessing[s]“[29] zu tragen. Zum anderen wird das Sprechen des „SCHAUSPIELER[S]“ explizit als Lesen eines Textes ausgewiesen, wodurch der Vorgang des Sprechens ausdrücklich keine ‚authentische’ Rede vortäuscht. Inwiefern der hier genannte „SCHAUSPIELER“ wiederum kein Schauspieler, sondern im Kontext des Stücks selbst eine fiktive Figur ist, wäre weiter zu fragen. Der Vorgang der Abstraktion, der sich im Wegfall von Namen kennzeichnet und im Kontext der „Lessing-Szene“ auf diesen Manuskriptblättern auf die Problematik des Namens beziehungsweise des Sprechens im Namen von… verweist, erscheint bei der Beschäftigung mit den Manuskripten Müllers zu Leben Gundlings beinahe als typischer Vorgang der Genese des Stücks. Durch die Fokussierung auf die – in mannigfachen Weisen auftretende – „Lessing“-Figur, der jedoch selbst keine explizite Rede zuzukommen scheint (so die Druckfassung der Szene), fragt das Stück nicht nur nach der Möglichkeit des theatralen Sprechens, sondern auch nach den historischen Schichten der Figuration („Lessings“) und damit auch nach der Gegenwart des Theaters. „Lessing“ spricht nicht (mehr).

d) Abstraktion und Figurenstatus Blatt „APOTHEOSE SPARTALUS EIN FRAGMENT“ (Sign. 3395)

Unter der Signatur 3395 findet sich ein Typoskript-Blatt mit handschriftlicher Bearbeitung im Format Din A4, das im Vergleich zur Druckfassung ebenfalls auf einen Vorgang der Abstraktion im Verlauf der Stückentwicklung verweist. Die Druckfassung des entsprechenden Textes lautet:

PROJEKTION
APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT
Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt.
Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind,
schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen,
während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von
Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im
Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun
in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste,
die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien,
macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu be-
frein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei.
Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbe-
suchern)[30]

Im Vergleich zur Druckfassung der Szene gibt das Typoskript zu lesen, dass „Theaterbesucher in Ges.[ellschafts]anzügen“ die Stelle der „Bühnenarbeiter“ einnehmen und die Arbeit verrichten. Die handschriftliche Überarbeitung zeigt hier die Entwicklung der Idee, dass „Bühnenarbeiter“ „als Th[eater]b[esucher] kostümiert“ sind (handschriftlich auf dem Manuskript links, während „Bühnenarbeiter“ handschriftlich durchgestrichen ist).[31] Der Schluss des Typoskripts lautet: „Applaus von (Theaterbesuchern) und Kellnern“, während über „Theaterbesuchern“ handschriftlich „Bühnenarb.“ geschrieben steht. Was sich hier alternativ liest, verschiebt seinen Sinn, wenn es in der Druckfassung heißt: „Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern)“ (S. 37). Aus der Entwicklung von Alternativen wird vielmehr eine Aufzählung, wodurch der Status der Figur(en) mehr und mehr unklar oder unsicher wird und der Text zusätzlich eine Abstraktion erfährt.

e) Kontextualisierung, Zitation, Intertextualität und Hinweis auf mögliche Entstehungszeit Blatt „Schauspieler wird geschminkt (Lessingmaske)“ (Sign. 3394)

Das Din A4-formatige Typoskript mit handschriftlicher Bearbeitung zeigt, wie durch Korrektur ein Zitat beziehungsweise ein direkter Verweis auf einen anderen Text Müllers entsteht, der ungefähr zur selben Zeit geschrieben wurde wie Leben Gundlings: Die Hamletmaschine[32]. Zunächst heißt es im Typoskript:

[…] Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen
Pulsadern Die Frau mit der Überdosis weißer Schaum auf den
zersprungenen Lippen Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.

Dann wird „weißer Schaum“ gestrichen und handschriftlich korrigiert zu „Schnee“. Das Wort „zersprungenen“ wird getilgt, genauso wie die handschriftlich darüber notierte Alternative „bissenen“, so dass es nun heißt:

[…] Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen
Pulsadern Die Frau mit der Überdosis Schnee auf den
Lippen Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.

In der Druckfassung der „Lessing-Szene“ in Leben Gundlings lautet diese Passage: Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.[33] Der Text wird hier dem „SCHAUSPIELER“ zugeschrieben, der den Text liest, der vorgibt, im Namen von „Gotthold Ephraim Lessing“[34] zu sprechen. Die wortgleiche Formulierung findet sich im zweiten Abschnitt der Hamletmaschine („DAS EUROPA DER FRAU“). Im Verlauf des Schreibprozesses von Leben Gundlings entsteht also ein direkter Verweis der beiden Texte aufeinander. Hier wird der Text einer Sprechfigur namens „OPHELIA (CHOR/HAMLET)“ zugeschrieben, die wiederum vorgibt, im Namen der fiktiven Figur „Ophelia“ zu sprechen:

OPHELIA (CHOR / HAMLET) Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.[35]

Die zitierten Passagen verweisen ebenso auf Müllers Text Todesanzeige[36], indem sie die dortige Aufzählung der Todesarten und das Motiv des Suizids aufgreifen und sprachlich bearbeiten.

Transkription – und kein Ende…

Transkribieren von Manuskripten heißt eine Handschrift zu entziffern und lesbar werden zu lassen. Dies wiederum bedeutet, den Prozess des Schreibens als solchen sichtbar zu machen – der sich im Fall von Leben Gundlings über lange Jahre erstreckt, wie aus dem Konvolut der Manuskripte hervorgeht.[37] Im Verlauf der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Müllers Handschriften stellte sich heraus, dass vor allem eine große Sensibilität im Umgang mit unsicheren Textstellen erforderlich ist, um nicht zu vorschnellen Ergänzungen im Sinne der Herstellung eines ‚vollständigen’ Transkriptionstextes zu kommen. Eine solche scheint mir, auch im Hinblick auf das teilweise sehr angegriffene Material beziehungsweise die erschwerte Lesbarkeit ganzer Blätter (etwa durch den Durchschlag einer Schrift auf beidseitig beschriebenem extrem dünnem oder porösem Papier oder die Benutzung von Bleistift auf durchscheinendem Untergrund), unmöglich und auch nicht erstrebenswert. Vielmehr geht es bei der Transkription der Manuskripte Müllers um einen möglichst genauen Lesevorgang und ein immer-wieder-von-neuem-Lesen, was insbesondere durch einen gemeinsamen Lektüreprozess befördert werden kann.
Als sinnvoll für ein Prinzip der Transkription haben sich drei Kriterien erwiesen: 1) die Buchstäblichkeit der Transkription, 2) die Vermeidung von vorschnellem oder interpretatorischem Ergänzen von Auslassungen oder Abkürzungen Müllers – wie „F2“ = Friedrich II., oder „MK“ = Michael Kohlhaas – und 3) das durchgängige Markieren von unsicheren oder unlesbaren Stellen. Aufgrund all dieser genannten Umstände ist die Beschäftigung mit Müllers Manuskripten und deren Transkription ein unabschließbarer Prozess, bei dem, genau wie in den Manuskripttexten selbst, stets neue Motive heraustreten, sich übereinander schieben und wieder verschwinden, ein Prozess also, der mit einem ständigen Perspektivwechsel der Lektüre konfrontiert, in dem sich immer wieder neue Fragen stellen, vor allem die für Heiner Müller so wichtigen nach dem Status des Textes und der Figur.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen. Erstveröffentlichung: Berlin: Henschel Verlag (Reihe dialog), 1977; UA: Schauspiel Frankfurt/M., 1979.
  2. Die im Kontext unserer Diskussion angefertigten Transkriptionen beanspruchen keineswegs Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit, sondern geben einen vorläufigen Arbeitsstand wieder.
  3. Für diese und viele weitere kenntnisreiche Auskünfte sowie die gemeinsame Lektüre geht mein herzlicher Dank an Julia Bernhard, an deren Methode der Transkription meine Arbeit anschließt. Vgl. die zweisprachige Publikation: Heiner Müller, Manuscrits de „Hamlet­Machine“. Transcription de Julia Bernhard. Traduit de l’allemand par Jean Jourdheuil et Heinz Schwarzinger. Paris: Les Éditions de Minuit, 2003.
  4. Im Folgenden kurz: „Lessing­Szene“. Die Druckfassung des Stücks wird nachfolgend zitiert nach der Ausgabe bei Rotbuch: Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen. In: Ders., Herzstück. Texte. Bd. 7. Berlin: Rotbuch, 1983, S. 9­42.
  5. Vgl. Augias­Katalog des Heiner Müller­Archivs der Akademie der Künste Berlin (HMA). Die hier genannte Anzahl der Manuskriptblätter mit direktem Bezug zur ‚Lessing­Szene’ gibt zunächst nur unsere Recherchen, d.h. einen Arbeitsstand wieder, nicht den Stand des Katalogs. Die Blätter sind nicht einzeln katalogisiert und daher auch nicht gezählt. So finden sich teilweise unter einer dem Stichwort „Leben Gundlings“ zugeordneten Signatur (so z.B. der Sign. 3394) zahlreiche Blätter, die in engerem oder weiteren Zusammenhang mit der Entstehung des Gundling­Stücks stehen. Um diese einzelnen Blätter, die unter derselben Signatur katalogisiert sind, identifizierbar zu machen, schlage ich vorläufig die folgende Zitierweise vor: Angabe der Signatur (HMA) + Zitat des Textbeginns in der hauptsächlichen Schreibrichtung des jeweiligen Blattes.
  6. Heiner Müller­Archiv der Akademie der Künste Berlin (HMA), Sign. 3394. Zitate der Manuskripte im Folgenden mit Angabe von Signatur und Benennung des Blatts (vgl. Fußnote 5).
  7. Zum Begriff der „Übermalung“ vgl. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Ders., Shakespeare Factory I. Texte. Bd. 8, Berlin: Rotbuch, 1985, S. 7­14 (hier: S. 14).
  8. HMASign. 3392, Blatt „et in arcadia ego: die / Inspektion“.
  9. HMA 3394, Blatt „Apotheose looks“.
  10. HMA 3394, Blatt „(scape­goal)“.
  11. HMA 3394, Blatt „Autofriedhof“
  12. HMA 3394, Blatt „Proj. Aus dem Preußen des zweiten Friedrich“.
  13. Ebd., vgl. auch HMA 3394, Blatt „Apotheose looks“; Einfügungen in eckigen Klammern: C.S.
  14. HMA 3394, Blatt „Autofriedhof“.
  15. HMA 3394.
  16. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 35.
  17. Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. A.a.O., S. 36. Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe nach dieser Ausgabe (vgl. Fußnote 4).
  18. Ebd.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Ebd., S. 36.
  22. Blatt „Freunde reden lautlos“ (HMA 3393), Einfügung in eckigen Klammern: C.S.
  23. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36.
  24. HMA. 3394, Blatt „Schauspieler wird geschminkt (Lessingmaske)“, Typoskript mit handschriftlicher Überarbeitung.
  25. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36.
  26. Ebd., S. 34ff.
  27. Ebd., S. 34.
  28. Ebd.
  29. Ebd.
  30. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 36f., Unterstreichung: C.S.
  31. Einfügungen in eckigen Klammern: C.S.
  32. Heiner Müller, Die Hamletmaschine. Erstveröffentlichung im Programmheft Ödipus, MünchnerKammerspiele 1977, UA: Théâtre Gérard Philipe, Saint­Denis, 1979, DEA: Schauspiel Essen, 1979.
  33. Heiner Müller, Leben Gundlings… A.a.O., S. 34.
  34. Ebd.
  35. Heiner Müller, Die Hamletmaschine. In: Ders., Mauser. Texte. Bd. 6. Berlin: Rotbuch, 1978, S. 89­97, hier: S. 91.
  36. Heiner Müller, Todesanzeige. In: Ders., Germania Tod in Berlin. Texte. Bd. 5. Berlin: Rotbuch, 1977, S. 31­34.
  37. Mit Bezug auf die langjährige konkrete Arbeit an den Texten und Motiven Leben Gundlings kann deshalb keineswegs die Rede davon sein, dass das Stück „1976 geschrieben“ wurde oder „1976/77 entstanden“ sei, wie es in Quellenangaben der vorliegenden Ausgaben oder der Sekundärliteratur zumeist suggeriert wird.

Papiererbe

Die Manuskriptblätter Heiner Müllers zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei

Dem Theatertext Leben Gundlings sind bislang ca. 104 Manuskriptblätter zugeordnet worden.[1]

Während der Beschäftigung mit den Manuskriptblättern Heiner Müllers zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei leiteten uns sehr unterschiedliche Fragen: Wie kann man sich dem Material nähern? Wie kann man sinnvoll und respektvoll mit diesen Papiermassen[2] umgehen? Macht es überhaupt Sinn, die Manuskripte in eine dramaturgische Auseinandersetzung mit einzubeziehen, und wenn ja, was wäre dann die angemessene Form und was für Konsequenzen würden aus diesem Schritt folgen?

Für uns stellen die Manuskripte ein Papiererbe Müllers dar, das nicht für ein abgeschlossenes Werk steht, sondern sich durch eine besondere Form der Verknüpftheit, Beweglichkeit und Unabgeschlossenheit auszeichnet. Das Um- und Fortschreiben von Thematiken durch Müller, läßt sich anhand der Manuskripte dokumentieren und verdeutlicht zudem den prozessualen Charakter ihrer Entstehung. Mit der Idee des Papiererbes verbinden wir zunächst die Vielzahl der beschriebenen Blätter und zudem die mit dieser Hinterlassenschaft verknüpfte Aufgabe, einen angemessenen Umgang mit diesem Material zu finden, das zu einer besonderen Form der Lektüre herausfordert.

Vor diese Situation gestellt, haben wir uns an die Manuskripte gewagt und einen Text geschrieben, der aus zwei Gründen selbst eine fragmentarische Struktur aufweist. Zum einen vereinigt dieser Text zwei unterschiedliche Auseinandersetzungen, so dass aus dieser Koautorenschaft die besondere Form des Textes resultiert. Zum zweiten hängt die fragmentarische Struktur unseres Textes mit den punktuellen Analysen zusammen, die durch die besondere fragmenthafte, assoziationskettenartige Fülle und Form des Untersuchungsmaterials bedingt werden.

Bei der Betrachtung der speziellen formalen Eigenheiten der Manuskripte sind wir immer wieder auf inhaltliche Fragen gestoßen, die uns ganz besonders eingenommen haben. In diesem Fall ist es die Thematisierung des Todes in seinen unterschiedlichen Facetten. Unsere Auseinandersetzung bietet dabei nur einen minimalen Ausschnitt von Möglichkeiten der Lektüre, verweist jedoch gleichzeitig auf ihre unzähligen Möglichkeiten.

Das Papiererbe Heiner Müllers hat uns im Zusammenhang mit einer intensiven Lektüre von Leben Gundlings auf eine besondere Spur gebracht. Es tauchte die Existenz einer unsichtbaren Verbindung zwischen dem Papiererbe Heiner Müllers zu inhaltlichen Momenten seines literarischen Werkes auf. Diese Verbindung, die wir entdeckten und in ihrer Verknüpfung darstellen wollen, scheint zunächst nicht zwingend und bietet sich doch immer wieder an: In der Szene Lessings Schlaf Traum Schrei spricht ein Schauspieler mit Lessingmaske einen Text, in dem die Stimme des Autors Lessing rückblickend über seine Autorschaft spricht. Diese erzählte Rückschau wird in der Szene zeitlich mit dem Ende seiner künstlerischen Schaffensphase verknüpft. Die Kreativität versiegt.

So wie Müller in seinem Text Überlegungen über einen toten Autor anstellt und ihm eine Stimme gibt, wollen auch wir über „die verbliebenen Stimmen“ des toten Autors, die sich in den Manuskripten niedergeschlagen haben, nachdenken. Außergewöhnlich und besonders erscheint uns, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Thema des rückblickenden Autors in Müllers Text und unserer eigenen Betrachtung auf das Werk des toten Autors Müller.
Heiner Müller stellt auf einem seiner Manuskriptblätter eine Variation der autorisierten Version dar, die einen weiteren Gedankengang zu Lessings literarischem Erbe beinhaltet:

[…]Was bleibt ist ein Haufen Papier
[?] zerfällt
der Staub ansetzt.[…]“[3]
3394, Blatt 1

Das Satzfragment, welches wir nur noch als Durchgestrichenes auf dem Manuskriptblatt vorfinden, legt einen Gedanken zu dem Papiererbe Lessings dar. Beschriebenes Papier ist das, was nach dem Tod des Schriftstellers übrig bleibt. Verstaubtes Papier ist die letzte Spur des Gedankengutes Lessings. Dem Prozess des Zerfalls unterlegen, stellt es das einzige Bindeglied mit der Zukunft dar. Der Welt verbleibt als Erbe beschriebenes, lebloses Papier.

Das Motiv des Papiererbes und das Verhältnis von Tod und Autor finden wir in einem anderen Kontext erneut wieder. In der kurzen Szene Friedrich der Grosse wird der Tod des Herrschers Friedrich des Großen beschrieben. Sie stellt das Ende eines Szenenkomplexes dar, in dem das Verhältnis von Familien- und Machtstrukturen am preußischen Hof thematisiert wird. Der Fokus ist auf das Verhältnis von Vater und Sohn, also von Friedrich Wilhelm zu Friedrich (Friedrich dem Großen) gerichtet. Die Szene Friedrich der Grosse des autorisierten Textes lautet wie folgt:

„Zimmerflucht auf eine schmale Tür in Sanssouci. Vorn der Staatsrat: Kreaturen und Räte, mit Papier. Herzton und Atem des sterbenden Königs. Flüsterchor des Staatsrats, anschwellend: Er krepiert, er krepiert, er krepiert. Herzton und Atem aus. Stille. Wind, der dem Staatsrat das Papier aus den Händen reißt über die Bühne treibt auf der Bühne herumwirbelt. Der Staatsrat jagt Papier. Mehr Papier weht auf die Bühne, in den Zuschauerraum. Vorhang mit schwarzem Adler.[4]

In dieser Szene findet sich wiederum eine Verbindung von Tod und Papier. Nach dem Todesmoment des preußischen Königs weht sein Vermächtnis auf die Bühne. Das Papier wird zum Synonym für ein fliegendes, fliehendes, nicht zu bändigendes Ungetüm, das nicht mehr vom Staatsrat eingefangen werden kann. Es ist wieder Papier, welches vom Verstorbenen übrig bleibt. Das Papier verweist in dieser Szene auf die Installierung und Festigung des bürokratischen Apparates. Dieser soll als Erbe der Amtszeit von Friedrich dem Großen noch lange seine Spuren hinterlassen. Des Weiteren verweist das Papier jedoch auch auf Friedrichs eigene literarische Versuche.

Die Verknüpfung von Tod und Papiererbe stellt ein außergewöhnliches Verbindungselement zwischen Heiner Müllers literarischer Reflektion über das Papiererbe Lessings und Friedrich des Großen dar, die uns in dem Theatertext Leben Gundlings und in den Manuskripten begegnet. Die inhaltliche Engführung dieser zwei Textstellen mit unserer eigenen Schau auf das Papiererbe Heiner Müllers vereinfacht uns den Umgang mit den Manuskripten nicht. Die Thematisierung von Lessings und Friedrichs Papiererbe durch Müller liefert uns keine Direktive, die darauf hinweist, wie wir mit seinen Manuskripten umgehen sollen. Dennoch wird unsere eigene Situation gespiegelt: Unsere Konfrontation mit den Papiermassen, die von Heiner Müller übrig geblieben sind. Auf der einen Seite ist es nur Papier und auf der anderen Seite NUR das, was uns verbleibt und gleichzeitig im Begriff ist, zu verfallen; sich im Sterbeprozess befindet. Es ist die Fragilität des Papiererbes, mit der wir uns – vor unzähligen Einzelblättern im Archiv – konfrontiert sehen.

Manuskript und Transkript

Eine vergleichende dramaturgische Lektüre zwischen Manuskripten und autorisierter Textversion muss die besondere Form des Materials berücksichtigen. Die Arbeit im Archiv ist durch die Besonderheiten des Manuskriptmaterials geprägt. Neben der schier unüberschaubaren Fülle und dem fragmentarischen Charakter der Notizen, sind die Manuskripte durch die Eigenheiten der Handschrift Müllers charakterisiert. Alles Eigenschaften, die einen unmittelbaren Zugang verstellen.

Transkriptionen, die zum Zweck der besseren Lesbarkeit und Verfügbarkeit der Manuskripte angefertigt worden sind, erleichtern zwar eine erste Annäherung, machen jedoch die Auseinandersetzung mit dem Manuskriptmaterial und seiner spezifischen Form nicht entbehrlich. Im Gegenteil. Die Transkripte stehen nicht für sich. Durch die Funktion der Transkripte, Mittler zu sein, wird der Fokus zunächst auf die formalen Eigenschaften von Manuskript und Transkript zurückgeworfen. Aus diesem Grund möchten wir unsere dramaturgische Lektüre über den Weg einer Auseinandersetzung mit den Charakteristika von Manuskript und Transkript eröffnen. Im Folgenden soll zunächst ihre je spezifische Form sowie das Verhältnis der beiden Textformen untersucht werden. Hiermit möchten wir die Voraussetzung schaffen, nach dem Verhältnis von Manuskript und Transkript zur autorisierten Textversion zu fragen.

Der ungeübte Leser ist zunächst mit Müllers Handschrift konfrontiert, mit einem Schriftbild, das sich gegen die Lektüre nachhaltig sperrt. Es bleibt selbst bei einer intensiveren Auseinandersetzung an vielen Stellen uneindeutig und interpretationsbedürftig. Der für das ungeübte Auge zunächst hermetische Charakter von Müllers Schrift zwingt den Betrachter gleichsam dazu, das Manuskript zunächst als Ganzes, in einer bildhaften Ordnung der Gleichzeitigkeit zu erfassen. Hierdurch wird die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Schrift aufgeworfen:

Das Manuskript scheint zunächst mehr Bild als Schrift zu sein. Es wird erst durch eine intensive Entzifferungsarbeit lesbar und damit gleichsam wieder in Schrift ‚verwandelt‘. Will der ungeübte Leser von Müllers Handschrift die Manuskripte sinnerschließend lesen, wird seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Entzifferung des einzelnen Wortes und somit auf den Aspekt des reinen Graphems gelenkt. Erst eine Auseinandersetzung mit dem Schriftbild führt zur Lektüre der Manuskripte. Den Transkriptionen hingegen fehlt die bildhafte Dimension der Manuskripte. Im Gegensatz zum Manuskript zieht die transkribierte Version den Leser durch die leichtere Lesbarkeit augenblicklich in die Ordnung einer linearen, sukzessiven Erfassung von Schriftzeichen und damit zum Entschlüsseln von Sinn.

Es wird deutlich, dass Manuskript und Transkript unterschiedlichen zeichenhaften Ordnungen angehören. Die von Jean Jourdheuil und Julia Bernhard herausgegebene Ausgabe Manuscrits de Hamlet-Maschine[5] trägt diesem Unterschied Rechnung. In dieser Ausgabe stehen sich die photographischen Reproduktionen der Manuskriptseiten Müllers und die Transkriptionen von Julia Bernhard wie Bild und Text gegenüber. Die in diesem Fall gewählte editorische Form reflektiert den besonderen Status der beiden Textformen: Sie konfrontiert den bildhaften, einer augenblicklich sinnerschließenden Lektüre gegenüber hermetischen Charakter der Manuskriptblätter mit der zeichenhaften Ordnung der Transkriptionen. Die Gegenüberstellung der beiden Textformen ruft beim Betrachter eine vergleichende Blickbewegung hervor. Es werden Fragen hervorgerufen, die ihren Ursprung in der editorischen Form nehmen: Diese lenkt die Aufmerksamkeit auf die beiden Textformen als solche und ihre je spezifischen Charakteristika. Sie verdeutlicht jedoch darüber hinaus, dass in der reinen Form von Manuskript und Transkript Informationen enthalten sind, die zum einen über eine rein inhaltliche Ebene hinausweisen, zum anderen aber auf eine inhaltliche Lektüre zurückwirken.

Im Fall der Gegenüberstellung von Manuskript und Transkript in der Edition Manuscrits de Hamlet-Maschine entsteht ein Spiel mit der Form, das sich durch die Begriffe Verbergen und Enthüllen fassen ließe: Auf der einen Seite enthüllen die Transkriptionen den in den Manuskripten ‚verborgenen‘ Sinn dadurch, dass sie Müllers Handschrift in Computerschrift übertragen und somit entschlüsseln. Auf der anderen Seite verbirgt jedoch eben diese maschinenschriftliche Darstellung durch ihren Code die bildhafte Dimension der Manuskripte, die spezifische Form der handschriftlichen Korrekturen und Streichungen und das Prozesshafte dieses Vorgangs. Manuskript und Transkript sind somit nicht eins zu eins ineinander übertragbar. Es handelt sich um je spezifische Darstellungsformen von Text und Schrift, die im Fall der Transkripte einer zeichenhaften Ebene zugehören und mit jeweils unterschiedlichen Fragen verbunden sind. Auch wenn die Transkripte dazu da sind, eine beschleunigte Lektüre zu ermöglichen, transportieren sie, durch ihre Form bedingt, dem Manuskript gegenüber eine Vielzahl von Reduktionen und Verfremdungen. Das Transkript ist demnach keine reine Abbildung oder Darstellung des Manuskripts, sondern es stellt eine Übersetzung desselben dar.

Die mit den Transkripten verbundene Übersetzungsproblematik wird ganz besonders deutlich anhand der Bearbeitungen, die Müller an seinen Manuskripten vorgenommen hat: Die manuell eingefügten Striche zur Markierung von Tilgungen und Änderungen in der handschriftlich erstellten Version tragen zum bildhaften Gesamtcharakter des Manuskripts bei. Sie verwandeln es in eine Art Komposition aus Text und graphischen Zeichen, wobei der Text überwiegt. Dem Versuch, diese graphischen Eingriffe in eine transkribierte Version zu übersetzen, kommt dagegen ein gänzlich anderer Charakter zu. Die am Computer erstellte Transkriptversion vermittelt durch den technischen Charakter der Linien, Pfeile und Markierungen, die die manuellen Striche darstellen sollen, die Illusion von Präzision, als handele es sich um eine exakte Abbildung und Übertragung des Manuskripts. Der Eindruck der Präzision trügt jedoch, da die eingefügten Linien und Striche im Transkript ausschließlich Annäherungen an den Charakter der Manuskriptseite darstellen können. Annäherungen, die gleichzeitig Verfremdungen sind und Verluste transportieren.

Will man nun die graphische und räumliche Anordnung des Textes auf den Manuskriptseiten im Transkript darstellen, dann handelt es sich, wenn man überdies dieses räumliche Verhältnis zu versprachlichen sucht, um eine Potenzierung des Übersetzungsvorgangs. In den Transkriptionen zu Leben Gundlings wird die räumliche Anordnung durch Hinweise wie die folgenden dargestellt:

„[3392, Blatt 3, Typoskript, Ü]
[rechts, oben, Seitenzahl:]
26
[Text, linksbündig:]
der Archive und von der Asche, die aus den
Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden
Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner
immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. Ich
[…]
[links, quer zum Text, handschriftlich:]
4369075
[Ende Blatt 3]“

Die sprachlichen Verweise auf die räumliche Anordnung des Textes auf der Manuskriptseite stehen im Widerspruch zur Position des Textes auf den Transkripten. Eine als linksbündig ausgewiesene Textpassage steht auf dem Transkript mittig, eine mit dem Hinweis „rechts, oben“ versehene Seitenzahl steht links. Der Hinweis „links, quer zum Text“ lässt die genaue Position der Ziffernfolge nur erahnen, steht die Ziffernfolge senkrecht zum Text, oder leicht schräg, mehr links oder mehr rechts geneigt? Auf welcher Höhe des Textes beginnt, auf welcher endet sie? Die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit der sprachlichen Darstellung des graphischen Charakters der Bild-Text-Kompositionen der Manuskripte scheint auf. Im Medium der Sprache scheint die Unübersetzbarkeit der Bildebene auf, die unterschiedliche Ordnung von Sprache und Bild. Müllers Manuskripte, die, wie Julia Bernhard in ihrem Aufsatz zu Bildbeschreibung ausführt, „eine graphische Aussagedimension [enthalten]“, wobei „[d]ie Schrift […] zum Bild [wird]“,[6] lassen sich nicht, oder nur mit gravierenden Verlusten wieder in Schrift übertragen.

Besonders deutlich wird die Unmöglichkeit der sprachlichen Abbildung der Text-Bild-Komposition im Fall von eingefügten Zeichnungen. Auf ihre Existenz kann allenfalls verwiesen werden. Sie sind in den Transkripten nur als Spur, als textliche Ergänzung anwesend, als Zeichnung jedoch ebenso abwesend wie die bildhafte Dimension der Schrift:

 

„[5320, handschriftlich, Ü]
Gundling – Professor – Lessing            {rechts: Zeichnung blaue Köpfe}
F2 – Kleist
Völkerball (Pr. Spiel)
Projektion → Sprecher (Vorleser)
[rechts davon, zwischen schwarz gezeichneten Köpfen:]“

Ein Transkript kann somit nicht als Kopie, sondern muss ausschließlich als Übersetzung gelten. Es bedarf notwendig der Gegenüberstellung mit dem Manuskript, damit der Übersetzungsvorgang, dem es entsprungen ist, sichtbar bleibt. Auch wenn das Transkript die Verfügbarkeit und Lesbarkeit der Manuskripte deutlich verbessert, so handelt es sich um eine Übersetzung mit Verlusten, denen Rechnung zu tragen ist.

Stellt man die veröffentlichte Version des Theatertextes ausschließlich den Transkripten gegenüber, entsteht das Problem der Konfrontation zwischen einer autorisierten Version des Textes und einer Übersetzung. Zwischen diesen beiden Textversionen besteht ein doppeltes Anschlussproblem. Zum einen heißt es, sich der Übersetzungsproblematik zwischen Transkript und Manuskript bewusst zu bleiben, zum anderen, das Verhältnis von Vor- und Nachzeitigkeit der Manuskripte in Bezug zur autorisierten Version zu reflektieren sowie das Problem einer nachträglichen Beziehungsstiftung zwischen den verschiedenen Textstadien zu erkennen. Es gilt, der Versuchung zu widerstehen, vermittels der Manuskripte an eine Dokumentation des Entstehungsprozesses der autorisierten Textversion zu glauben. An den Manuskripten selbst ist keine Chronologie oder gar Linearität des Schreibprozesses ablesbar. Ihre Verbindung muss vielmehr als gewebeartige Struktur verstanden werden. Diese Struktur, die es erlaubt, die Textfragmente der Manuskripte als vielschichtig miteinander verwoben zu verstehen, spiegelt Müllers Arbeitsweise. An den Manuskripten lässt sich ein Produktionsprozess ablesen, der sich durch unterschiedliche Aspekte von Vorläufigkeit, Variation und Kombination, Erweiterung und Abbruch auszeichnet. Alle diese Vorgänge drücken Bewegung aus, die auf Müllers Begriff des Schreibens als Arbeit (Leben ist Arbeit?) zurückzuführen sind. Dem steht die Notwendigkeit entgegen, durch eine Autorisierung eine Festlegung zu treffen, die eine momentane Stillstellung des Arbeitsprozesses darstellt.

Reduktion und Abstraktion

Grundlegend ist festzuhalten, dass von den Manuskriptblättern zu der autorisierten Fassung eine Reduktion und eine Abstrahierung zu erkennen sind. Reduktion und Abstraktion erfolgen im Sinne einer künstlerischen Entscheidung. Sie haben zur Folge, dass zuvor angestellte Überlegungen vom Autor im Endtext nicht mehr zu sehen sind. Mit der Entscheidung, die Manuskriptblätter hinzuzuziehen, wird das Risiko einer beeinflussenden Lesart eingegangen, die eine assoziative, interpretatorische Freiheit des Lesers beschneiden könnte. Es entsteht die Gefahr einer interpretatorischen Lesart ‚im Sinne Heiner Müllers’.

Konkretion – Abstraktion: Öffnung des Textes über Abstraktion

In den Manuskripten Müllers dominieren der fragmentierte Satz und das isolierte Wort. Letzteres tritt häufig in Form von namentlichen Einschüben oder in Form von Aufzählungsketten auf. Es finden sich namentliche Nennungen von Personen, literarischen Figuren, Orten, Ereignissen, Text- und Filmtiteln, Bild- und Musikbeispielen, die zum großen Teil unvermittelt nebeneinander oder in fragmentarischen Satzgefügen stehen. Auf Blatt 10 findet sich z.B. eine Reihe von Namen – Lautréamont, old testament (Jakob), Galotti, Spartacus, Nero, Caligula, Scipio, Charles Manson – die nur zum Teil Eingang in die autorisierte Version gefunden haben:

„[3394,Blatt 10, handschriftlich]
+ old testament (Jakob)
[f?]: Lessing           Lautréamont
d. Kampf mit d. Engel                                   (- of God +
HvKl sp. MK (f. Lessing!)                                                                of history)
(variation of Galotti)
Lessing arbeitend an Spartacus
Auftritt Spartacus                           Nero, Caligula [mearn.?]
Catilina Charles Manson 84
Der große Scipio weinte (Cicero)                                   (king of USA)
(nach dem Bericht des Polybios                                     Kaiser?
als Kartago unterging
[Ende Blatt 10]“

Die vielen namentlichen Nennungen verfügen, zumal wenn sie in der autorisierten Textversion nicht sämtlich erscheinen, über ein widersprüchliches interpretatorisches Potential: Ihnen kommt in ihrer Isoliertheit eine starke Potenz zu. Sie öffnen, zumal wenn sie allein oder im fragmentierten Satz stehen, die Lektüre für eine weitreichende Interpretation, indem sie weiterführende oder auch neue Kontexte transportieren. So transportiert der Name des 1971 hingerichteten „Charles Manson“ den Kontext der mit ihm verbundenen Auftragsmorde und anderer Verbrechen. Der Name des „(old testament) Jakob“ impliziert die gesamte biblische Geschichte Jakobs aus dem ersten Buch Mose des Alten Testaments. Die namentliche Nennung bekannter Figuren bietet der Interpretation somit eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten. Gleiches gilt für Reihungen, die in der Art von „Nero Caligula [mearn?]/ Catilina Charles Manson 84“ zwar auf mögliche thematische Verknüpfungen mit dem Gesamtkontext des Textfragments hinweisen, diese jedoch nicht argumentativ entfalten und benennen und dadurch der Interpretation viel Raum bieten.

Die namentlichen Nennungen enthalten ein Potenzial der Öffnung. Gleichzeitig bedeuten jedoch gerade die Aufzählungen und namentlichen Nennungen in den Manuskripten eine Verengung des Blicks, da sie neben den Kontexten, die sie erschließen, starke Konkretisierungen bedeuten. Es läßt sich eine Art Paradox ausmachen. Auf der einen Seite öffnet die fragmentarische Form der Manuskripte den Text, indem der Fokus stärker auf dem einzelnen Wort, dem einzelnen Namen und seinem Kontext liegt, zum anderen findet sich gerade in den Manuskripten eine Verengung des Blicks und der Interpretation durch eben diese Aufzählungen und konkreten Benennungen.

In der autorisierten Textversion wird, im Gegensatz zu den Manuskripten, eine Öffnung des Textes durch Abstraktion erreicht. Während die namentlichen Nennungen die Interpretation möglicherweise sehr schnell auf einen bestimmten Kontext lenken und so den Vorgang der Assoziation zu unterbinden vermögen bzw. in eine konkrete Richtung weisen, scheinen die in der autorisierten Version gewählten Wendungen eine interpretatorische Freiheit zu gewähren. Eine Gegenüberstellung der Versionen ergibt, dass in der autorisierten Fassung viele der zuvor benannten Kontexte oder Themenkomplexe mitschwingen, ohne explizit benannt zu werden. Es zeigt sich, dass, auch wenn hier die expliziten Verweise fehlen, die gewählten Wendungen und sprachlichen Bilder es vielfach erlauben, durch Assoziationslenkung und Konnotationsketten eine gedankliche Verbindung zu den in den Manuskripten benannten Themenkomplexen herzustellen. Die autorisierte Version führt die in den Manuskripten explizit benannten Themenkomplexe gleichsam als Subtext mit sich. Diese können jedoch nur in einem Interpretationsprozess erschlossen werden und sind somit immer nur ‚potentiell‘ verfügbar. Die autorisierte Version transportiert somit zunächst eine Reihe von Möglichkeiten.

An der Gegenüberstellung einer Textpassage aus der Szene Lessings Schlaf Traum Schrei und Varianten aus den Manuskripten soll dieser Prozess dokumentiert und befragt werden. Auf Blatt 28 steht:

„[3394, Blatt 28, handschriftlich]
[…]
Ich habe Berge v. Papier beschrieben
mit dieser Hand. Das ist nun
vorbei.) Gestern habe ich –“

Der Schaffensprozess der Figur Lessing scheint auf Blatt 28 unmittelbar mit dem Vorgang des Schreibens und seinen materiellen Bedingungen verbunden. Die Figur Lessing beschreibt „Berge von Papier“, wobei Papier hier gleichzeitig Träger der Schrift, Arbeitsmaterial, aber auch Produkt des Schreibprozesses, Metonymie seines Werkes ist. Auf Blatt 20 findet sich in Bezug auf dieses Werk auf/aus Papier eine Konkretisierung in Form von beispielhaften namentlichen Nennungen: Es handelt sich um Stücke und Fragmente, es werden Titel und Inhalte genannt. „[3394, Blatt 20, versch. Stifte, unterschiedl. Lesbarkeit, handschriftlich]“:

„Less.      […]
Ich habe ~ Stücke geschrieben
+ einige Fragmente
(Hamburg. Dram.
Laokoon              d. 7 jährigen Krieg beschrieben wie 2. Weltkrieg
anachronismen“

In der autorisierten Version von Lessings Schlaf Traum Schrei sind diese Konkretisierungen jedoch ersetzt worden:

„Ich habe ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten. Das ist nun vorbei. „[7]

Stellt man eine Beziehung zwischen den unterschiedlichen Manuskriptversionen und der autorisierten Textfassung her, so liegt in der autorisierten Textversion gerade durch die Ersetzung der explizit auf den Schreibprozess bezogenen Elemente aus den Manuskripten – „Berge von Papier“, „Stücke“, „Hamburg. Dram.“, „Laokoon“ – durch die von der konkreten Gegenständlichkeit losgelösten Wendung: „ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt […]“ ein Potential der Öffnung gegenüber den Manuskripten. Diese Öffnung verdankt sich einem Abstraktionsvorgang. Während die Figur Lessing auf Blatt 28 unmittelbar mit dem Vorgang des Schreibens und seinen materiellen Bedingungen verbunden zu sein scheint, wird dieser Vorgang in der autorisierten Version nur mehr indirekt transportiert. An die Tinte des Schriftstellers und somit an den Vorgang des Schreibens gemahnt hier allein die Metapher des ‚Blutes‘, so dass die mit Sägemehl „das [s]ein Blut war“ gestopften Puppen durch einen Interpretationsprozess als die materialisierte Form der dramatis personae, das heißt als das ‚Schreibprodukt‘ bzw. als „die Stücke“ erscheinen können. Die „Puppen“ der autorisierten Version sind somit als Synekdoche des dramatischen Werkes lesbar. Gleichzeitig transportiert die Formulierung „Ich habe ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war“ darüber hinaus ein sehr viel grundsätzlicheres Problem. Mit diesem Satz wird die Beziehung zwischen Autor und Theaterfigur thematisiert. Das Blut des Autors wird für ‚Puppen’ aufgewandt, d.h. er verliert sein Leben an ihr Sägemehl. Der Komplex des Schreibens ist doppelt an den Tod geknüpft. Zum einen bezeichnet der Blutverlust des Autors einen Prozess, der zum Tod führt, zum anderen führt er jedoch auch nicht zum Leben der Puppe, sondern erzeugt sie als Figur. In dem Bild der mit Sägespänen gestopften Puppen scheint die sehr grundsätzliche Frage auf, was eine Theaterfigur sei – eine Frage, die hier nur benannt, nicht jedoch beantwortet werden kann.

In einem ähnlichen Vorgang ist der Titel von Lessings programmatischer Schrift Hamburgische Dramaturgie durch den Ausdruck: „einen Traum von Theater in Deutschland geträumt“ ersetzt worden. In dieser Formulierung spiegelt sich gleichsam der ideelle Überbau der Forderung nach einem Nationaltheater, die in der Hamburgischen Dramaturgie eine Formulierung fand. In ihrer Abstraktion und Unbestimmtheit verweist die Wendung des „Traumes“ somit präzise auf das reformerische Projekt Lessings. 

Die Manuskripte verfügen somit in Form von Satzfragmenten oder Worteinfügungen gegenüber der autorisierten Textversion über einen thematischen Reichtum, eine große Zahl möglicher Handlungsstränge, Themenkomplexe, Regieanweisungen und Namen, die in der autorisierten Version keinen expliziten Niederschlag gefunden haben, gleichwohl jedoch vielfach als Subtext mitgeführt werden.

Die namentlichen Nennungen der Manuskripte könnten somit einer dramaturgisch inszenatorischen Auseinandersetzung mit dem Material als Folie dienen. Es gilt gleichwohl, den autorisierten Text sehr aufmerksam dahingehend zu lesen, ob im Prozess der künstlerischen Arbeit mit dem Material nicht Verschiebungen und Ersetzungen stattgefunden haben, die in der autorisierten Fassung letztlich vollständig andere Aussagen transportieren, als die in den Manuskripten vorliegenden Variationen. Es gilt daher zu vergegenwärtigen, dass sich der Text der autorisierten Version einer künstlerischen Entscheidung verdankt, derzufolge bestimmte in den Manuskripten enthaltene Kontexte entweder gar keinen Eingang in den autorisierten Text gefunden haben oder eine andere Gewichtung der Interpretation erfahren haben.

Aufbau. Umbau. Wiederholung. 

Eine wesentliche Eigenschaft der Manuskripte ist, dass sie nicht immer verständlich sind und einen Rest besitzen, der nicht analysierbar bleibt. Bei einer Interpretation von undurchschaubaren zusammengesetzten Textfragmenten durch das Zufügen von eigenen Assoziationen, kann dieser Vorgang schnell auf Irrwege führen. Deutlich wird die Problematik bei der Betrachtung von Gliederungsblöcken. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Manuskripte und spielen unterschiedliche Gliederungsentwürfe durch. Dabei kann es sich um die Szenenreihenfolge des Theatertextes oder auch um den Aufbau inhaltlicher Strukturketten (Themenverknüpfungen) innerhalb einzelner Szenen handeln, die auf diese Weise mehrfach erprobt und betrachtet werden. Sie werden in ständiger Wiederholung des Aufschreibe-Verfahrens umbenannt, erweitert, durchgestrichen oder ersetzt.

Auf Blatt 4 der Mappe 3394 entwirft Müller den folgenden Szenenaufbau. Dieser Entwurf entspricht nicht dem der autorisierten Version:

„Leben Gundling
Garten in Potsdam. Friedrich Wilhelm mit dem Knaben Friedrich als Leutnant.
Leben Gundlings
Preußische Sp.
.[?]
Katte [?]
Hunde
Rumpelstilzchen
Herzkönig
Lieber Gott
Die Inspekt.
Fr. D. Gr.
H v Kl. sp. MK
Lessing“

Auf Blatt 5 der Mappe 3394 findet man eine veränderte Abfolge der Szenen. Müller benannte einige Szenen um, fügte neue hinzu oder strich einzelne komplett aus dem Gliederungsentwurf heraus.

„1) Gundling
2) Katte
3) Torgauer Heide d. sächsische Witwe
4) D. Torgauer Heide (Metarmophosen[n?]
F2 parallel zu Amputation
Grumbkow in Denkmal verwandelt
versteinert
5) Lessings Schlaf
-was in dem Schlaf für Träume
kommen mögen“

Dieser Textauszug veranschaulicht einen weiteren Gliederungsentwurf, der in seiner Form nicht dem des autorisierten Textes entspricht. Zudem wird durch die Nummerierung deutlich, dass eine Gliederung, aus fünf Teilen bestehend, entworfen wurde. Müller versucht vermeintlich zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Schreibens eine gröbere Gliederung. Unklar bleibt, ob Szenen, die für sich standen, zusammengefasst oder vollkommen aus dem Text gestrichen werden sollten. An den Manuskripten ist keine chronologische Entwicklung der Szenenkomplexe ablesbar. Fängt man an zu beschreiben, wie es zu den unterschiedlichen Aufbaustadien kommt und vergleicht sie miteinander, führt dies zu einer Kette unhaltbarer Spekulationen. An dieser Stelle wird die Grenze der Verwendungsmöglichkeit der Manuskripte deutlich. Es ist nicht zu rekonstruieren, ob zum Beispiel die Szenen „Preussische Spiele“ und „Katte“, die im ersten Zitat als einzelne Szenen für sich stehen, im zweiten Zitat als gemeinsame Szene unter „Katte“ zusammengefasst sind. Des Weiteren ist bereits fraglich, ob es sich bei dem zweiten Zitat um eine real angedachte Szenenfolge handelt oder einfach nur um eine Assoziationskette, die als solche nie eine reale Gliederung dargestellt hat. An diesen Beispielen aus den Manuskripten stößt man an die Grenze einer dramaturgischen Lektüre der Manuskripte. Sie wirken vielmehr als eine Sprengung der Lektüre.

Verschiebung

Anhand des Vergleichs von autorisierter Textversion mit unterschiedlichen Textstellen aus den Manuskripten werden die Möglichkeiten der Verschiebung inhaltlicher Bedeutungen sichtbar. In diesem Zusammenhang möchten wir auch die Verbindung von Tod, Autor und Werk erneut aufgreifen. Die Thematik des auf sein Werk rückblickenden Autors in der Rede des Schauspielers mit einer Lessingmaske soll durch die Untersuchung einer Textstelle zum „toten Fleck“ fokussiert werden. In der Szene wird die Entdeckung des Flecks in Zusammenhang mit dem Sichtbarwerden des Todes am eigenen Körper thematisiert. Im autorisierten Text hat sich Müller auf den folgenden Satz festgelegt:

„Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das Sterben beginnt. Beziehungsweise: es wird schneller. Übrigens bin ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug.“[8]

Der Textauszug beschreibt den begonnenen Prozess des körperlichen Zerfalls, der durch „den toten Fleck“ auf der Hautoberfläche sichtbar wird. Durch die zusätzliche Einfügung der zeitlichen Bestimmung „Gestern“ wird deutlich, dass die Entdeckung bereits einen Tag her ist. Ungewiss bleibt, ob der Tod „Heute“, einen Tag später, noch weitere Territorien auf der Haut erobert hat. Das Auslassen dieser Informationen verleitet zur Spekulation. Das Sichtbarwerden des Todes an der Hautoberfläche verweist jedoch gleichzeitig auf die Unsicherheit, ob der unsichtbare Tod den Körper von innen bereits durchdrungen hat. Es ist die Diskrepanz von innen und außen: also dem Tod, der seine Spuren sichtbar werden lässt und dem, der unsichtbar bleibt und sich erst im letzten Augenblick zu erkennen gibt.

Das Leben wird unterwandert, indem der Tod aus seiner Mitte heraus, gleichsam von innen, von ihm Besitz ergreift. Gibt sich der Tod zu erkennen, war er doch schon immer anwesend. Der Tod kann nur durch das Leben als potentielle Möglichkeit in Erscheinung treten. Er tritt nicht als blitzartiges Ereignis ins Leben. Mit der Geburt wird er gleichsam der Begleiter des Lebens. Leben und Tod sind ineinander verwoben durch den einsetzenden Sterbeprozess, denn Leben und Sterben sind gleich ursprünglich. Heidegger formuliert diese Vorstellung von Tod und Leben als ‚Das Sein zum Tode’: „Seiend zu seinem Tode, stirbt es faktisch und zwar ständig, solange es nicht zu seinem Ableben gekommen ist.“[9] Die Drastik des voranschreitenden Todes wird durch die Gleichsetzung des „Toten Flecks“ mit dem Bild „der Wüste“ zusätzlich unterstrichen. Die Wüste ist die Landschaft des Todes.

In den Manuskripten lassen sich unterschiedliche Variationen dieser Textstelle finden. Auf dem Blatt 19 (3394) schreibt Müller:

„Gestern habe ich auf meiner einen Fleck gesehen
Der war ausgetrocknet – das Sterben
Beginnt od. vielmehr: es wird schneller –“

Zwei Momente der inhaltlichen Verschiebung sind in der ersten Zeile evident: Die nähere Bestimmung des Ortes, an dem er den Fleck gesehen hat, fehlt in der Manuskriptversion. An der Stelle, an der im autorisierten Text das Wort Haut steht, klafft nun eine Lücke. Die Lücke veranlasst zur Spekulation, wo sich der ausgetrocknete Fleck befinden könnte. Das Possessivpronomen verweist zwar auf die Besitzangabe des sprechenden Ich, jedoch wird der Phantasie des Lesers freien Lauf gelassen, jegliches feminines Substantiv einzusetzen, welches sich nicht unbedingt auf den Körper des Sprechers beziehen muss.

Des Weiteren ist der Fleck nicht mit „tot“ wie in der autorisierten Textfassung, sondern mit „ausgetrocknet“ beschrieben. An diesem Beispiel wird deutlich, welch unterschiedliche Bedeutung durch den Austausch eines Wortes erzeugt werden kann. Das Wort „ausgetrocknet“ reduziert die Drastik der Aussage im Gegensatz zum Wort „tot“. Eine trockene Hautstelle kann womöglich wieder geheilt werden. Der Zustand des toten Flecks ist irreversibel.

Dadurch dass der Satz „Gestern habe ich auf meiner einen Fleck gesehen [/] Der war ausgetrocknet“ sich in der Vergangenheitsform befindet, stellt sich die Frage, in welchem Zustand sich der Fleck dann heute befindet? Wieder lässt das Spiel mit den Worten Raum zur Spekulation. Ist der Fleck noch stärker ausgetrocknet oder vielleicht nun auch tot?

Deutlich werden die enormen Bedeutungsverschiebungen, die durch kleine Änderungen erzeugt werden können.

Bruchstellen: Einsatz der fremden Sprache

Beim Lesen der Manuskripte stolpert man über den Einschub von englischen Wörtern. An einigen Textstellen lassen sie einen jedoch ganz besonders aufmerken, da sie beim Lesen eine außergewöhnliche Wirkung erzeugen. Zunächst liest man über die englischen Einschübe hinweg, da sie sich durch eine sprachliche Musikalität eingliedern. Dennoch stellen die fremdsprachigen Einschübe einen Bruch dar. Diese Textstellen rufen eine Distanzierung hervor und zwingen den Leser somit an der jeweiligen Stelle noch einmal über sinnhafte Verbindungen und Entbindungen der englischen Sprache nachzudenken.

Zwischen den Wörtern existiert auch eine Nähe. Sie kann zum Beispiel durch eine gemeinsame Musikalität, die durch sich gleichende Laute erzeugt wird oder auch durch die Nähe der Bedeutungsräume der deutschen und englischen Wörter, erzeugt werden. Zur gleichen Zeit existiert auf Grund der unterschiedlichen Sprache zwischen den Wörtern immer eine Distanz. Versucht man diese durch den methodischen Schritt der Übersetzung aufzulösen, wird dennoch immer eine Differenz beschworen. Zwischen den Wörtern besteht eine distanzierte Nähe.

Die englischen Wörter sind ausschließlich in den Manuskripten eingesetzt. Im veröffentlichten Theatertext sind sie nicht mehr vorhanden. Diese Tatsache lässt vermuten, dass es sich bei der Benutzung von englischen Wörtern um eine Arbeitstechnik im Schreibprozess von Müller handelt. Die vermutlich willentliche Unterbrechung des Schreibprozesses, die durch die englische Sprache ausgelöst wird, erzeugt eine Verfremdung. Die künstlich geschaffene Distanz zum Text ermöglicht dem Autor, ihn in neue Zusammenhänge zu bringen und die inhaltliche Bedeutung von Textstellen genau zu betrachten.

Am folgenden Beispiel möchten wir zeigen, dass das sprachliche Spiel mit den unterschiedlichen Konnotationen der englischen und deutschen Begriffe Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung ist. Die Bedeutungsdimension der englischen Begriffe weicht von derjenigen der ersetzten deutschen Worte ab, indem sie über sie hinausweist oder andere Akzente setzt. Ihr Gebrauch scheint daher nicht nur dazu zu dienen, Bedeutungsfelder auszuloten, sondern überdies die durch die unterschiedlichen Konnotationen transportierten thematischen Felder miteinander in Beziehung zu setzen. Das englische Wort funktioniert dabei wie ein Scharnier, das verbindet, aber gleichzeitig in Bewegung setzt.

An einer Passage aus der Szene Lessings Schlaf Traum Schrei möchten wir im Folgenden zeigen, inwieweit die in den Manuskripten zu dieser Szene verwendeten englischen Begriffe durch ihre von den deutschen Worten abweichenden Konnotationen eine Verzahnung zwischen verschiedenen inhaltlichen Aspekten der in diesem Ausschnitt verhandelten Sprach- und Körperthematik produzieren und reflektieren.

In dem Monolog, des Schauspielers mit Lessingmaske, drücken sich ein wachsender Ekel an der Literatur und das Verlangen eines Schriftstellers, der vielleicht einen gelehrten Diskurs mitgetragen hat, nach Stille aus:

 „30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. Ich habe die Taubstummen um ihre Stille beneidet im Geschwätz der Akademien. Und in den Betten der vielen Frauen, die ich nicht geliebt habe, um ihren lautlosen Beischlaf.“[10]

Der Wunsch nach Schweigen entspringt einem Ekel an der Literatur und ist Ausdruck eines Widerwillens gegen die Leere des wissenschaftlichen Diskurses. Er ist aber auch Ausdruck der Erkenntnis des Versagens der Sprache in Bezug auf das körperliche Begehren. Das Ungenügen der Sprache gegenüber dem körperlichen Akt klingt an, wenn der Schauspieler mit Lessingmaske Neid auf die Taubstummen äußert. Er habe die Taubstummen nicht nur „im Geschwätz der Akademien“ um ihre Stille beneidet, sondern auch „um ihren lautlosen Beischlaf“. Durch den Zusatz, dass er sie „in den Betten der vielen Frauen, die er nicht geliebt habe“, beneidet habe, unterstreicht, dass es ihm um den reinen körperlichen Akt geht, bei dem sich die Sprache als defizitär, als ungenügend erweist.

<>Durch die Hinzunahme der in den Manuskripten benutzten Variation „Ich habe d. Tst. ben. [bei denen die?] Liebe d. Sprache der Körper spricht“ wird dieser Gedanke unterstrichen, da dem Logos dort eine „Sprache der Körper“ entgegengesetzt wird, die gleichsam „stumm“, jenseits des Logos, das heißt unmittelbar bzw. von Körper zu Körper ‚spricht‘. Auf Blatt 18 der Manuskripte heißt es:

„[3394, Blatt 18, handschriftlich]
Ich habe 30 lang versucht
mich mit Worten aus dem Abgrund
zu halten
Ich fange an Text zu vergessen                                 -Wortsuche
desire for silence                                                       ~flucht
lautlose love                                                                        ~verwechslung
Ich habe d. Tst. ben. [bei denen die?] Liebe d. Sprache der Körper spricht
um ihre Stille beneidet im Geschw. der Akad.
[..?] in den Betten der vielen Frauen, die ich nicht geliebt habe
um ihre lautlose Liebe“

Dadurch, dass die in den Manuskripten benutzte Wendung der „Liebe“ im autorisierten Text durch das Wort „Beischlaf“ ersetzt worden ist, wird der körperliche Akt im Gegensatz zur Idee der ‚Liebe‘ betont. Gegenüber der Liebe, die Körperliches und Geistiges vereinigt, wird hier die Körperthematik dominant gesetzt und mit der Sprachproblematik konfrontiert.

Die englischen Wendung „desire for silence“, die auf Blatt 18 der Manuskripte eingefügt ist, stellt eine interessante Verschränkung zwischen der Sprach- und der Körperthematik her. Die Konnotationen der englischen Wendung, die über die der deutschen Worte hinausweisen erlauben es, die beiden Felder zu verbinden:

Der englische Begriff ‚desire‘ aus „desire for silence“ transportiert z.B. eine sexuelle Konnotation im Sinne eines fleischlichen Verlangens, eines Begehrens, das sich im Gegensatz zum deutschen Ausdruck ‚Sehnsucht nach Schweigen‘ der autorisierten Version unmittelbar in Beziehung zur Beischlafs- bzw. ‚Liebesthematik‘ setzen lässt. Da jedoch der sexuell konnotierte Begriff ‚desire‘ nicht explizit mit einer die Liebe betreffenden Vokabel verbunden ist, sondern das Begehren des Sprechenden nach „silence“, Stille, ausdrückt, werden diese beiden Felder gleichsam verknüpft. Doch auch zwischen den Begriffen ‚silence‘ und ‚Schweigen‘ besteht ein grundsätzlicher Unterschied. Während Schweigen sehr eng an das Sprechen rückgebunden ist, da es das Verstummen der Rede, des Sprechens bedeutet, ist der Begriff ‚silence‘ auch losgelöst vom Sprechen zu verstehen. Er ist allumfassender. Mit ‚silence‘ [„Geräuschlosigkeit, Ruhe, Schweigen, Stille, das Stillschweigen“] ist in extremis die Abwesenheit jeglichen Geräusches gemeint, was in Reinform vielleicht nur im Tod gegeben ist.

Sprache. Tod. – Tod. Schreiben.

Beim Versuch die Besonderheiten der sprachlichen und formalen Charakteristika der Manuskripte zu fassen und ihre Konsequenzen für eine inhaltliche Analyse darzustellen, haben sich uns immer wieder Beispiele zur Lektüre angeboten, die inhaltlich um die Frage des Todes kreisen. So ist auch der Monolog des Schauspielers mit Lessingmaske, in dem dieser eine Sehnsucht nach Schweigen und Neid auf die Taubstummen artikuliert, als intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper, Sprache und Tod lesbar. Der Monolog drückt nicht allein einen wachsenden Ekel an der Literatur und ein Verlangen nach Stille aus, sondern teilt überdies mit, dass diese Figur, Schauspieler mit Lessingmaske und Autor in einem, im Begriff sei, ihren „Text zu vergessen“, d.h. sich auf dem Weg ins Schweigen befinde. Sie habe „30 Jahre lang“ versucht, sich „mit Worten […] aus dem Abgrund zu halten“, d.h. sich dem Tod entgegen zu stellen und sei nun im Begriff, ihren Text zu vergessen:

„30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. […] Ich fange an, meinen Text zu vergessen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch. Bald werde ich keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt.“[11]

Durch die Evozierung des Abgrundes scheint auf, dass in dieser Passage sehr grundsätzlich die Frage nach der spezifischen menschlichen Verfasstheit gestellt wird, die Frage nach dem Menschen als sprechendem und sterblichem Wesen. Neben der spezifischen menschlichen Bedingung, sterblich zu sein und die ‚Erfahrung des Todes‘ machen zu können, ist es sein Sprachvermögen, das ihn von den anderen Lebewesen unterscheidet. Der Sprache kommt dabei in verschiedener Hinsicht eine bedeutsame Rolle zu.

Der Mensch wird in sie, die ihn in gewisser Weise transzendiert, hineingeboren. Seine Existenz ist in den Kontext einer Überlieferung, in den Kontext einer bereits bestehenden sprachlichen Ordnung gestellt. Mit dem Eintritt in die Sprache erhält der Mensch einen gesellschaftlichen Körper.

In Bezug auf den Autor stellt die Sprache das Mittel dar, mit dem er sich gleichsam dem Tod entgegenstellt und der Nachwelt verbunden hat. Das Vergessen der Worte, der Verlust der Sprache, dessen, was den Menschen dem Abgrund des unbenannten Lebens entreißt, weist auf das Sterben, in diesem Fall auf das Sterben des Autors und das Ende seiner Autorschaft hin. Die besondere Formulierung, dass der Autor anfange, seinen „Text“ zu vergessen, erinnert überdies an den besonderen Status der ‚Lessingfigur’ als Theaterfigur:

 „Ich fange an, meinen Text zu vergessen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch. Bald werde ich keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt.“[12]

Es ist die Sprache, die den Menschen dem Tod entreißt und ihn gleichzeitig die ‚Erfahrung‘ machen lässt, sterblich zu sein. Mit dem Satz „Bald werde ich keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt“ wird die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Tod wieder aufgenommen. Zieht man zu dieser Version die Varianten hinzu, mit denen in den Manuskripten das fortschreitende Verstummen der Lessingfigur bedacht wird, so lässt sich das Verhältnis von Sprache und Tod näher befragen:

„[3394, Blatt 1, Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen]
n
[…]                                        Ich fabge an, meinen Text zu vergesse
sen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch. Bald werde ich
keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen
schreit
Worten sucht.“

Zwischen einer Stimme, die nach verlorenen oder vergessenen Worten „fragt“ [autorisierte Textversion] und einer Stimme, die nach vergessenen Worten „sucht“ [Blatt 1] oder „schreit“, besteht ein fundamentaler Unterschied. Eine Stimme, die nach vergessenen Worten „schreit“, ist durch die Ausdrucksform des Schreis als reine phoné, als rein lautliche Größe charakterisiert. Dieser Stimme kommt keine Bedeutungsdimension auf der Ebene des Logos zu, sie ist ein Grenzfall. Was ist indes unter einer Stimme zu verstehen, die nach vergessenen oder verlorenen Worten „fragt“? Der Gedanke einer Stimme, die nach Worten fragt, ist irritierend. Es klingt ein Paradox an. Eine Stimme, die fragt, scheint im Gegensatz zu einer Stimme, die schreit und damit rein lautliche Größe ist, noch eine Verbindung zur Dimension der Sprache zu unterhalten. Gleichwohl ist eine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt, also ohne Worte fragt, jenseits des Logos als der Sphäre des Bedeutens angesiedelt. Die Formulierung, „eine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt“, transportiert somit die Idee einer Stimme, die nicht mit der Dimension des Sagens und Bedeutens, aber auch nicht mit der rein lautlichen Dimension der Stimme, der reinen phoné, identisch ist.

Ein Versuch

Bei dem Versuch das Papiererbe Müllers zu beschreiben, riskiert man ständig, sich zu verlaufen. Dennoch besitzt das Ganze eine Art Verknüpfung- oder Vernetzungssystem, das dasTextmaterial (damit sind alle Schriften gemeint) und uns als Rezipienten miteinander verbindet. Dieses Prinzip taucht an einigen Stellen auf, ist jedoch schwer zu fassen, da es sich durch die Fülle der Texte schell wieder entzieht, um zu verschwinden. Die Struktur der Vernetzung, auf deren Spur wir uns befinden, beginnt im Schreiben Müllers und setzt sich also durch bis hin zu unserer Konfrontation mit dem Papiererbe.

Der Schreibprozess ist in ständiger Bewegung. Er endet bei Müller nicht durch die Veröffentlichung, sondern mit dem Tod. Nur durch die Beendigung des Schreibprozesses können wir als Lesende das gesamte Textmaterial (rückblickend) betrachten. In Verbindung mit seinem Text wird jedoch deutlich, dass Müller den Tod selbst mitgeschrieben hat. Nur durch eine doppelte Rückschau, die sich zum einem aus Müllers Beschäftigung mit dem toten Autor Lessing und zum anderen aus unserem Rückblick auf diese Auseinandersetzung und Müllers Autorschaft ergibt, wird die Verbindung von Autor, Text und Leser deutlich. Nur durch den Abbruch des Schreibens und das Ende des Eingreifens Müllers auf zuvor entstandene Texte kann sichtbar werden, was er dem Schauspieler mit Lessingmaske in den Mund legt.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Diese Angabe stammt aus Christina Schmidts Eröffnungsvortrag Führung durch die Manuskripte-Ausstellung – Bericht über die Arbeit mit der Gundling-Transkription zum Müller Workshop Fixieren und Bewegen. Heiner Müllers Inszenierungen auf Papier.
  2. Julia Bernhard schätzte anlässlich des Heiner Müller Workshops Fixieren und Bewegen. Heiner Müllers Inszenierungen auf Papier im März 2006 die Anzahl der Blätter mit Vorsicht auf 50 000-80 000.
  3. An dieser Stelle sei darauf hin gewiesen, dass mit dem Zitierverfahren von Textfragmenten das Gesamtbild eines Manuskriptes beziehungsweise Transkriptes leider nicht formgerecht eingehalten werden kann. Trotz unserer kritischen Überlegungen, die wir hinsichtlich der Transkripte anstellen werden, werden wir aus Gründen der Zitierbarkeit und der Nachvollziehbarkeit uns der Hilfe der Transkripte bedienen, im vollen Bewusstsein darüber, dass wir unseren eigenen geäußerten Bedenken den Transkripten gegenüber nicht immer gerecht werden können.
  4. Heiner Müller: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Die Stücke 2 Werke, Band 4, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, S. 532.
  5. Jourdheuil, Jean (Hrsg.): Heiner Müller: Manuscrits de Hamlet-Machine, Paris: Minuit 2003; Transkriptionen von Julia Bernhard.
  6. Bernhard, Julia: »So wurde allmählich dieses Bild ‚mit Schrift bedeckt’ …«. Das Konvolut Bildbeschreibung im Nachlass Heiner Müllers, in: Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, hrsg. von Ulrike Haß, Theater der Zeit 2005. (=Recherchen 29), S. 19-30, hier S. 21.
  7. Müller, S. 533.
  8. Müller, S. 533
  9. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 14. durchges. Auflage mit d. Randbemerkungen aus d. Handex. d. Autors im Anh., Tübingen: Niemeyer 1977, S. 259.
  10. Müller, S.534.
  11. Müller, S. 534
  12. Müller, S. 534

Ein Traum vom Theater in Deutschland

Heiner Müllers produktive Rezeption von Lessings Wie die Alten den Tod gebildet

Dass dem abschließenden Lessing-Triptychon in Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei[1] eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen ist, wurde von Müller betont. Die Forschung hat das gerne wiederholt.[2] Wesentlich für diese Deutung sind die biographischen Parallelen zwischen Lessing und Müller:

  • Beide wurden im Januar ’29 in Sachsen geboren: 1729 bzw. 1929.
  • Beide sind schon früh erfolgreiche Dramatiker, müssen sich freilich als Kritiker durchschlagen und werden Dramaturgen.
  • Beide leben als Sachsen in Preußen (bzw. seinem Nachfolge-Rest), in einem autoritären Staat, der sich jeweils die Kunst dienstbar aneignet.
  • Beide sind Beispiele für das Ideal des freien Schriftstellers, das von Lessing entwickelt wurde,[3] weswegen ihn Müller eine „Vorbildfigur“[4] genannt hat.

Schaut man allerdings genauer hin, zeigt sich schnell, dass es jenseits dieser Eckdaten kaum Parallelen zwischen Lessing und Müller im Alter von 47 Jahren gibt (Müller schrieb den Text 1976).[5] Ja man muss sagen, dass Müller die Parallelität gezielt konstruiert hat. Das zeigt sich besonders, wenn man bedenkt, was Müllers Text von Lessings Zeit seit der Hamburgischen Dramaturgie unterschlägt.

In der Lessing-Forschung gilt eben diese Zeit als problematisch: „Das Wolfenbütteler Jahrzehnt steht innerhalb der Lessingrezeption bis heute unter eigentümlich ambivalenten Vorzeichen.“[6] Der 47jährige Lessing lebte nicht mehr im preußischen Berlin, sondern im welfischen Wolfenbüttel. Seit dem Scheitern des Hamburger Theaterprojekts, das in der Hamburgischen Dramaturgie seinen literatur- und theaterkritischen Niederschlag gefunden hatte, war Lessing privat wie beruflich viel geglückt. Noch 1767 lernte er in Hamburg Eva König kennen, deren Ehemann zwei Jahre später starb, so dass einer Verlobung 1771 nichts mehr entgegenstand. Voraussetzung dafür war, dass Lessing 1769 in Wolfenbüttel die Stelle eines Bibliothekars angeboten wurde – ein Amt, das ihn finanziell unabhängig machte. Lessing hatte sich also im Alter von 47 vom Ideal des freien Autors verabschiedet und statt dessen eine Stelle im öffentlichen Dienst angenommen. Nichtsdestotrotz war Lessing als Dramatiker in dieser Zeit erfolgreich. Minna von Barnhelm wurde 1768 in Berlin uraufgeführt, Emilia Galotti nahm im Hochzeitsjahr 1771 Form an und hatte am 13.3.1772 in Braunschweig Premiere.

Vor allem aber hatte Lessing im Alter von 47 noch nicht seinen Traum vom Theater ausgeträumt anders als es Müller eingangs des Lessing-Triptychons LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI schreibt: „Ich habe […] einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt […]. Das ist nun vorbei.“ (S. 533) Müller zitiert damit den berühmten Satz Lessings aus dem letzten Stück der Hamburgischen Dramaturgie, dass der „süße Traum, ein Nationaltheater […] zu gründen, […] schon wieder verschwunden“[7] sei. Er unterschlägt damit Lessings eigene Einschränkung „hier in Hamburg“, was nicht unerheblich ist. Denn das Hamburger Projekt war zwar gescheitert. Erst im auf die Hochzeit folgenden Jahr 1777 lehnte Lessing die Leitung des Mannheimer Theaters definitiv ab. Und das geschah vielleicht auch, aber nicht nur, weil er einen Traum ausgeträumt hatte. Lessing fühlte sich für seine Frau verantwortlich und wollte eine Familie gründen.

Schon diese Hinweise dürften verdeutlichen, wie wenig die Engführung zwischen Lessing und Müller im Detail zu überzeugen vermag. Man darf davon ausgehen, dass Lessing die Vorteile, die sich ihm in Wolfenbüttel boten, zu schätzen wusste. Andererseits war Wolfenbüttel selbstverständlich der Ort, der die erhoffte Meinungsfreiheit nicht brachte, das sollte der Fragmentenstreit zeigen. Auch verschlechterte sich dort sein Gesundheitszustand zunehmend. Der gesellige Lessing vereinsamte und sollte hier auch Frau und Kind verlieren.

Gerade dieser letzte Punkt hat in der Müller-Forschung wiederholt für Aufmerksamkeit gesorgt. Der Tod von Lessings einzigem Kind und seiner Frau Eva König im Wochenbett wird gerne mit dem Selbstmord von Inge Müller in Verbindung gebracht. Emmerich schreibt im Müller-Handbuch: „Zugleich spielt dieser Monolog auf Lessings Verlust seiner geliebten Frau Eva König im Januar 1778 an (also zwei Jahre nach dem fiktiven Zeitpunkt der Lessing-Szene Müllers) […].“[8] So reizvoll solche Vergleiche sind, man sollte vorsichtig damit sein. Zum einen, weil Inge Müller Selbstmord beging und Eva König eines im 18. Jahrhundert gewöhnlichen Todes starb. Zum anderen, weil es Lessings wie Müllers Auseinandersetzung mit dem Thema Tod auf ein individuelles, psychologisches Moment reduziert. Das hat Müller, wie erwähnt, durch zahlreiche Äußerungen selbst provoziert, etwa im zitierten Interview mit Frank Feitler oder, wie wir noch sehen werden, in Krieg ohne Schlacht.

Wie intensiv Müller die biographischen Parallelen bei der Entwicklung von Leben Gundlings bedacht hat, belegen zudem die Nachlass-Manuskripte zu Leben Gundlings in der Akademie der Künste, Berlin. Dort findet sich beispielsweise der Hinweis auf die „own story“,[9] die die Beschäftigung mit Lessings Biographie berühre. Aber Müller markiert ebenda auch die Differenz zwischen sich und Lessing: „Frau – Kind – gestorben“. Zu Inge Müllers Selbstmord notiert er ebenda den sachlichen und unmetaphorischen ersten Satz aus Todesanzeige:[10] „sie war tot || als ich nach Hause kam“.

Ich betone all diese Details, weil der Biographismus der Forschung den Blick auf Müllers Auseinandersetzung mit Lessings Texten versperrt hat – also auf den Leser Müller, der in der Lektüre wie in der eigenen literarischen Produktion zugleich den Dialog mit den Toten gepflegt hat. Durs Grünbein hat diese Form der produktiven Rezeption präzise auf den Punkt gebracht: „Vielleicht war er ja wirklich der letzte, der noch täglich Verbindung hielt zu den verlorenen Seelen dieser Nationalliteratur, ein Vertrauter der Lessing, Büchner und Kleist, mit denen er die Prozesse des zwanzigsten Jahrhunderts beriet.“[11] Was Grünbein hier andeutet, hat seinen Kern in der für Müller wesentlichen Rezeption der Geschichtsphilosophie Benjamins, die eben nicht auf Vergegenwärtigung der Tradition zielt, sondern auf das Freilegen ihres subversiven, revolutionären Potentials, das von den Herrschenden tot geschwiegen wird. Wie wir sehen werden, ist dieser Gedanke für Müllers Dialog mit Lessing wesentlich.

Wichtiges künstlerisches Kompositionsprinzip von Leben Gundlings ist, und das betonen zumal die Szenen und Notizen im Nachlass, die Collage.[12] Wir haben es mit Lessing-Szenen zu tun, die über dessen Biographie deutlich hinausweisen, vielmehr auf den Autor Müller hinweisen und zugleich immer auch ihre eigene Literarizität reklamieren. Ein Beispiel dafür ist der in Hamletmaschine wieder zitierte Satz[13] „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.“ (S. 533f.)

Der auf Hamletmaschine vorverweisende Lessing-Monolog wird im Müller-Handbuch mit einer Maske verglichen, durch die hindurch der Autor Müller spricht.[14] Das leuchtet vordergründig ein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Autor Müller nicht eine weitere Maske ist, durch die hindurch dann ein Drittes spricht. Doch was wäre das dann? Der Text? Sein Sinn? Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist es für die Beantwortung dieser Fragen hilfreich, sich zu verdeutlichen, was Grünbeins Metapher vom Gespräch mit den Toten genauer meint. Dafür reicht es nicht aus, lediglich Müllers Benjamin-Rezeption zu berücksichtigen. Es muss auch seine Auseinandersetzung mit Lessings Wie die Alten den Tod gebildet[15] in den Blick genommen werden. Denn auch wenn eine solche Querverbindung von der Forschung bisher nicht gezogen wurde, kommt man nach Sichtung des Archivmaterials nicht daran vorbei, dass Müller diesen Text produktiv rezipiert hat.[16] Abschließend werden einige, sich daraus ergebende Querverbindungen zur auf Leben Gundlings folgenden Hamletmaschine gezogen.

Lessing hat sich wiederholt mit dem Thema Tod auseinandergesetzt – in Briefen, in seinen literarischen Texten und eben auch philologisch in Wie die Alten den Tod gebildet. Diese 1769 in Berlin bei Voß publizierte Studie ist gewissermaßen ein Nachtrag zu seiner umfangreichsten und wirkungsmächtigsten kunsttheoretischen Schrift, dem Laokoon, der drei Jahre zuvor erschienen war.[17] Dort hatte Lessing am Rande die These aufgestellt, dass in der Antike der Tod nicht als Skelett, gar mit Schrecken verbreitender Sense, sondern als Bruder des Schlafes dargestellt wurde. Diese These aus dem Laokoon wurde in der Folgezeit wiederholt angegriffen, insbesondere vom Hallenser Philologen Christian Adolf Klotz. Lessing, der zeitlebens keinem Streit aus dem Weg gegangen ist, legte sich mit Klotz gerne an. Wie die Alten den Tod gebildet ist also zugleich auch eine gelehrte Streitschrift. Die beiden wesentlichen Thesen Lessings präzisieren und erweitern das im Laokoon Ausgeführte:

    • In der Antike war der Tod ein Zwillingsbruder des Schlafes, häufig dargestellt als Genius mit einer gesenkten Fackel.
    • Skelettdarstellungen stehen für die so genannten Larvae, die Seelen bösartiger Toter.

Diese zweite These ist von der Altertumskunde widerlegt worden, während die erste These bis heute gültig ist. [18] Die präzise, betont akademische und wegen der ad-personam-Polemik gegen Klotz immer unterhaltsame Schrift braucht hier nicht weiter zu interessieren, auch ihre teilweise begeisterte Rezeption etwa durch Herder und Goethe kann vernachlässigt werden. Entscheidend sind für Müllers Umgang mit Lessing lediglich die letzten drei Absätze von Wie die Alten den Tod gebildet. Lessing abstrahiert dort von seinem Gegenstand und geht grundlegend auf das Verhältnis von Tod und Schrecken in den Künsten ein:

Gleichwohl ist es gewiß, daß diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, dass auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren mußte. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte, ohne Offenbarung, schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte.[19]

Die Pointe von Wie die Alten den Tod gebildet ist, dass nach Meinung Lessings erst mit der Offenbarung, also mit der Verkündigung der Gesetze an Moses und dann durch die Erneuerung des Bundes zwischen Gott und Menschheit durch Christus, der Tod ein Ereignis des Schreckens geworden sei. Ohne Offenbarung sei dem Tod nichts Schreckliches eigen. Lessing folgert dementsprechend: „Von dieser Seite wäre es also zwar vermutlich unsere Religion, welche das alte heitere Bild des Todes aus den Grenzen der Kunst verdrungen hätte.“ Lessing fordert sodann „unsere Künstler“ auf, „das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben, und sich wiederum in den Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.“[20] Was Lessing mit dieser Forderung aus seiner antiquarischen Forschung ableitet, ist nicht weniger als eine Befreiung des Todes von seiner Schreckensgestalt.

Dass Lessings Studie für Müllers Stück wesentlich ist, legt zunächst der Aufbau des ersten Teils des Lessing-Triptychons nahe (S. 533f.). Die beiden zentralen Begriffe der Szene sind „Schlaf“ und „Tod“. Um sie herum ist ein Isotopiengeflecht angelegt: Für das Wort „Schlaf“ sind das Wendungen und Worte wie „Augen schließen“, „Nacht“, „Schlafen ist gut“; für „Tod“ sind das unter anderem „Blut“, „vorbei“, „toter Fleck“, „Wüste“, „Sterben“, „tote Gäule“, „Hölle der Frauen“, „Der Tod ist eine Frau“ oder „Autofriedhof“. Und dass es hier um das Verhältnis von Schlaf und Tod geht, wird zudem durch die Thematisierung des Traums bei Lessing deutlich.

Müller konstruiert dabei einen paradoxen Chiasmus, der Lessings Theaterutopie betont: Wenn Lessing schlief, träumte er nicht. Nur wenn er wach war, träumte er, nämlich vom Theater in Deutschland. Das hat sich in der Gegenwart der Szene grundlegend verändert. Lessings Sterben hat begonnen, er nähert sich dem Tod an, was metaphorisch durch die Vergessensassoziationen versinnbildlicht wird: „Vergessen ist Weisheit. Am schnellsten vergessen die Götter.“ Damit rekurriert Müller implizit auf den Fluss Lethe, aus dem die Verstorbenen trinken, damit sie vergessen und erst dadurch zu Toten werden. Den Abschluss der Szene bildet dann das Bruderpaar Schlaf und Tod: „Schlafen ist gut. Der Tod ist eine Frau“.

Auch wenn Müller das Schlafen hier nicht personifiziert – dass es trotzdem in Analogie zu Lessings Studie durchaus angemessen ist, vom Bruderpaar zu sprechen, unterstützt das Archivmaterial: Müller schreibt: „Schlafen ist eine gute Sache. Bruder Tod.“[21] Doch wird „Bruder Tod“ durchgestrichen. Müller tilgt einen expliziten Hinweis auf Lessing zu Gunsten eines Aussagesatzes, der seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tod und Geschlecht in Hamletmaschine und Medeamaterial pointiert vorwegnimmt: „Der Tod ist eine Frau.“[22]

Das sind die konkreten Spuren, die auf Lessings kritische Studie aus dem Jahr 1769 verweisen. Wie die Alten den Tod gebildet ist zudem die wichtigste Schrift, die zwischen der Hamburgischen Dramaturgie und Emilia Galotti erscheint. Dass sich Müller mit dieser Zeit intensiv auseinandergesetzt hat, belegt das Archivmaterial,[23] wo u.a. die Stichworte „Hamburg[ische] Dram[aturgie]“, „Laokoon“ und „7jährige[r] Krieg“ fallen und wo er knapp den Bezug zum eigenen Leben herstellt: „own story“, aber, wie gesagt, nicht in Form einer Parallelisierung, sondern durch Markierung von Differenz.

Müller zielt mit dem Lessing-Triptychon auf Ähnliches wie Lessing, auf eine Befreiung. Gänzlich gleich ist diese Befreiung aber nicht. Im Archiv findet sich eine Vorstufe zum zitierten Schluss der ersten Lessing-Szene: „Schlafen ist eine gute Sache | Ob Gott existiert oder nicht | Der Tod ist eine Frau.“[24] Diese Notiz formuliert den wesentlichen Unterschied zu Lessings Überlegungen: Müller denkt die Nähe zwischen Schlaf und Tod unabhängig von der Existenz Gottes. Das ist bei Lessing anders. Bei ihm ist die Existenz zumindest einer göttlichen Instanz Voraussetzung. Er denkt über Schlaf und Tod als Zustand nach. Müller dagegen geht es nicht um eine philosophische oder kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern um die Toten selbst: „liberation of the dead“.[25]

Beide Formen der Befreiung, die der Toten wie die des Todes, sind die beiden miteinander verwandten künstlerischen Utopien der beiden Dramatiker. Der Unterschied ist der, dass Lessings Befreiung primär ein ästhetisches, diejenige Müllers ein politisches Anliegen verfolgt. Nachdem dieser mit Philoktet Lessings Schmerzästhetik widerrufen hat,[26] wendet er sich am Ende des Lessing-Triptychons grundlegend der Todesästhetik Lessings zu und führt ihr Scheitern vor Augen, das in einem Schrei – dem Laokoons? – seinen Schlusspunkt findet: „Die Kellner […] verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befreien. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei.“ (S. 535f.) Lessings Befreiung von der Büste scheitert und damit zugleich seine aufgeklärt-ästhetische ‚liberation of death’. Doch was meint das konkret? Auf was zielt Müllers „liberation of the dead“ im Unterschied zu der Lessings?

Wenn dieser in Wie die Alten den Tod gebildet dem Tod seinen Schrecken nehmen will, so ist das programmatisch zu verstehen. Lessing arbeitete Ende der 1760er Jahre an einer ‚Bändigung des Schreckens’. Zuvor, in der Hamburgischen Dramaturgie, hatte er den Schrecken systematisch aus der Dramenpoetik auszugrenzen versucht und statt dessen die Furcht als wesentliche Kategorie der Tragödie neben dem Mitleid etabliert:[27]

Man hat ihn [Aristoteles] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist […] die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.[28]

Eben ein auf sich selbst bezogenes Mitleid betont Müller in Krieg ohne Schlacht, da er auf sein Lessing-Stück eingeht: „Wenn ich aus Gundling zitiere, werde ich traurig, in dem Stück ist Mitleid. Mitleid mit allem, was da beschrieben wird.“[29] Bemerkenswert an diesem vielfach zitierten Satz ist Müllers Perspektive auf das Stück. Er spricht nicht als Autor, sondern schlüpft in die Rolle des Rezipienten seines eigenen Dramas. Aus dieser Rezipientenposition heraus erklärt er Mitleid zu einer faktischen Wirkungskategorie von Leben Gundlings.

Dramentheoretisch kann das Stück als Kommentar zur durch Lessing kritisch vermittelten, aristotelischen Poetik verstanden werden. Dem Lessing-Triptychon ist nämlich eine wirkungsästhetische Dimension eigen, die auf eine Veränderung von Erfahrung zielt und die sich dabei eines Mitleids bemächtigt, dem die kathartische Wirkung fehlt. In Leben Gundlings bricht die Erfahrung zusammen, dass es nicht die eine Geschichte gibt, sondern immer die Geschichten und dass neben der Heldengeschichte oftmals auch eine Mitleidsgeschichte existiert.[30] Müller schreibt also – ganz in der Tradition Benjamins – gezielt gegen die normierende, materialistische Klassikerverehrung, die Lessing umfangreich zuteil wurde.[31] Er verfasst damit einen dramatischen Kommentar[32] gegen die herrschende Tradition der Auslegung und bietet so einen anderen Blick auf die Geschichte. Leben Gundlings zeigt die andere Seite des Klassikers Lessing – aber nicht im Sinne eines Gegenbilds oder einer Negativfolie, sondern in Form einer Mitleid erweckenden Figur, die sich jedem Versuch der zum steinernen Standbild tendierenden Klassikerverehrung widersetzt, indem sie den Blick frei gibt auf den Menschen.

Das macht auch nach Lessings Meinung die Großen für das Trauerspiel geeignet. Aber Lessing äußert seine Überlegungen zum Trauerspiel nicht nur angesichts eines gänzlich anderen Erfahrungshorizonts. Sein Trauerspielbegriff im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai und im Tränenerfolg Miss Sara Sampson ist selbstverständlich ein anderer als der Müllers, wie schon deren verwandter, aber eben keinesfalls gleicher Mitleidsbegriff zeigt.

Mit Leben Gundlings kreist auch Müller um die Möglichkeiten der Tragödie.[33] Anders als Lessing hat er sich jedoch nie der Mühe unterzogen, den Begriff ‚Tragödie’ bzw. ‚Trauerspiel’ zu definieren. Er lässt sich nur aus seiner schriftstellerischen Praxis erschließen. Müllers schreibt für das Andere der Geschichte und für die Widersprüche und gegen ein Geschichtsbild und ein Tragödienkonzept der idealisierenden, stiftenden Heldenverehrung. In Leben Gundlings exerziert er das beispielhaft an Friedrich II., Kleist und Lessing durch – als „Befreiung der Toten“, die Müller selbst als „Benjamins Traum vom Kommunismus“ bezeichnet hat.[34] Müllers Tragödienbegriff orientiert sich am Trauerspielbegriff Benjamins im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925).[35] Er legt mit Leben Gundlings eine Spielart tragischer Dramatik vor, die über ihr allegorisches Personal funktioniert und die frei von empfindsamer Katharsis ist.

Der Umgang mit Lessing ist dabei besonders bemerkenswert, weil er über die bloße Darstellung des Anderen, des Gegenbilds hinausgeht. Müller gibt dem in der DDR durch die Erbepflege mundtot gemachten Aufklärer seine Stimme als Schrei zurück. Was als eine direkt an das Mitleid des Theaterzuschauers adressierte Regieanweisung gedeutet werden kann, ist zugleich ein Verweis auf Lessings Ästhetik. Dadurch gelingt es Müller, in doppelter Hinsicht die Möglichkeit des Tragischen zu reflektieren: Auf der Handlungsebene als tragische Groteske über das Mundtotmachen der klassischen Literatur und auf der Metaebene als Kommentar zum klassischen Tragödienkonzept.

Indem Müller das Mitleid als zentrale Kategorie des Dramatischen betont, revitalisiert er das Tragische insgesamt. Dem ist ein Strukturmoment eigen, das Peter Szondi – im Anschluss an Benjamin – als ‚dialektische Identität von Steigen und Fallen’ gefasst hat.[36] Erst sie macht die Lessingfigur in ihrer Tragik für Müller interessant. Er entwirft, wie schon gesagt wurde, nicht einfach ein Gegenbild, den anderen Lessing, wie das in der Folge der Lessing-Legende des Sozialdemokraten und Mitbegründers des Spartakusbundes Franz Mehring in der materialistischen Lessing-Biographik üblich war.[37] Deswegen geht auch Emmerichs Maskenmetaphorik nicht auf, weil es in Leben Gundlings nicht die eine Wahrheit bzw. das ‚echte’ Lessing-Antlitz gibt. Lessing ist bei Müller Begründer neuer tragischer Ausdrucksformen, einer neuen Schmerz- und Totenästhetik und der Verkünder aufklärerischer Ideale. All das ist richtig, aber nicht entscheidend, weil all das Lessing zugleich zum Standbild erstarren lässt. Es verschleiert den Blick auf Lessing als Mitleid empfindenden Menschen und als Objekt des Mitleids. Lessing verkörpert für Müller die Position, die das ‚Ich’ sich in dann in Hamletmaschine zuschreiben wird:[38]

Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge […]. Ich blicke durch die Flügeltüren aus Panzerglas […]. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich […].[39]

Im Moment des Ausnahmezustands offenbart sich für die tragische Gestalt die Janusköpfigkeit der eigenen Geschichte wie des eigenen Schicksals – als Wissen um die Dialektik des eigenen Steigens und Fallens. Eben in diesem Wissen zeigt sich eine Differenz zwischen Müller und Lessing, die viel wesentlicher ist als alle biographischen Parallelen. Nachdem Lessing dem Tod den Schrecken genommen hatte, legte er mit Emilia Galotti zugleich das Musterstück des bürgerlichen Trauerspiels und das Musterstück gegen das bürgerliche Trauerspiel vor. Emilia Galotti greift auf Elemente des heroischen Trauerspiels zurück und ist, wie Herder treffend gesagt hat, außerdem „Prinzensatire“. Damit initiierte Lessing den Abgesang auf die Rührung und vom empfindsamen Tränenerfolg, dem er selbst mit Miss Sara Sampson zum Durchbruch verholfen hatte. In dieser Hinsicht kann Emilia Galotti als tragiktheoretischer Kommentar auf den eigenen Tränenerfolg gedeutet werden – in dem Sinne, dass Lessing selbst zum ersten Überwinder des lessingschen Mitleids wurde. Dass Müller eben im Moment des Ausnahmezustands in Hamletmaschine das ‚Ich’ ein Bekenntnis zur Furcht ablegen lässt, revitalisiert auf eigentümliche Weise das Mitleid – aber ausschließlich in seiner egozentrischen Dimension, so dass unvermittelt der Furcht die ‚Verachtung’ zur Seite steht. Nicht mehr die kathartische Wirkung des Mitleids mit seinem Fluchtpunkt der Verbesserung der Mitmenschen steht im Mittelpunkt, sondern das Mitleid, das im Angesicht des Ausnahmezustands die eigene Ausweglosigkeit erkennt. Doch auch wenn der Fluchtpunkt von Lessings und Müllers Bemühen um das Tragische ein anderer ist, überwiegt doch die Gemeinsamkeit, die mit Blick auf Philoktet auf die prägnante Formel von der „Arbeit am Gattungsbewußtsein“[40] gebracht wurde – einer Formel, die in ihrer Doppeldeutigkeit in Erinnerung ruft, dass die Tragödie durch ihre auf Wirkung zielende Struktur immer schon den Zuschauer gefordert hat.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Heiner Müller: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: ders.: Die Stücke 2 (Werke 4), hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main 2001, S. 509–537; Zitate daraus werden im Folgenden im Text unter Angabe der Seitenzahl in runden Klammern ausgewiesen.
  2. Zur ersten Orientierung vgl. Wolfgang Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing; Thomas Eckhardt: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, beide in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi, Stuttgart 2003, S. 129–131 bzw. S. 239–243.
  3. Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1998, S. 103–106.
  4. Vgl. Heiner Müller/Frank Feitler: Wer wirklich lebt, braucht weder Hoffnung noch Verzweiflung, in: Sire, das war ich. Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch, hrsg. von Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski Berlin 2007, S. 288.
  5. Zum historischen Hintergrund vgl. Jean Jourdheuil: Bertolt Brecht, de 1947 à 1995, une chronique allemande, in: Études Germaniques 63 (2008), S. 353–374.
  6. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 113.
  7. Otthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke 1767–1769 (Werke und Briefe 6), hrsg. von Klaus Bohnen, Frankfurt/Main 1985, S. 181–706, hier S. 690.
  8. Emmerich (wie Anm. 2), S. 131.
  9. Vgl. Akademie der Künste/Heiner Müller Archiv (im Folgenden AdK/HMA) 3394 Schau –   während ihm Lessingmaske.
  10. Heiner Müller: Todesanzeige, in: ders.: Die Prosa (Werke 2), hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main 1999, S. 99–103.
  11. Durs Grünbein: Das Lächeln des Glücksgotts, in: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, S. 81–101, hier S. 96; vgl. dazu Kai Bremer: Vom Monolog der Toten zum Drama des Bewußtseins. Grünbein und das zeitgenössische Theater, in: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, hrsg. von dems., Fabian Lampart, Jörg Wesche, Freiburg/Br. 2007, S. 103–120.
  12. Müller selbst hat das Stück von „der Methode her“ mit den Collageromanen von Max Ernst verglichen: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erw. Neuausgabe Köln 1994, S. 268f. Vgl auch Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 1999, S. 186f.
  13. Heiner Müller: Hamletmaschine, in: ders.: Die Stücke 2 (wie Anm. 1), S. 543–554, das Zitat S. 547.
  14. Emmerich (wie Anm. 2), S. 131.
  15. Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet, in: ders.: Werke 1767–1769 (wie Anm. 7), S. 715–778. Zur Rezeption dieses Textes auch in der jüngeren deutschen Literatur vgl. Wilfried Barner: Der Tod als Bruder des Schlafs. Literarisches zu einem Bewältigungsmodell, in: Tod und Sterben, hrsg. von Rolf Winau, Hans Peter Rosemeyer, Berlin, New York 1984, S. 144–166.
  16. Diese Vorgehensweise hat ihre methodische Entsprechung in der Lessing-Forschung, vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973.
  17. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Erster Teil, in: ders.: Werke 1766–1769, hrsg. von Wilfried Barner (Werke und Briefe, Bd. 5/2). Frankfurt/Main 1990, S. 11–206; vgl. zu Müllers Schmerzästhetik Manfred Schneider: Kunst in der Postnarkose. Laokoon Philoktet Prometheus Marsyas Schrei, in: Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme, hrsg. von Christian Schulte, Brigitte Maria Mayer, Frankfurt/Main 2004, S. 120–142.
  18. Vgl. den Hinweis von Klaus Bohnen in: Lessing: Werke 1767–1769 (wie Anm. 7), S. 1105f.
  19. Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet (wie Anm. 15), S. 778.
  20. Ebd.
  21. AdK/HMA3394               Schauspieler wird geschminkt
  22. Vgl. Ulrike Hass: Die Frau, das Böse und Europa. Die Zerreißung des Bildes der Frau im Theater von Heiner Müller, in: Text + Kritik 73 (1997), S. 103–118
  23. AdK/HMA 3394               Schau –        während ihm Lessingmaske.
  24. AdK/HMA 3394 Patriotism. Great King.
  25. AdK/HMA 3394 (=cry) [neue Zeile] (Lessgs) Apotheose bzw. 3394 Apotheose looks.
  26. Vgl. Schneider (wie Anm. 17).
  27. Dass Lessings Übersetzung ihrerseits problematisch ist, ist hinlänglich bekannt, kann hier aber unberücksichtigt bleiben; vgl. Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid, in: Hermes 83 (1955), S. 129–171.
  28. Lessing: Hamburgische Dramaturgie (wie Anm. 7), S. 556f.
  29. Müller: Krieg ohne Schlacht (wie Anm. 12), S. 270.
  30. Zum geschichtsphilosophischen Hintergrund vgl. Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989, S. 67–70.
  31. Vgl. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 422–425.
  32. Vgl. Patrick Primavesi: Theater des Kommentars, in: Lehmann, Primavesi (wie Anm. 2), S. 45–52, bes. S. 46f.
  33. Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, in: Lehmann, Primavesi (wie Anm. 2), S. 82-88.
  34. Müller: Krieg ohne Schlacht (wie Anm. 12), S. 364. Wichtig ist dabei zudem, dass Müller mit dem Triptychon ‚Schlaf – Traum – Schrei’ eine Dynamik aufnimmt, die Benjamin bereits im Passagen-Werk andeutet und geschichtsphilosophisch perspektiviert hat (auch wenn bei ihm das Moment des Schreis nicht verhandelt wird); vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk K [Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus, Jung], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V/1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1982, S. 490–510.
  35. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schwepenhäuser, Frankfurt/Main 1974, S. 203–430.
  36. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, in: ders.: Schriften I, hrsg. von Jean Bollack, Frankfurt/Main 1978, S. 149–259, das paraphrasierte Zitat S. 234.
  37. Vgl. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 410–412.
  38. Vgl. Eke: Müller (wie Anm. 30), S. 71–75.
  39. Müller: Hamletmaschine (wie Anm. 13), S. 550f.
  40. Wolfgang Storch: Die Rückkehr der Tragödie. Zwei Briefe an Sérgio de Carvalho, in: Die Lücke im System. Philoktet Heiner Müller Werkbuch, hrsg. von Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski, Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 11.

Learn not to burn

Zur Metonymie der Asche im Kontext von Heiner Müllers Manuskripten zu LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI

„Learn not to burn“[1]

„Charcoal grills can be deadly“[2] – Holzkohlegrille können tödlich sein, wie man auch auf der Homepage der Iowa State University anhand folgender Meldung nachlesen kann: „In 1997 an Iowa couple died from breathing carbon monoxide from a charcoal grill […]. The couple was camping with friends. After grilling hamburgers on a table-top grill, they […] placed the grill in a storage area underneath their camper, watched the news and went to bed. The coals re-kindled and the carbon monoxide from the grill penetrated the floor of the camper, killing the couple.“[3]Abschließend heißt es dort: „Carbon monoxide is especially dangerous because it has no odor and cannot be seen. […] Those who do not die can suffer headaches, drowsiness, dizziness, weakness, nausea, vomiting, confusion, disorientation or collapse. Some people have permanent damage, including memory loss or personality change.“[4]

Die Vorbeugung derartiger Vorfälle ist nicht nur im Sinne des Agrartechnikers Thomas Greiner, der sich des oben zitierten Unglücks aus didaktischen Gründen erinnert, sondern in den USA seit etwa 30 Jahren fester Bestandteil des Lehrplans für die Vorschulerziehung. Das Präventionsprogramm trägt den markenrechtlich geschützten Titel „Learn not to burn“[5], unter dem auf eine spielerische und nicht bedrohliche Art der sichere Umgang mit Brandquellen erlernt werden soll.

Ein anderer Imperativ. Nicht aus dem Land, das laut Müller seine Erfahrung mit Landschaft grundlegend prägte[6], sondern für den Raum der Städte geschrieben. Brechts Verwisch die Spuren, mit der für unseren Kontext interessanten letzten Strophe:

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst

Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst

Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt

Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt!

Noch einmal:

Verwisch die Spuren![7]

Die beiden Imperative – „Learn not to burn“ und „Verwisch die Spuren“ – mögen an dieser Stelle willkürlich assoziiert scheinen. Sie bilden jedoch eine Klammer, die in ihrer metaphorischen sowie metonymischen Lesart in Beziehung zu dem Kontext steht, den ein Vergleich zwischen der Szene LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI und den betreffenden Manuskripten herstellt; vor allem in ästhetischer und methodischer Hinsicht. Ästhetisch, da in diesem Kontext der Begriff der Asche verwendet wird, der textimmanent auf eine künstlerische Praxis der Moderne schlechthin verweist. Methodisch, insofern ein Vergleich zwischen Drucktext und Manuskript auf das schreibprozessuale Verfahren der Auslassung deutet. Beide Seiten kulminieren dabei in dem inhaltlichen Punkt, der die Diskussion über die Frage eines Schreibens nach Auschwitz im Sinne der Dialektik der Aufklärung fortführt.

„This is your fire-inspector“[8]

Die Druckfassung der Szene LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI benennt im ersten Abschnitt die „Asche, die aus den Büchern weht“[9]. Innerhalb des in Versalien gesetzten Textblocks, der den zweiten Abschnitt apokalyptisch beschließt, heißt es „STUNDE DER WEISSGLUT“[10], wobei dieser Hinweis auf eine Brandquelle deutlich abstrahiert erscheint. Beschwört die Verbindung der Begriffe „Asche“ und „Bücher“ unweigerlich Assoziationen zur Bücherverbrennung, lässt sich mit der „STUNDE DER WEISSGLUT“ keine konkrete Vorstellung verknüpfen. Durch die damit gegebene Diffusität wird jedoch ein drohender Gestus erlangt. Möglicherweise erscheint allein dies in der Rezeption als bedrohlich, insofern sich die Interpretation einer größeren Freiheit ausgesetzt sieht bzw. eine Lektüre dieser Stelle sich einem weiteren Interpretationsspielraum verpflichten muss. Dasselbe Prinzip gilt allerdings auch für die Verknüpfung zwischen Asche und Büchern, will man sie nicht aus ihrem Kontext reißen. Denn die oben genannte Assoziation zur Bücherverbrennung ist gleichzeitig weder zwingend noch abwegig in einem Satz, der lautet:

30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen.[11]

Es wird also in dem Lessing-Sprechtext eine Begriffskette entspannt, zwischen dem Staub aus den Archiven, der Asche, die aus den Büchern weht, einem bisher noch unterschlagenen Brandherd und der Sehnsucht nach Schweigen. Dem entgegengestellt wird der präventive Versuch, sich mit Worten aus dem Abgrund zu halten. Was als resignative Rückschau auf die fiktive Autorenbiografie gelesen werden kann, muss jedoch genauer untersucht werden.

Während der Staub aus den Archiven und die Asche aus den Büchern noch als metonymische Variablen eines memento-mori-Motivs gelesen werden können, das sich auf die Verschränkung von Gedächtnis und Vergessen bezieht[12], stehen sich die rahmenden Satzteile paradoxal gegenüber: Der Versuch, sich mit Worten aus dem Abgrund zu halten wird trotz oder aber bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Schweigen durchgeführt. Die Gleichzeitigkeit von Erinnern und Vergessen – oder: des Sich-Erinnerns trotz Vergessen-wollens – eröffnet die Frage danach, ob es sich bei den Worten um Sprache im Allgemeinen handelt oder ob damit auf eine Unterscheidung zwischen Worten und Worten hingewiesen werden soll, was nicht zuletzt der folgende Satz im Lessingtext provoziert, in dem es heißt: „Ich habe die Taubstummen um ihre Stille beneidet im Geschwätz der Akademien“.[13]

Ist mit den Worten also Geschwätz gemeint? Macht es im Kontext der offensichtlichen Gedächtnisproblematik einen Unterschied, wie man sich der Worte bedient? Und was beschreibt davon abhängig der Begriff vom Abgrund? – Da es uns weniger um die Beantwortung dieser Frage im immanenten Sinne geht, sondern um das Verhältnis zwischen Druckfassung und Manuskript, ist es an der Zeit, sich Müllers Entwürfen zu widmen, also Worte mit Worten zu vergleichen.

Sämtliche Bezüge zur Asche und zum Brand, die bis jetzt aus der Druckfassung zugrunde gelegt wurden, finden sich bereits nach einem ersten Blick in den Manuskripten wieder – jedoch und vor allem, weil man sie in ihrem dortigen Kontext schwerlich übersehen kann. Neben den „cries of burning people“[14]und „nichts als d. Flammen (die) Stunde der Hochöfen / Licht d. / the light of (the) weißglut“[15] erfährt die STUNDE DER WEISSGLUT aus der Druckfassung rückwärtig gelesen ihren historischen Bezug durch die Notizen „Nathan / (der alte Narr, der Auschwitz nicht wahrhaben wollte“ sowie

Nathan in Auschwitz

wird, während er die Ringparabel rezitiert

für d. Ofen eingekleidet, rasiert

geschoren usw.

von Sängerknaben

(Mozart s[ingend?])[16]

 

Durch die Manuskripte hindurch wird darüber hinaus der Bogen über die kollektive Vernichtung zum Individuum gespannt, das seinen „Kopf in alle Gasherde der Welt gesteckt“[17] hat. Der historischen Katastrophe gegenüber tritt das „Denken vom (individuellen) Tod aus“[18] und „Der Mensch als Museum seiner Vergangenheit“[19], das Ich als „meines Todes Leib“.[20]

Hier wird bereits sehr deutlich, wohin die oben genannte Frage nach dem Abgrund führt. Der Abgrund ist dabei kein getrennter, kein einerseits individueller und andererseits überindividueller, also historischer. Die Entscheidungen des Individuums sind unauflösbar mit dem Begriff von Geschichte verbunden, aber Geschichte erscheint hier nicht als derjenige Abgrund, in den das Individuum hinabschaut. Der Abgrund, der hier konkret mit dem Ereignis der Shoa verknüpft wird, konstituiert sich durch das Individuum und hat in ihm seinen Platz: als „destruction of future“[21] und „crying on unfulfilled promises of history“[22].

Die Katastrophe schlechthin unterminiert das emanzipatorische Projekt schlechthin: die Aufklärung. Da beide Seiten ihrer dialektischen Verschränkung unter historischen Gesichtspunkten nicht zu entheben sind – galt Nathan der Weise doch als Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons während der NS-Zeit –, lässt sich vielleicht die Frage nach den Worten, die sich aus dem Lessingtext ergibt, genauer stellen: Gibt es Wörter, die nicht in die Katastrophe führen? Kann man lernen, sich nicht zu verbrennen?

Nathan in Auschwitz und Schreiben als Verlust

Wenn Müller in seinen Manuskripten Nathan in Auschwitz umkommen und damit stellvertretend das Toleranzprojekt der Aufklärung, das sich in der Ringparabel spiegelt, in Flammen aufgehen lässt, so entspricht das, im Vergleich zur Druckfassung, nur vermeintlich einer radikaleren szenischen Variante.

Nimmt man die Ringparabel als Beispiel für die aufklärerische Toleranzlehre und entschlackt sie um eine idealisierende und sozialromantische Interpretationstradition, so ist festzuhalten, dass ihr als Konzept von Beginn an der Verlust eines allgemein verbindlichen Wahrheitsanspruchs eingeschrieben ist. Dies trifft insofern zu, als dass die Glaubensfrage, die hier die monotheistischen Religionen betrifft, nur dadurch im Sinne einer Toleranz relativiert werden kann, wenn man im vorhinein unterstellt, es gäbe keinen eindeutigen und zwingend allumfassenden Gottesbezug mehr. Das bedeutet gleichfalls auch, dass die Verwaltung von Glaubensfragen nicht einer überirdischen Gnade überantwortet werden kann, sondern zur immanenten und damit variablen Größe wird, die auch Intoleranz sowie ein immer mögliches Scheitern dieses Projekts notwendig mit einschließen muss. Und umgekehrt: Sollte das dahinter liegende Konzept einer Ethik so erfolgreich sein, wie es von idealisierender Seite interpretiert werden kann, so müsste es in aller erster Linie an seiner Selbstabschaffung interessiert sein. Denn die Idee einer vollkommenen und totalen Toleranz kann nur dann aufgehen, wenn sie den Moment der Intoleranz sowie des möglichen Konflikts ignoriert und damit ahistorisiert. Es läge dann nicht nur in ihrem Ziel Geschichte abzuschaffen, sondern sich vor allem über den Verlust allgemein verbindlicher Regeln und Verweise hinweg zu täuschen. Geschichte entspräche dann einer kybernetischen Maschine, die es dem handelnden Subjekt erlauben würde, blind und „auf toten Gäulen ins Ziel“[23] zu reiten. Im puren Glauben an ein solches Selbstregulativ würde Auschwitz nur noch der Leugnung anheim fallen können. Dies entspräche einer Utopie, die Geschichte abzuschaffen sucht und mit dem Versuch korrespondiert, die Dinge auf ein Ziel hin gerichtet festzuschreiben. Es entspräche darüber hinaus dem Anspruch, alles Dagewesene zu fixieren und somit einem allumfassenden Archiv zu überantworten, das – einmal ad acta gelegt – dem Staub ausgesetzt wird. Bevor wir jedoch diesen Punkt weiterführen, wollen wir uns noch einmal dem oben beschriebenen Verlustmoment zuwenden.

Der aufklärerischen Toleranzlehre lässt sich als Analogie das Konzept moderner Ästhetik an die Seite stellen. Nicht aus dem Grund, weil beide Projekte aus einer ‚Schule’ stammen, sondern weil beide Felder durch eine traumatische Einschreibung gekennzeichnet sind. Was aufseiten der Ethik durch das Ausbleiben einer gerechten göttlichen Instanz nachwirkt, spiegelt sich hinsichtlich der Ästhetik in der Begründung der Urteilskraft. So wenig simpel, wie sich für eine Gemeinschaft eine unmittelbar geltende Sittlichkeitslehre erschließen lässt, wird ästhetischen Urteilen eine sichere Referenz dargeboten, insofern das betrachtete Objekt dem Betrachter nichts darüber zu sagen weiß.

Die Problematik der Urteilskraft lässt den kennzeichnenden Verlust möglicherweise deutlicher erscheinen, wenn es um die Charakterisierung des Geschmacksurteils geht: Wo das Subjekt dazu aufgefordert ist, sein eigener Richter über ein Objekt zu sein, erhält das Urteil gerade aufgrund einer fehlenden ursprünglichen wie eindeutig notwendigen Referenz einen totalen Anspruch. Die Totalität, die der subjektiven Urteilsermächtigung durch das Ausbleiben einer unmittelbaren Begründbarkeit eingeschrieben wird, bildet dabei die Kehrseite einer Trauer, die sich der Freiheitsbildung ausgesetzt sieht. Was betrauert wird oder als traumatischer Kern durch seine Abwesenheit die Urteilskraft begleitet, trägt in Kants Aufsätzen den Namen „Natur“. Kant setzt den Naturbegriff an genau die Stelle, aus dessen Argumentationsperspektive einzig die Negation wirksam sein müsste und besetzt damit den Ort einer Vorstellung vom Ursprung neu. Dieser Hilfskonstruktion muss jedoch das volle Bewusstsein darüber unterstellt werden, dass dieser Platz eigentlich verloren ist. Die moderne Ästhetik bildet sich über einen traumatischen Gründungsakt: Gerade das Einsetzen sowie der Gebrauch des Begriffs „Natur“ implizieren eine Trauerarbeit, die in der Kritik der Urteilskraft mitgeschrieben wird und die immer wieder eine Leerstelle offen legen. Ein volles Bewusstsein über diese Problematik muss auch insofern unterstellt werden, da dieses Konzept didaktisch angelegt ist. Die Didaktik tritt als Kompensationsprojekt dem Verlustmoment der Natur entgegen:

Schwerlich wird ein späteres Zeitalter jene Muster [einer Propädeutik zu aller schönen Kunst; Anm. d. Verf.] entbehrlich machen; weil es der Natur immer weniger nahe sein wird, und sich zuletzt, ohne bleibende Beispiele von ihr zu haben, kaum einen Begriff von der glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Kultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihren eigenen Wert fühlenden freien Natur in einem und demselben Volke zu machen im Stande sein möchte.[24]

Was für die Zukunft bleibt, ist die völlige und absolute Durchsetzung des Lebens mit Kultur. Aufseiten ethischer wie sittlicher Konzepte, die immer mit einer Propädeutik zur Urteilsbildung in Verbindung stehen[25], hat dies zur Folge, dass sämtliche Ansätze, die einen Naturzustand des Menschen unterstellen – wie beispielsweise der Rousseausche –, ihrer Gültigkeit enthoben werden.

„Natur“ als stellvertretender Begriff für eine die Kultur begleitende traumatische Erscheinung, wird hiermit für alle Zukunft zu Grabe getragen, womit sich ihre letzten Spuren in Asche auflösen. Gerade diese Asche ist es aber, die als Abgrund im Projekt des Humanismus wirkt und dessen Bibliotheken und Archive begleitet. Einer Propädeutik, die ihren äußersten Referenzpunkt in Aufzeichnungen und Schriftlichkeit findet, ist der Naturbegriff als nicht wieder herstellbarer Rest eingeschrieben. Gesellschaft und Individuum sind ab diesem Zeitpunkt vollständig der Historie überantwortet, die umgekehrt den einzigen Referenzpunkt für Kunst bilden wird. Gleichzeitig – und damit berührt Kant das Aufklärungsprojekt in aller Radikalität – wird damit auch ein dauernder Moment der Krise beschrieben. Die Krise selbst ist es, die jene Konzepte des Sittlichen und Ästhetischen erzwingt, was Kant zu seiner indirekten Frage veranlasst, ob es der modernen Kunst möglich sein wird, dieses Verlustmoment, ohne dass sie nicht sein könnte, aufrecht zu erhalten.[26]

Indem Kunst über die anhaltende Krise in ein unauflösliches Verhältnis zur Geschichte gebracht wird, würde eine Überwindung dieser Krise – beispielsweise als Ziel einer romantischen Teleologie – ausnahmslos zu ihrer Vernichtung führen. Da die moderne Kunst nicht ohne Geschichte auskommt und umgekehrt Geschichte als Teil von Kultur sich nicht des Zugriffs durch die Kunst erwehren kann, da sie deren einzigen Referenzrahmen bildet, stehen Nicht-Kunst und die Abschaffung der Geschichte auf der selben Seite.

Die Überwindung von Geschichte, im Sinne einer utopischen Ideologie, trüge dabei allerdings das gleiche Gesicht wie eine zur Vollkommenheit strebende Didaktik, die beispielsweise mit dem totalen Archiv als Praxis der Kanonisierung verglichen werden kann. Sowohl das Abschaffen des historischen Prinzips auf der einen als auch sein Totalitätsanspruch auf der anderen Seite bilden demnach die äußersten Grenzpfeiler des Möglichkeitsrahmens für Kunst.

Insofern ist es unter ästhetischen Kriterien unmöglich, sich an Wörtern – um auf die weiter oben gestellte Frage zurückzukommen – nicht zu verbrennen. Denn die Unterschlagung des Verlusts, der auch die Möglichkeit einer Brandquelle oder Katastrophe einschließt, die Lüge um eine vorweg zu denkende Zukunft, würde das Ende von moderner Kunst herbeiführen. Ein „learn not to burn“ kann in kultureller Hinsicht nur in ein Immer-besser-Scheitern umgedeutet werden, insofern der modernen Kunst allein durch ihre traumatische Konstituierung das Prinzip der Subversion zugehört.

Ein weiterer Gedanke, den diese Schlussfolgerung einschließt, zielt darauf, dass mit der Unterstellung eines geschichtlichen Telos das Ideal von Kontinuität einhergeht. Eine Vorstellung, die nur dann ihre volle Berechtigung entfalten könnte, wenn der Ursprung von moderner Kultur nicht eine Leerstelle bilden würde und demzufolge nicht-traumatisch wäre. Da dem Gründungsakt der modernen Sittlichkeitslehre und Ästhetik aber keine ursprüngliche Tradition eingeschrieben ist, von der aus sich ein Anfang und ein Ende vermessen ließen, ist als dynamisches Prinzip dieser traumatischen Genese die Diskontinuität der ständige Begleiter von Kultur als Krise. Durch diese Diskontinuität ist die Möglichkeit und die Gefahr eines Verbrennungspotentials immer schon enthalten. Es veräußert sich in den Katastrophen und den so genannten zivilisatorischen Brüchen entgegen dem Prinzip, das durch eine lückenlos angelegte und kontinuierlich gedachte Didaktik kanonisierte Archive schafft, mittels derer es sich einem historischen Ziel treuer verbunden glaubt. In dieser Hinsicht erscheinen auch die Worte, mit denen man sich aus dem Abgrund zu halten sucht, als von einer Bewegung gezeichnet, die dem Kontinuitätsglauben folgt. Anders ausgedrückt: Das Immer-wieder-aufs-Neue-verbrennen ist der traumatisch geprägten Dynamik der Diskontinuität von Kultur implizit, wenn es nicht einem ideologischen Konzept von Geschichte Recht zusprechen will.

Nachdem die Frage nach der Art des Umgangs mit den Wörtern, die durch die oben zitierte Passage des Lessingstexts provoziert wird, zu einer explizit modernen Problematik von Ästhetik und Urteilskraft geführt hat, sollten wir zum Verhältnis zwischen Druckfassung und Manuskript zurückkehren.

Verwisch die Spuren

Eine Fragestellung, die wir bis jetzt unterschlagen haben, lautet: Warum haben die Notizen aus Müllers Manuskripten keinen Ort in der Druckfassung? Hierzu ist es notwendig, sich einem weiteren inhaltlichen Punkt zuzuwenden, der in den Manuskripten angeboten wird. Den Ausgangspunkt dafür soll der Schlussabsatz von LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI bilden, in dem die Lessingfigur gleichsam bei lebendigem Leibe zum Denkmal gemacht wird und – dadurch stumm geschaltet – im Applaus des Theaterpublikums untergeht.[27]

An den Stellen in den Manuskripten, die mit APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT in Verbindung stehen, finden sich die Notizen „Phantasietötung“[28] und „Kommission f. Unsterblichkeit“[29]. Ferner umschreibt Müller dort den Theaterbezug:

Unzufriedenheit der Schauspieler

unterbeschäftigt

Publikum dto unterbeschäftigt

Schauspieler verlieren Fähigkeit

Erfahrungen zu machen

keine Stücke die mit ihrem Leben

zu tun haben ——[30]

 

Daran anschließend heißt es in einer weiteren Notiz:

In unsern alten (überkommenen, geerbten)

+ neuen Theaterngebäuden muß man vielleicht

noch spielen, weil sie so viel gekostet

haben, schreiben (Wirklichkeit beschreiben)

kann man für sie nicht mehr.[31]

Zum einen wird also eine Theatersituation problematisiert, in der keinerlei Erfahrungen mehr hervorgebracht werden können, da der Apparat auf eine Wirklichkeit ausgerichtet ist, die jede künstlerische Notwendigkeit untergräbt und obendrein den „Traum vom Theater in Deutschland“[32] für unmöglich erklärt. Zum anderen wird mit der „Kommission f. Unsterblichkeit“ inhärent auf eine Archivierungspraxis hingewiesen, die aus einer kulturellen Kanonisierung hervorgeht. Eine besondere Praxis dieser Kanonisierung wird in den Manuskripten mittels einer verworfenen Szene beschrieben, in der es offensichtlich um ein Interview mit Lessing geht. Sie führt wieder zurück zum Lessingtext des ersten Abschnitts:

Herr L. was halten Sie von

Lessing, was ist ihre Meinung zu                                                                       Ich habe nichts zu schaffen mit

halten Sie für repräsentativ                                                                                eurem Paradies für Dauerredner[33]

 

Die Meinung darüber, was repräsentativ und damit kanontauglich sein könnte, wird von der Lessingfigur mit „Paradies für Dauerredner“ kommentiert, wobei diese Replik die Frage nicht beantwortet, sondern zurückweist und sich ihr verweigert. Bereits die Worthälfte „Dauer“ schließt erneut das Prinzip der Kontinuität ein und setzt es in eine Beziehung zu einer Paradiesvorstellung, einem Erlösungsglauben. Die Synthese dieser Begriffsverknüpfung bezeichnet demnach nichts anderes als die so genannte Fortschrittsgläubigkeit. Auch sie ist neben der Praxis des Kulturkanons als Zielscheibe für Kunst in Müllers Manuskripten wieder zu finden:

 

einschießen v. Anachronismen bis

zur Sprengung v. Kontinuität

([nuum?])

z.B. Kriegserinnerungen aus

d. 2. world war                        [?]

Theatererfahrungen. Verbot U                                           national-

Unmöglichkeit, Scheitern v. hope f.                  theater[34]

Da Müller in diesem Auszug mehr oder weniger seine Schreib- und Montagetechnik kommentiert, ist es nicht verwunderlich, dass diese Notiz in keiner Form in der Druckfassung präsent ist. Sie verdeutlicht allerdings zusammenfassend, warum im veröffentlichtten Stücktext alle anderen oben aufgeführten Verweise aus den Manuskripten abwesend sind und weshalb dies mit der traumatischen Konstitution von moderner Ästhetik korrespondiert.

Erstens verdeutlicht das Verhältnis zwischen Manuskript und Druckfassung, dass Müllers Schreibprozess dem Prinzip der fortschreitenden Auslassung folgt. Die Arbeit am Stück kreiert eine Ästhetik des Verlusts, indem durch das schreibend vorangetriebene Ausstreichen konkreter Verweise eine größere Offenheit geschaffen wird, die sich allzu konkreten und festschreibenden Assoziationen versperrt. Der Anspruch einer lückenlosen Aufklärung historisch bedingter Zusammenhänge wird unterwandert, so dass es eben nicht zur „Phantasietötung“ kommt. Ebenso wird ein erzieherisch motiviertes Lehrstück unterschlagen, das in seiner diesbezüglichen Didaktik scheitern würde, erhebe es im Gedanken an einen unfehlbaren Humanismus den Anspruch – inhaltlich gesprochen – eine zukünftige Generation ‚über Auschwitz hinweg’ zu erziehen. Gleichzeitig wird durch den Prozess der Auslassung eine höhere Dichte geschaffen, die keiner kontinuierlichen Logik mehr folgt und die Technik fortschrittsorientierter Geschichtsschreibung entlarvt sowie als inhaltliche Widerspiegelung formal-ästhetischer Abwesenheit gelesen werden kann. Der in schreibtechnischer Hinsicht damit verbundene Imperativ eines „Verwisch die Spuren“ eröffnet eine Entgrenzung der Kontextualisierung zugunsten einer zukünftigen Lesbarkeit und bedient sich damit der paradoxalen Notwendigkeit des dialektischen Möglichkeitsraumes, den die moderne Ästhetik aufgrund ihrer Ursprungslosigkeit hervorbringt. Die Technik des Spurenverwischens steht somit ganz im Zeichen eines Geschichtsbewusstseins, das die zwangsläufige Verbindung von Vergangenheit und Zukunft im Kontext der Gedächtnisfrage anerkennt: Die Spuren, die von Müller in den Manuskripten gestreut wurden, kehren nicht wieder, sondern kehren sich wider eine eindeutige Interpretation und Festschreibung. Indem sie nicht anwesend sind, können sie auch in der Druckfassung keine Ausschließungen generieren. Hierin geht die Metonymie der Asche auf: Als eine Spur, die sich auflöst, zu keiner Verortung mehr führt und damit gleichzeitig alle Richtungen offen lässt.

Zweitens ist im arbeitsprozessualen Spurenverwischen ein Einspruch zu dem enthalten, was im Kontext von LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI inhaltlich verhandelt wird. Lessings Leben ist datiert, Nathan der Weise ist im Sinne eines humanistischen Bildungsideals interpretiert worden und sein Werk gilt sowohl an Schulen wie Theatern als dem Kanon zugehörig – in diesem Zusammenhang ist alles der Genese eines Kontinuums überantwortet worden. Seine Vermessung durch „Debattierposen“[35] entspricht derjenigen Denkmalsetzung, die im letzten Teil zur Verstummung des Autors führt: Die Büste bildet das Grab und die kanonisierte Interpretation generiert die vermeintlich deutliche Schrift, eine Lesbarkeit ohne Widersprüche. Beides führt zur Anzeige und Überführung, die mit der unausweichlichen Fixierung des Autors endet, die von einem nahezu automatisierten Applaus begleitet wird: „WELCOME TO THE MACHINE“.[36]

Die aus dem Verhältnis von Stücktext und Manuskript hervorgehende Schreibtechnik Müllers kann folglich auch als Reflexion über das Archiv als textimmanente Problematik gelesen werden. Form und Inhalt werden so einander in größtmögliche Nähe gebracht, ohne gleichzeitig zu behaupten, es gäbe eine historische Abschließbarkeit hinsichtlich der kulturellen Traumata, die im Text verhandelt werden, womit der Denkmalpflege eine Absage erteilt wird und das Denken sich öffnen muss. So entsteht eine Bewegung, die darauf drängt, das Gedächtnis dem Staub und der Patina zu entreißen, um es einer immer wieder neu zu beschreibenden Zukunft zu überantworten und es vor der Illusion einer Ahistorie zu bewahren, die einen jeden Brandherd der Geschichte leugnet. Eine solche Illusion würde sich auf die Beteiligten der Geschichte ebenso auswirken wie der Vergiftungsprozess fortglühender Kohlen auf das eingangs zitierte, grillende Ehepaar aus Iowa: Wie das Kohlendioxid im genannten Beispiel, so führt auch die durch Fortschrittsgläubigkeit erzeugte Betäubung eines Geschichtsbewusstseins zum Gedächtnissturz.

 

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1.  Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  2.  Ebd.
  3.  http://www.extension.iastate.edu/Pages/communications/CO/grill.html, 15.08.2008. Sowie als Notiz in: Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  4.  Ebd, Hervorhebung d. Verfassers.
  5.  http://www.gnb.ca/0276/fire/prog-e.asp, 15.08.2008.
  6. Vgl. Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1999, S. 284.
  7.  Brecht, Bertolt: Aus einem Lesebuch für Städtebewohner, in: Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. 8, Gedichte I, S. 268.
  8. Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  9.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  10.  Ebd., S. 36.
  11.  Ebd., S. 34, 35.
  12.  Vgl. zur Metonymie der Asche: Derrida, Jacques: Feuer und Asche, aus dem Französischem von Michael Wetzel, Berlin 1988.
  13.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  14.  Aus Signatur 3394, „in Preußen wo die Welt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  15.  Ebd., „Ch. M.“, ebd.
  16.  Beide ebd., „tv mein fenster“, ebd.
  17.  Ebd., „[Nagel?] (knife) in head“, ebd.
  18.  Ebd., „D. Hamlets“, ebd.
  19. Ebd., „Ein […?] der Inszenierung“, ebd.
  20.  Ebd., „D. Hamlets“, ebd.
  21.  Ebd., „Lessing + d. Inzest“, ebd.
  22.  Ebd., „Lessing Schl. / Tr. / Schr.“, ebd.
  23.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 34.
  24.  Kant, Immanuel: Von der Methodenlehre des Geschmacks, in: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, S. 300.
  25.  Vgl. ebd., S. 301.
  26.  Vgl. Horowitz, Gregg: Sustaining Loss.Art and mournful Life, Stanford, California 2001, S. 55.
  27.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 36, 37.
  28.  Aus Signatur 3394, „,engbrüstig´ – halb erstickt“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  29.  Ebd., „Vorleser, Sprecher“, ebd.
  30.  Ebd., „Unzufriedenheit der Schauspieler“, ebd.
  31.  Ebd., „LEBEN GUNDLINGS“, ebd.
  32.  Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 34.
  33.  Aus Signatur 3394, „mit den Gesten v.“, Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste Berlin.
  34.  Ebd., „Kopf zuschnüren“, ebd.
  35. Müller, Heiner: Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: Texte 7. Herzstück, Berlin 1989, S. 9–37, hier S. 35.
  36.  Ebd.

Von der Unschärfe des inneren Bildes

Der Prozeß der Produktion – Der tradierten Vorstellung des zielgerichteten Schreibens, der Fiktion eines Autors, der „produktorientiert“ und bewußt zunächst Entwürfe, dann eine erste, eine zweite vielleicht eine dritte Fassung seines Textes erarbeitet bis er zur endgültigen Fassung des Manuskripts gelangt, welches einem exakten Vorläufer des Endprodukts entspricht, steht Heiner Müllers Arbeitsweise gänzlich entgegen.

Müllers Manuskripte torpedieren die Erwartung eines ‚Endprodukts’ und gewähren vielmehr Einblick in ein Labor. Dieses Labor der ‚Inszenierungen auf Papier’ entspricht Müllers Auffassung von Theaterarbeit, die er in Anlehnung an einen Ausspruch seines Freundes, des Philosophen Wolfgang Heise, in den siebziger Jahren mit der Forderung eines Theaters als „Laboratorium“ bzw. „Instrument sozialer Fantasie“[2] verknüpft.[3] Seine Notate orientieren sich nicht an einem von vornherein festgelegten Resultat, sondern formieren sich locker zu einer gleichzeitigen Versammlung von Assoziationen und Versatzstücken. Obwohl sie von einer Vorläufigkeit oder stellenweise gar Flüchtigkeit geprägt sind, bergen sie doch „produktive Kerne und Wurzeln des Poetischen“.[4]

Die entgrenzte Materialsammlung in seinen Manuskripten spiegelt sich in Müllers äußerer Arbeitsweise insofern wider, als daß er sämtliche Notizen sorgfältig aufbewahrt hat, ganz gleich von welchem Entwicklungsstand der Arbeit sie zeugen.[5] Dazu gehören auch jene, die scheinbar achtlos auf die nächstbeste Unterlage gekritzelt wurden.[6] Weil Müller selbst seinen Notizen große Bedeutung beimaß – auch sie sind Material – und weil sie geräumige Einblicke in die Entwicklung seiner Texte gewähren, bietet sich eine ausführliche Beschäftigung mit ihnen an.

Müllers Arbeitsmethode ist ein sich stetig fortsetzender Prozeß von immer wieder neu vorgenommenen Transformationen oft derselben Textstücke, die etliche Male neu und anders miteinander kombiniert werden, überlagert werden, herausgenommen und vielleicht an anderer Stelle wieder eingesetzt werden, um sich dort in neuen Zusammenhängen zu formieren. Er scheint bemüht, einen produktiven Abstand zum Geschriebenen herzustellen um somit neue Möglichkeiten desselben herauszupräparieren. Der lauernden Gefahr eines sich automatisch einstellenden Systems, eines Automatismus des Schreibens, evoziert aus Bezug, Bedeutung und Assoziation der eigenen Sprache, der er schreibend verhaftet ist, entgeht er zuweilen, in dem er in eine fremde Sprache wechselt, die manchmal über phonetische Vergleichbarkeiten wieder neue Spielräume des Probierens bietet[7]:

3394, Lessing Schl. / Tr. / Schr.:

Lessing Schl. / Tr. / Schr.
Lessing dream / ~ cry (Schrei) Knebel? /                       -auf Mund der schreit /
lautlos
Text über / The dead cry / Crying / On unfulfilled / Promises of history etc.

3394, sex:

Kopftausch brainwashing? / die Rimbaud; […].

3394, Apotheose:

Apotheose looks / cry: Lessg. Hearing news of the day (tv) […] La hora de los hornos / Hochöfen / Weißglut / fast speaking / woman / Worte statt Sätze / Reihe […].[8]

Der Prozeß des Notierens, zu dem die permanente Reproduzierung von Textteilen mit scheinbar geringen Änderungen gehört, der stetige Neuanlauf, das Ausprobieren von Text, erscheint mit seiner Absage an jegliche Form von Linearität wie ein Kaleidoskop, das mit denselben Steinen die unterschiedlichsten Mosaike herstellt. Mit dem großen Unterschied, daß Müllers Notate trotz ihrer Prozeßhaftigkeit keineswegs beliebig sind.

Der Prozeß des Schreibens im Mittelpunkt der Critique Génétique

Bevor ich einen vergleichenden Blick von den Manuskripten zum Drucktext riskiere, möchte ich im Sinne der Critique Génétique auf zwei Begriffe hinweisen. Müller, der sich mit seiner Sorge etwas Geschriebenes wegzuwerfen in bekannter Gesellschaft befindet[9], betonte stets, daß ihn der Prozeß mehr interessiere als das Resultat. Entsprechend ist für die Critique Génétique „ihr ureigenstes Ziel eben nicht der Text, sondern das Schreiben, verstanden als ein Prozeß schriftlicher Äußerungen.“[10] Deshalb, weil es um die Gesamtheit der textgenetischen Dokumente geht, ersetzt Almuth Grésillon den Begriff ‚Avant-Texte’ durch den Ausdruck ‚Dossier Génétique’, was die Summe der schriftlichen Dokumente bezeichnet, die „der Genese eines Schreibprojektes zugeordnet werden kann, unabhängig davon, ob diese zu einem vollendeten Werk führt oder nicht.“[11] Die eigentlichen Arbeitshandschriften werden in der Critique Génétique als ‚Brouillon’ bezeichnet. Brouillon meint die Vorstellung eines im Werden begriffenen Schreibens mit Streichungen, Stocken und einem ungeordneten Schriftbild und den Spuren mühevoller Arbeit.[12] Die Gefahr für die Critique Génétique liegt in der teleologischen Lesart des Brouillon, die es vom Endtext her und auf diesen hin orientiert betrachtet, statt auf eine vagabundierende, in alle Richtungen lesende Art und Weise.[13]

Ästhetik der Produktion

Ich kann an dieser Stelle nur vermuten und abwägen, ob es sinnvoller sein mag, hier von einer Poetik oder Rhetorik der Produktion zu sprechen. Beide Alternativen erscheinen mir unzureichend bzw. nur partiell zutreffend, und so folge ich den Spuren einer Produktion im Vergleich zum Drucktext. Dazu ein Blick auf das jeweilige Brouillon und den entsprechenden Drucktext:

Ausschnitt 3394, tv mein Fenster:

Nathan / (der alte Narr, der Auschwitz / nicht wahrhaben wollte / Emilia + Vater / […] / Nathan in Auschwitz / wird, während er die Ringparabel rezitiert / für d. Ofen eingekleidet, rasiert / geschoren usw. / von Sängerknaben / (Mozart s[ingend?])

Ausschnitt 3394, sex:

sex / torture                    Less.                   Girl / <———> / murder Nathan rezitiert
Ringparabel                     Emilia Gal. Gewalt-Text → Dolch / Blumenkinder        N. zieht
setzt ihr seinen Kopf auf / mit Maschinenpistole                   + nimmt ihren / make love not war
wird von Hippie / Guerillas / entkleidet […][14]

 

Die Szene in der Druckfassung:

Autofriedhof. Elektrischer Stuhl, darauf ein Roboter ohne Gesicht. In zwischen unter den Autowracks in verschiedenen Unfallposen klassische Theaterfiguren und Filmstars. Musik WELCOME MY SON WELCOME TO THE MACHINE […]. Lessing mit Nathan dem Weisen und Emilia Galotti, Namen auf dem Kostüm. / „EMILIA GALOTTI rezitiert: Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? […] Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch… / NATHAN rezitiert, gleichzeitig, den Schluß der Ringparabel: / Wohlan… / Polizeisirene. Emilia und Nathan vertauschen ihre Köpfe, entkleiden umarmen töten einander. Weißes Licht. Tod der Maschine auf dem Elektrischen Stuhl. Bühne wird schwarz. […][15]

Die in den genannten Brouillons vorhandenen Zugaben von Handlungen, Verweisen und Umständen, bilden eine Art Subtext, welcher auch die Figuren Lessing, Nathan und Emilia umgibt oder auszeichnet. Dieser Subtext besteht aus kurzen fragmentarischen Sätzen, oft nur aus einzelnen, teilweise durchgestrichenen und dennoch lesbaren Worten. Trotz dieser knappen Form, trotz der Rohheit des Textes, erscheint mir der Subtext eine geradezu bildgewaltige Wucht zu haben. Diese Wucht setzt sich meines Erachtens im Drucktext fort, allerdings ohne die dazugehörigen Bilder zu benennen. Die Bilder sind im Drucktext nicht lesbar. Doch wo bleibt der Subtext? Was passiert zwischen Produktion und Drucktext? Die Bildsprache der Manuskripte scheint im Drucktext mitzuschwingen, obgleich sie dort nicht zu verorten ist. Der Drucktext ist in seiner Wirkung nicht schwächer als der Text der Manuskripte, die subtextuellen Bilder der Manuskripte wirken ungehindert fort, dem Text immanent, gleichwohl sind sie aber dort nicht auszumachen. Wie geht Müller mit den subtextuellen Bildern, welche die Ästhetik der Produktion anreichern in Bezug auf die Ästhetik des Drucktextes um? Um dieser Frage nachzugehen, erscheint es mir hilfreich Müllers Umgang mit Text genauer zu betrachten.

Distanz von Text und Sprache

Müller tritt für eine Distanz von Text und Sprache ein. In dem oft zitierten Beispiel vom Text als Coyoten, geht es nicht um die Frage, was der Text mit dem Schauspieler macht, sondern um die Verweigerung der Aneignung von Text:

Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine archaische Position, aber mir scheint […] daß wir im Theater noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet haben, daß Texte noch immer nicht als Material, noch immer nicht als Körper gebraucht worden sind. […] diese Performance von Beuys mit dem Coyoten in New York.[16]Eigentlich ist das für mich eine ideale Metapher für den Umgang des Schauspielers mit dem Text, der Text ist der Coyote. […] Und man weiß nicht, wie der sich verhält. Aber wie sage ich das einem Schauspieler, der gewöhnt ist, als Beamter mit dem Text umzugehen, den Text bestenfalls zu verwalten. Oder sogar zu administrieren.“[17]

 

Theresia Birkenhauer[18] sieht in der Unabschließbarkeit des Prozesses jene doppelte Erfahrung manifestiert, die Foucault als das Erscheinen von Literatur beschrieben hat. Die Erfahrung der Unverfügbarkeit der Sprache sowie die Loslösung des Schreibens aus dem Bereich des Verfügens, der Intention, des Ausdrucks.[19] An die Stelle der Beziehung zwischen Autor und Werk tritt das Schreiben: „Das Schreiben entwickelt sich wie ein Spiel, das zwangsläufig seine Regeln überschreitet und so nach außen tritt. Im Schreiben […] handelt es sich nicht darum, einen Stoff im Sprechen festzumachen; in Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet.“[20]Theresia Birkenhauer bemerkt eine Konzeption von Sprache, „die diese aus dem Bereich der individuellen Expression entlässt, um auf ihrer durch subjektive Intentionen nicht zu kontrollierenden Unverfügbarkeiten zu bestehen.“[21]

Für Lessings Schlaf Traum Schrei entwirft Müller eine raffinierten Verdopplung um einen zusätzlichen Abstand zwischen Text und Sprache zu schaffen. Im veröffentlichten Drucktext rezitieren die Figuren Emilia und Nathan eine jeweils markante, mit der Figur verwobene Passage aus dem jeweiligen Lessing-Dramentext. Die namentlich gekennzeichneten Dramenfiguren nutzen für den Sprechakt die Texte, durch die sie als dramatische Figuren existentiell gegründet sind. Ohne diesen, ihren Text, wären sie nicht.

„Emilia Galotti rezitiert: Gewalt! Gewalt! Wer kann Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt! Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut…Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch… / Nathan rezitiert, gleichzeitig, den Schluß der Ringparabel: Wohlan…“[22]

Somit kehren die Figuren an den Punkt zurück, von dem aus sie erzählt werden, an den Punkt ihrer Erfindung durch Lessing. Im Augenblick des Zitats gibt es eine Überlappung von Lessing und Müller. Indem sie an den Ausgangspunkt ihrer Existenz zurückkehren, entziehen sich die Figuren gleichzeitig sowohl dem Autor im klassischen Sinne als auch seiner Sprache. Ihre Rückkehr in die Anatomie kommt im übrigen einem Todesurteil gleich („Emilia und Nathan vertauschen ihre Köpfe, entkleiden umarmen und töten einander.“ HM Gundling, S. 36).

Textlich werden die Dramenfiguren in Müllers Lessing-Triptychon, Nathan und Emilia, durch den rezitierten Lessing-Text der klassischen Figuren übermalt, was sich als ein weiterer Hinweis auf Müllers Schichtsystem ausnimmt. Schon in den Anmerkungen plädiert er dafür, die Teile des Triptychons überlappend aufzubauen. (HM Gundling, S. 9).

Sehen heißt die Bilder töten“[23]

Im Gespräch mit Robert Weimann erklärt Müller diesen Vorgang auf materialistischer Ebene:

„Die Bilder sehen heißt sie töten. Das steht in der Titus-Bearbeitung, und diesen Text oder diesen Teil des Textes habe ich in Venedig geschrieben, sogar zum Teil in dem berühmten Café am Markusplatz, und da hat es einen ganz konkreten Sinn. Je mehr Touristen in die Museen strömen, desto mehr werden die Bilder beschädigt, einfach durch die Ausdünstungen der Touristen usw. Da wird es plötzlich ganz konkret: sehen heißt die Bilder töten. […] Aber da steckt noch was anderes drin. Das Auge ist ja das Organ der Autorität, bei Racine zum Beispiel. […] Und es ist in diesem Zusammenhang auch plötzlich ein ganz imperialistisches Organ.“[24]

Die Konkretheit eines Bildes schließt immer auch andere Möglichkeiten aus und ist somit dominierend.[25] Das Lesen ist zunächst ein stummer Vorgang. Der Buchstabe ist stumm. Das Bild entsteht sobald man aufhört zu lesen. Dieses innere Bild ist unscharf, doch gerade diese Unschärfe des inneren Bildes ist so viel reicher als das konkrete Bild.

Der Weg der Ästhetik der Produktion hin zur Druckfassung markiert einen Vorgang, bei dem Müller versucht das konkrete Bild aus der Druckfassung herauszunehmen, damit die Fassung weit bleiben kann und ein unscharfes aber deshalb reiches Bild entstehen kann. Die Möglichkeit, die dem Leser dadurch gegeben wird, schließt den Subtext der Manuskripte ein, der durch die Zurücknahme des Bildes in den Text nicht gelöscht wird, sondern durch die gegebene Unschärfe dem Text immanent ist.

[[1]]Almuth Grésillon unterscheidet als Vertreterin und Fürsprecherin der Critique Génétique zwischen zwei Arten einen Text zu produzieren: „das produktorientierte Schreiben und das prozessorientierte Schreiben.“ Letzteres ordnet sie eher den zeitgenössischen Schriftstellern zu und verweist somit „auf den näher zu bestimmenden Zusammenhang zwischen literarischem Schreiben und den Denkfiguren eines Zeitalters.“ Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“.Bern 1999. S. 137. (Im folgenden A. Grésillon, critique génétique).[[1]]

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Müller, Heiner: Theater-Arbeit. Hamburg 1975, S. 117.
  2. Suschke, Stephan: Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog. Berlin 2003. Vorwort, S. 7. Suschke beschreibt Müllers Inszenierungen als „Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln“. „Sein Ansatz war – wie beim Schreiben – am besten für mich zu fassen mit einer Denkfigur Deleuze/Guattaris – dem Rhizom: ein sich immer weiter verzweigender Wurzelstock. Das Verwenden von Motiven und Textteilen, das Überschreiben, Übermalen über einen Zeitraum von Jahren, Jahrzehnten hinweg, fand seine Entsprechung in den Inszenierungen, die von der Montage, der Konstruktion lebten, […].“ Ebd.
  3. Bernhard, Julia: „So wurde allmählich dieses Bild ‚mit Schrift bedeckt’…“. Das Konvolut Bildbeschreibung im Nachlass Heiner Müllers. In: Heiner Müller – Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Hg. v. Ulrike Haß. Berlin 2005 [Recherchen 29 / Theater der Zeit], S. 19-30. S. 19. (Im folgenden J. Bernhard, Bildbeschreibung).
  4. Jan-Christoph Hauschild in seiner Biographie über Heiner Müller: „Er hat Angst etwas wegzuschmeißen.“ Er beschreibt Müllers Arbeitschaos, dem er mit einem ‚Schichtverfahren’ beizukommen versucht: „Die Arbeitsphasen werden durch Lagen von Zeitungen voneinander getrennt – ein Zettelkrieg gegen die nachwachsenden Mengen an Papier […].“ Dazu Margarita Broich: „Er hat immer mit Zeitungslagen gearbeitet. Da war dieser Tisch mit Tausenden von Zetteln und Notizen, und da hat er dann ab und zu wieder Zeitungspapier darüber gedeckt, wie ein Schichtkuchen, und dann wieder neu angesetzt.“ Mußten die Schichten z.B. umzugsbedingt abmontiert werden, war das für Müllers Arbeitsprozess katastrophal. Die Theaterwissenschaftlerin, Dramaturgin und spätere Regisseurin Renate Ziemer wird Müller eine zeitlang als Assistentin im Kampf gegen das ‚Chaos des Alltags’ organisatorisch beistehen und lange den Überblick im Schichtsystem behalten. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Eine Biographie. Berlin 2001. S. 374-375.
  5. So finden sich unter den Manuskripten im Heiner-Müller-Archiv überwiegend undatierte Notate, niedergeschrieben z.B. auf die Rückseite eines Kassenzettels oder auf einer Serviette, oder im Fall der Gundling-Manuskripte auf einem Bogen Hotelbriefpapier (Heiner-Müller-Archiv, Augias-Katalog 3394, Blatt 6) oder auf die Rückseite der Kopie eines Handbuchartikels über den Einfluss der Antike auf die deutsche Klassik und die sozialistische Bedeutung. (ebd., 3798). Dazu Renate Ziemer: „Müller notierte sich alles, ohne Unterschied, ob Ideen oder Telefonnummern, auf jedem Zettel, der irgendwie greifbar war, auch auf Taxi-und Restaurantrechnungen. Es bleibt zu hoffen, daß die wichtigen Dinge im Archiv gelandet sind und nicht im Büro des Steuerberaters.“ (zit. nach Hauschild, S. 6).
  6. J. Bernhard, Bildbeschreibung, S. 24.
  7. Müller, Heiner: Manuskripte zu LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. Augias Katalog 3394 Lessing Schl. / Tr. / Schr., 3394 sex, 3394 Apotheose, alle handschriftlich. Transkriptionen: Christina Schmidt. Heiner-Müller-Archiv der Akademie der Künste, Berlin. (Im folgenden HM Archiv ).
  8. „Flaubert schrieb nicht nur alles auf, was ihm durch den Kopf ging, sondern bewahrte auch alles auf, was er irgendwie beschrieben hatte: ‚Ich werfe keinen Zettel weg, das ist eine Manie von mir.’ Mit ihm beginnt in diesem Sinn die Moderne: Entwurfs- und Arbeitshandschriften zeugen gerade wegen der Streichungen, Einfügungen und Umarbeitungen von der ‚Hundearbeit’ des Schreibens, sie gewinnen gerade deshalb offiziellen und öffentlichen Wert, und der Schriftsteller weiß es. Daraus folgen im Prinzip zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen. Entweder wird alles aufbewahrt, alles gezeigt, so bei Hugo und Flaubert, oder aber es wird zur Vernichtung bestimmt, so bei Mallarmé und Kafka.“ A. Grésillon, critique génétique, S. 117.
  9. A. Grésillon, critique génétique, S. 140.
  10. A. Grésillon, critique génétique, S. 140.
  11. A. Grésillon, critique génétique, S. 97.
  12. A. Grésillon, critique génétique, S. 172.
  13. HM Archiv 3394 tv mein Fenster, u. 3394 sex, beide handschriftlich.
  14. Müller, Heiner: LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. In: Ders.: HERZSTÜCK. Hamburg 1983. (Heiner Müller Texte 7), S. 35, 36. (Im folgenden HM Gundling).
  15. Die Aktion ,,Coyote; I like America and America likes me“ fand im Mai 1974 in der New Yorker Galerie René Block statt und dauerte exakt vier Tage. Vom New Yorker Flughafen wurde Beuys – komplett in Filz gewickelt – von einem Krankenwagen zur Galerie gefahren. In einem separaten Raum erwartete ihn ein Kojote mit dem Beuys 72 Stunden verbrachte. Er ordnete Filzbahnen, stapelte täglich die neueste Ausgabe des Wall Street Journal, war ausgerüstet mit Handschuhen, Spazierstock, und einer Triangel. Gelegentlich zerrissen Turbinengeräusche die Stille. Innerhalb dieser nahm Beuys Kontakt zum Kojoten auf. Anfangs verunsichert und aggressiv, gewöhnte sich das Tier bald an den Künstler, es schlief auf den Filzbahnen, die es zuvor attackiert hatte. Beuys legte sich auf das Strohlager des Präriewolfes. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier wurde inniger, bis Beuys auf die selbe Weise verschwand, wie er gekommen war. (Vgl. auch: Der Text ist der Coyote. Heiner-Müller-Bestandsaufnahme. Hg. von Christian Schulte und Brigitte Maria Mayer. Frankfurt am Main 2004.)
  16. Heiner Müller / Robert Weimann: Gleichzeitigkeit und Repräsentation. Ein Gespräch. In: Postmoderne – globale Differenz. Hg. von Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt am Main 1991. S. 182-207. S. 195. (Im folgenden Müller/Weimann: Gleichzeitigkeit)
  17. Birkenhauer, Theresia: Bild-Beschreibung. Das Auge der Sprache. In: Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Hg. von Ulrike Haß. Berlin 2005. [Recherchen 29 / Theater der Zeit], S. 93-111. S. 105. (Im folgenden t. Birkenhauer, Bildbeschreibung)
  18. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1980, S. 173.
  19. Foucault, Michel: Was ist ein Autor. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main 2003. S. 7-31. S. 11.
  20. T. Birkenhauer, Bildbeschreibung, S. 106.
  21. HM Gundling, S. 36.
  22. Müller, Heiner: Anatomie Titus Fall of Rome. In: (Ders.): Shakespeare Factory 2. Hamburg 1994. (Heiner Müller Texte 9). S. 151.
  23. Müller/Weimann: Gleichzeitigkeit, S. 190/191.
  24. Die ausgeschlossenen Möglichkeiten, die ‚inneren’ Bilder, sind in ihrer Wirkung aber oft sehr viel kraftvoller. Bekannt beispielsweise ist der Mechanismus bei unwillkommenen (Horror)szenen im Fernsehen oder Kino die Augen zu verschließen. Hört man dann jedoch die Szene, ist das innere Bild oft grausamer und in seiner Wirkung wuchtiger als das konkrete Bild. Ebenso exemplarisch ist die Wucht von Albträumen, die jedes konkrete Bild übertrifft.

ET IN ARCADIA EGO – Körper und Bilder

Auf einem der Manuskriptblätter Heiner Müllers zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, von denen Christina Schmidt etwa achtzig Blätter transkribiert hat und damit längst nicht alle, die in Sonderheit dem dritten Teil Lessings Schlaf Traum Schrei zugeordnet werden können, findet sich eine Auflistung von Bildtiteln und verschiedenen Namen bildender Künstler. [1]

Vielleicht handelt es sich um Notizen, die Müller nach einem Besuch der Dresdner Gemäldegalerie im Zeitraum, da er unter anderem auch an Leben Gundlings arbeitete, gemacht hat. Vielleicht verdanken sie sich jedoch auch ganz anderen Anlässen, Gedankenspielen oder Assoziationsketten. Notiert sind auf diesem Blatt unter anderem folgende Namen und Wörter:

Et in arcadia ego: die / Inspektion. / (Blick aus dem DZug Dresden: […]
Godard Szenarien! / Rubens Leda / Rembrandt Selbstbildnis als Rohrdommeljäger / (half face in shadow) / sad triumph. / Baldung Grien / Poussin / Agrippina (motiv: Todess[…?][2]

In spekulativer, assoziativer und höchst subjektiver Weise möchte ich diese Namen, Titel und Stichworte in ein Verhältnis zu Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei bringen. Mein Verfahren ist notwendig sehr assoziativ und ohne jeglichen Anspruch auf ‚Erklärung’ des Textes oder der Notizen auf den Manuskriptblättern. Bei den Beziehungen, die ich herstelle, handelt es sich um mögliche lediglich in dem Sinn, dass sie sich für mich als Leserin in der Auseinandersetzung mit dem Text Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei hergestellt haben. Nur im Sinne dieser Möglichkeit gehören sie dem Text Müllers zu.

1. Rubens Leda

In der Szene „HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“ in Leben Gundlings, die unmittelbar auf die Szene „PREUSSISCHE SPIELE“ mit ihren Anklängen an die Phädra Racines folgt, lautet die erste Zeile „Projektion Leda mit dem Schwan (Rubens)[3]. Sowohl die Szene mit Friedrich und Catt („PREUSSISCHE SPIELE“) als auch die Szene zwischen dem König Friedrich und der sächsischen Witwe („HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“) handeln vom Begehren im Verhältnis zum Gesetz: Preußen. Dieser Zusammenhang legt es für mich nahe, der Nennung „Rubens“ in Bezug auf die Frage nach dem Körperwissen bei Rubens nachzugehen.

Abb. 1 Leda (nach Michelangelo)

Leda (nach Michelangelo) zeigt bei Rubens einen großen, kräftig sein Gefieder spreizenden Schwan zwischen den Beinen einer nackten Frau, die ‚in Leserichtung’, das heißt mit dem Kopf zum rechten Bildrand hin, auf einem Tuch lagert. Sein massiver Hals windet sich zwischen ihren Beinen hervor, ihren Bauch entlang, sein kräftig gewölbter Kopf liegt zwischen ihren Brüsten, Schnabel und Gesicht berühren sich: Leda, frisch gevögelt. Im Blickkontakt sind Vogelauge und Brust. Indem ihr linker Arm nach hinten zur Seite gehalten wird, öffnet sich der Körper der Frau für den Blick des Betrachters wie eine Szene, in deren Mittelpunkt eine wechselseitige Hingabe zwischen Frau und Schwan inszeniert wird. Die theatrale Darbietung der Szene unterstreicht das üppige, seidensteife Tuch, auf dem Leda lagert und das durch die Drehung ihres linken Arms wie ein Vorhang zur Seite gehalten wird.

Abb. 2 Der trunkene Silenus

Für Fragen des Körperwissens bei Rubens sei es erlaubt, auf die Figur des betrunkenen Silenus einzugehen, den er wiederholt gemalt hat: Silenus ist der Name einer marginalen Figur im Gefolge des Bacchus, ein Weggefährte, der, wenn er betrunken und gebunden ist, sich in seinem Gesang verliert (Vergil). Nackt, mittelalt, massig und schwer, vornüber geneigt oder schon stürzend zeigt Rubens den trunkenen Silenus zwischen Kentauren, Nymphen und Pan im Mittelpunkt eines quadratischen, zwei mal zwei Meter großen Bildes von 1610. Ohne jede soziale Färbung, wirkt der massige Körper wild und fremd. Er ist umgeben von Beispielen und Szenen, die Phantasien männlicher Sexualität gelten.

Dicht hinter Silenus ein Schwarzer, der den Stürzenden zu halten scheint und gleichzeitig mit seiner linken Hand in das Fleisch des Oberschenkels von Silenus greift. Das Gesicht dieses Mannes ist verzerrt, seine Augen sind nach oben gedreht, beginnen schon im Schwarz der Augenhöhlen zu verschwinden, so dass es jetzt den Anschein hat, als würde er, im Zustand der Verzückung, den riesigen Leib des Silenus von hinten penetrieren. Der Satyr, der Silenus auf seiner rechten Seite stützt, scheint wissend. Zu Füßen dieser Szene beugt sich eine erschöpfte Mutter (Erde) über zwei Jungen, säugt ihre Brut mit schweren, verformten, blau geäderten Brüsten, während sie mit ihrer Hand den Penis des Jungen zu ihrer Linken umfasst.

Abb. 3: Bacchanal

Im Vergleich mit einem früheren betrunkenen Silenus, dessen Szenario Rubens unter dem Titel Bacchanal malte, wird die Radikalität des Bildes von 1610 deutlich: In Bacchanal findet sich das identische Personal, aber die Körper spielen noch mehr Theater, sind eher vorgestellt und ausgestellt. Die säugende Mutter hält ihre Jungen. Die großen, nackten Körper von Silenus, dem Schwarzen und einer bocksbeinigen Frau berühren sich, indem sie aneinander lehnen. Die Begehrlichkeit wirkt eher als Maskerade der nackten Leiber und beherrscht sie noch nicht so sehr als jenes Drama des Begehrens, das in die Körper selbst gewandert ist und diese in Gänze ausmacht.

‚Zwischen Engel und Tier’ (Pascal) situiert der Barock die Frage nach dem Menschen. Bei Rubens erscheint der Mensch als nackter, stürzender Körper, ernst und melancholisch in seiner Trunkenheit, die nicht als fröhliche Ekstase gezeigt wird, sondern als Ausdruck einer Trauerarbeit. Rubens malt Silenus nicht als jenen fellbesetzten Halbtiermenschen, als der er sonst auf zeitgenössischen Bildern erscheint, sondern als einen nackten Menschen, dessen Geschlecht im Zentrum des Bildes von 1610 im Schatten liegt und somit – im Gegensatz zu allem, was dieses Bild zu zeigen bereit ist – nicht erscheint.

Eine diabolische Lesart des Geschlechts liegt hier nahe: Das Geschlecht im Körperschatten des Silenus von 1610 kann als Gleichnis für jenes unsichere und fragwürdige Geschlecht gelten, das sich nicht mehr als solches zu lesen weiß. Denn die barocke Welterfahrung ist bereit, nicht nur Gott als den einzigen Schöpfer, sondern mit ‚Gott’ auch jenen Nenner durchzustreichen, durch den es bis dahin möglich war, sich als Geschöpfe der menschlichen Gattung selbst zu bezeichnen. Was bleibt vom Menschengeschlecht, wenn es sich als geschöpftes negiert? Übrig bleibt weniger als ein Geschlecht: ein Geschlechtsteil, das sich jedoch nicht einmal mehr als stolze ‚Ausstattung’ präsentiert, sondern nur noch als wahllose, sozusagen unumgängliche Beschaffenheit der Kreatur.

Als eine solche bloße Beschaffenheit erscheint das Geschlecht ohne Körperschatten und in seiner Blöße vollends sichtbar im Zentrum des Bildes Höllensturz der Verdammten (1618-1620). Dieses Bild kennt keinen Bewegungsverlauf mehr, der in lesbarer Richtung horizontal, von links nach rechts im Bild verliefe, sondern zeigt den Sturz der nackten, schweren Leiber unverhüllt von oben nach unten, in jener Vertikale, die vormals die Bedeutungen generierte.

Um diese Assoziationen zu Rubens mit Müllers Szene „HERZKÖNIG SCHWARZE WITWE“ zu verknüpfen, sei auf folgende Sequenz in dieser Szene hingewiesen:

„FRIEDRICH nimmt Abstand: Der Himmel ist leer, Madame!

Sächsin steht auf, streckt die Arme nach ihm aus.

FRIEDRICH: Und ich bin der König.“[4]

Das Drama Preußens – Gundling, Friedrich, Katte, Kleist und Lessing – wird vor dem leeren Himmel des Barock vermessen. Die Szene zwischen dem König und der Sächsin, die zu Friedrich kommt, um ihren gefallenen Gatten zu beklagen, kippt in das Szenario zwischen dem „Herzkönig“ und einer „Schwarzen Witwe“, die als Mutter und Hure herhält. Sie kippt in ein pornographisches Szenario zwischen wahllosen Geschlechtern, wie sie Rubens im berühmten Höllensturz portraitiert hat. In Müllers Manuskripten findet sich ein Blatt, auf dem zum Namen Gundling notiert ist:

„Die Welt ist ein Loch, m.H. Keine Angst: Sie werden nicht herausfallen. Nun ist sie aber (wieder) kein Loch, weil: nichts ist außer ihr. Was folgt?

Gundling, Er ist schon wieder besoffen“[5]

2. Rembrandt Selbstbildnis (half face in shadow)

Die Selbstbildnisse Rembrandts zeigen regelmäßig das Gesicht zur einen Hälfte im Schatten.

Vom portraitierten Gesicht aus handelt es sich um die linke Gesichtshälfte, vom Malenden bzw. Betrachtenden aus gesehen handelt es sich um die rechte Bildhälfte: Dies verdankt sich zum einen dem Effekt der Spiegelsituation, zum anderen dem Effekt des mit der rechten Hand Malenden, der die Leinwand für das von links einfallende Licht so drapiert, dass seine Malhand keinen für den Malvorgang ungünstigen Schatten wirft. Nun verschattet das einfallende Licht das zu portraitierende Gesicht auf der ihm abgewandten Seite. Auf der rechten Bildhälfte geht das Gesicht in die Schwärze des Malgrunds über, verschmilzt selbst mit dem Material der Malerei, dem Grund der Leinwand und dem Grund der aufgetragenen Farbe. Konturen, Umrisse und das halbe Gesicht verlieren sich in einem formlosen Anthrazit, für das die Bezeichnung ‚Schatten’ keine Erklärung bietet. Das Selbstbildnis gibt kein ganzes Gesicht mehr heraus.

Abb. 4: Rembrandt, Selbstbildnis als Rohrdommeljäger

Rembrandts Selbstbildnisse entstehen gut anderthalb Jahrhunderte nach den ersten Selbstportraits Dürers, die den mit der Zentralperspektive betrauten und vertrauten Künstler im vollen Selbstbewusstsein seines Standes und seiner gesellschaftlichen Bedeutung ausstellten – als Typus und Modell des modernen Individuums, das sich nicht die Welt, aber das Theater der Welt als das „Theater der Natur und Kunst“[6] zur Aufgabe machen wird.

Abb. 5: Dürer, Selbstbildnis mit Landschaft 1498

Dürers Selbstbildnis mit Landschaft (1498) zeigt den Künstler in Renaissancekostüm vor einem Fenster, durch das sich eine Hügellandschaft in schöner perspektivischer Staffelung nach hinten an den Horizont verliert. Die dem Betrachter nur halb zugewandte linke Gesichtshälfte ist in präziser perspektivischer Verkürzung wiedergegeben, aber sie liegt nicht im Schatten. Ihre Konturen, Umrisse und Begrenzungen sind genauso wie bei der dem Betrachter voll zugewandten rechten Gesichtshälfte sichtbar und geben, ebenfalls vor dunklem Grund, ein ganzes Gesicht heraus.

sad triumph“, notiert Heiner Müller unmittelbar nach „Rembrandt Selbstbildnis (half face in shadow)“ und unterstreicht das „sad“.[7] Um welche Geschichte eines Triumphs handelt es sich und worin besteht seine Traurigkeit – abgesehen davon, dass alle neuzeitlichen Siege der menschlichen Selbstermächtigung, für die sowohl der Name Rembrandt als auch die Genrebezeichnung ‚Selbstbildnis’ stehen mögen, eine besondere Trauer bereithalten.

Im Prototyp des Künstlers feiert die Renaissance den Menschen als Schöpfer seiner eigenen Welt, seiner eigenen Umgebung und seiner eigenen Artefakte. Nur anderthalb Jahrhunderte später ist diese festlich gestimmte Selbstgewissheit der Einsicht gewichen, dass es sich bei allem, was der Mensch seiner schöpferischen Absicht unterwirft, doch immer nur um Herstellungen zweiten Grades anstelle einer ersten Schöpfung handelt. Anstelle einer neuen Welt, die nach dem Willen ihrer menschlichen Konstrukteure in einer neuen Zeit spielen soll, drängt sich das Reale des Grundes hervor, von dem aus die neuzeitlichen Konstruktionen sich aufheben sollen. Das Reale drängt sich in seiner puren Materialität hervor, als selbst formloses Material der Kreation: Leinwand, Farbe, Lichtverhältnisse.

Rembrandt steigt in diesen Ring, das Bildnis mit und gegen sein Reales zu behaupten. Ausgerechnet seine Selbstportraits, ‚half face in shadow’, erteilen dem Selbst, das sich neuzeitlich zum Schöpfer ermächtigt, ein schonungsloses Urteil: Du bist in deinem Wesen, sobald es aufhört, sich selbst zu behaupten, nur Materie, Verwesung und Dreck, ein Nichts, von keinem Gott ewig bejaht.

3. Baldung Grien

Körperwissen bei Baldung Grien, der von 1485 bis 1545 lebte: Seine Federzeichnungen zeigen, dass das Bewusstsein vom dunklen Grund kein Privileg des hohen Barock ist. Seine Zeichnungen mit schwarzer Feder auf tief rötlichbraun grundiertem Papier, oft kaum größer als ein DIN A4 Blatt, zeigen auf ganz eigene Art ‚dramatische’ Körper, deren Plastizität durch zusätzlich aufgetragenes Weiß erreicht wird.


Abb. 6: Zwei kämpfende nackte Männer (1515)

Zwei kämpfende nackte Männer (1515, eigenhändig datiert): Die Körper sind ernst, ohne Vergnügen. Der Tod spielt nicht so sehr zwischen den Kämpfenden. Er droht nicht in der Aktion des einen gegen den anderen und ist nicht in einer zugespitzt gefährlichen Situation gebannt. Er wird nicht als unmittelbar bevorstehend gezeigt, als ein Ereignis, auf das der Kampf hinaus liefe oder im nächsten Moment endete. Der Kampf, der nicht so sehr zwischen den Kämpfenden spielt, ist von eigentümlicher Dauer, die den Blick auf die nackten Körper lenkt und ihn ahnen lässt, dass der Tod diesen Körpern längst inne wohnt


Abb. 7: Die Beweinung Christi (1515)

Die Beweinung Christi (1515): Die Beweinung als ganzkörperliche Aktion. Grien zeigt keine Tränen in den Augen, sondern ein ohnmächtiges Erfasstwerden, ein Fortgerissensein vom Schmerz und ein Fortgerissenwerden in die Dunkelheit des Blattes. Die weiß gehöhten Konturen halten diese Bewegung so eben noch auf.


Abb. 8: Kopf eines Apostels (1519)

Der Tod bewohnt die Körper. Kopf eines Apostels (1519, Dürermonogramm von fremder Hand): Das Gesicht ist eine Maske, die angewachsen ist. Darunter ist kein Gesicht. Das Gesicht als Maske spannt sich über das nackte Gesicht, den Totenschädel.

In seinen Manuskripten notiert Heiner Müller eine ähnlich lautende Reflexion zur Maske, die im abschließenden Teil von „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ zum „SCHREI“ in Beziehung tritt. In den Manuskripten heißt es:

„Telos Zerstörung
der Lessg.maske
(cry)
weil sie angewachsen ist (no face under m.)
naked face = skull
(skull beneath the skin)“[8]

Im Stücktext findet sich diese Maske, die Verkleidung eines jeglichen Gesichts ist, reflektiert in Bezug auf den „TRAUM“ von der Darstellung. Es handelt sich um eine doppelte Darstellung: „film + revolution“[9] lautet eine Notiz auf demselben Blatt. Der enge Zusammenhang von Maske, Theater und Film scheint hier auf. Ihm steht die andere Darstellung zur Seite: „revolution“, dazwischen kein trennendes Zeichen wie Punkt oder Komma, sondern ein ausdrückliches Pluszeichen. Lessing wird mit seinem Traum vom Theater „(als Kontinuum)“[10] und mit einem Torso zitiert, mit seinem vergessenen Bruchstück „SPARTAKUS EIN FRAGMENT“[11]. Das Scheitern dieses Traums einer doppelten Darstellung, die nicht nur eine Kunst der Darstellung, sondern auch anders sich darstellende gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringt, wird mit dem Namen Lessings verknüpft: seine Hoffnung auf ein neues Deutschland durch die Wirkungen eines Nationaltheaters. Immer noch auf demselben Manuskriptblatt notiert Müller: „Unmöglichkeit, Scheitern v. hope f. nationaltheater“[12].

Die Radikalität der Hoffnung Lessings und sein Versuch, sie ins Werk zu setzen, gerät in die Hände eines Theaterbetriebs, der Lessing in den folgenden anderthalb Jahrhunderten zum bildungsbürgerlichen Zitatenschatz herabmindert und gleichzeitig zum Denkmal vor den Theatern in den deutschen Innenstädten überhöht. Ziel dieser Tradition ist die Mumifizierung und Zerstörung der Lessingmaske. Dass ihre Zerstörung Schmerzen bereitet, „weil sie angewachsen ist“, wird vergessen. Lessings Schrei, der aus der Büste dringt, wird vom Publikum wie ein besonders delikater Theatercoup mit Applaus quittiert werden.

Im letzten Abschnitt des Stücks wird diese Geschichte eines Theatertraums in Deutschland aufs Äußerste komprimiert. Pochen diese Zeilen auf das Reale jener Illusion einer besseren Welt, die sich ohne Entsprechung in der Realität entwarf? Oder sprechen diese Zeilen von ihrem Verlöschen? Der abschließende Text „Lessing 3 (Apotheose)“[13] besitzt die äußere Gestalt einer Bühnenanweisung. Seine Fragen werden mithin der Bühne überantwortet und bleiben selbst ohne Anweisung, ohne Abschluss.

„3 Projektion
APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT
Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt. Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind, schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen, während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befrein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei. Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern).[14]

4. Poussin

Abb. 9: Et in arcadia ego

Et in arcadia ego lautet der Titel eines Bildes Poussins aus den 1630er Jahren. In Leben Gundlings stehen beide, Poussin und dieser Bildtitel, für Preußen. Die vorletzte Szene des mittleren Teils FRIEDRICH VON PREUSSEN ist überschrieben „ET IN ARCADIA EGO*: DIE INSPEKTION“[15]. Innerhalb dieser Szene wird der Satz noch einmal einer Rede Friedrichs zugeordnet. Welcher Zusammenhang ist zwischen Poussin und Preußen denkbar? Inwiefern steht dieser Titel, Poussins „Arkadien“, für Preußen?

Bei Poussin strahlen alle Figurenensembles, Landschaften, Monumente, Stoffe, Interieurs vor allem dies aus: Schönheit, Luxus, Ruhe. Ein Bacchanal von Poussin mag dies, vor allem im Vergleich mit den zitierten Bildern von Rubens, dessen trunkener Silenus ebenfalls dem mythologischen Szenario des Bacchanals zugehört, verdeutlichen.

Abb. 10: Ein Bacchanal von Poussin

Zu Bacchus Füßen lagert keine lüstern säugende Mutter, sondern ein klassizistischer Akt, umgeben von geleerten Trinkgefäßen und einem vor satter Erschöpfung schlafenden Baby. Mütter wie Milch und Honig. Die schönen weißen Frauen ruhen und schlafen – fast gleichgültig, ob sie ihren dekorativen Schlaf dem Wein oder dem Pesttod verdanken. Ebenso die Männer, ob sie nun büßen, richten oder kämpfen: Bei Poussin triumphieren die Geschlossenheit der Linie, die Einheit der Körperbilder und die Geschlossenheit ihrer Bildhintergründe. In der atmosphärischen Dichte ihrer Umgebungen erscheinen Dinge und Körper in angemessener Distanz zueinander.

Bei Rubens hingegen der fleischliche Exzess und die Ausgesetztheit der Körper, brutal in ihrer Nacktheit, fremd, konturlos und ohne soziale Färbung, das schwere Fleisch stürzend. Keine in der Horizontale gelegene Landschaft, die zu durchwandern oder zu bewohnen wäre.

An die schier unfassbare annähernde Gleichzeitigkeit von Poussin und Rubens – Poussin, 1594 geboren, ist 17 Jahre jünger als Rubens – hat die Kunstgeschichte eine Reihe ihrer prominentesten Dichotomien geknüpft: Linie, Geschlossenheit, Einheit, Klarheit usw. bei Poussin versus Farbe, Offenheit, Vielheit, distinktes Oszillieren bei Rubens usw. Die Frage, warum Müllers Text Preußen mit einem Bonmot identifiziert, das an prominenter Stelle auch einen Bildtitel Poussins bildet, ist jedoch weniger über solche Begriffsreihen zu ermitteln. Vielmehr interessiert diese Dichotomie der Formen in Bezug auf das je andere Wissen vom Körper.

Poussin und Rubens arbeiten in einer Epoche, in der die Körper in den Bildraum der Darstellung integriert werden und in diesem in Erscheinung treten sollen. (In der Renaissance waren die Körper autonome ‚Bühnen’ oder dem dargestellten Raum addiert.) Poussin und Rubens arbeiten in Bezug auf diese Bildwerdung des Körpers eine entgegengesetzte Perspektive aus, die der Unvereinbarkeit von Körpern und Bild geschuldet ist.

Bei Poussin erfahren die Körper ihre Konturierung im Bild. Sie erfahren ihre Reduktion auf die Kontur als einer äußeren Linie, mit der sie sich gegen den Hintergrund verschließen und von ihm abgrenzen lassen. Die Perspektive Poussins führt zur bildhaften Isolation in der neuzeitlichen Anordnung des Sehens, die den Körper zur Ausstellung seiner manifesten Sichtbarkeit drängt, zur Lesbarkeit seiner Konturen und zur Behauptung seiner bildhaften Abgeschlossenheit.

Bei Rubens erfahren die Körper im Übergang zum Bild den Verlust ihrer Lokalisierbarkeit in einem ‚Realraum’ und mehr noch, da sich, alle Platzierungen, in die der Betrachter gesperrt ist, als noch illusorischer’16 erweisen, den Verlust ihrer Lokalisierbarkeit im eigenen Fleisch. Die Perspektive Rubens’ verweist auf die Schwierigkeit, den Körper in der Repräsentation überhaupt zu verorten. Der Körper ist nicht ausstellbar. Er verliert gegen seine bildhafte Repräsentation als sterblicher Rest.

In der Perspektive Poussins wird der Zusammenhang von bildhafter Geschlossenheit und gewaltsam behaupteter Einheit bedeutsam. Die Szene ET IN ARCADIA EGO gilt dem vollendeten Bild Preußens: „Friedrich nimmt eine königliche Haltung ein. Die Maler malen. Der Knabenchor singt KEIN SCHÖNER LAND IN DIESER ZEIT / ALS HIER DAS UNSRE WEIT UND BREIT
Friedrich […]: „kein Schauspiel erfreut das Auge eines Königs mehr als eine blühende Provinz“[17]

Außerhalb dieses Arkadiens, das im Auge des Königs verankert ist, gibt es kein Bild. Die Szene führt militärischen Zwang, Gewalt, die Unterdrückung der Bauern und die zynische Verachtung des Anderen wie ein grelles Kasperletheater auf. „Voltaire kotzt an der Rampe.[18]

Das Theater, sagt diese Szene, ist kein Bild, auch nicht dessen Rückseite oder gar dessen verborgene Wahrheit. Das Theater ist vielmehr der Ort, der jede bildhafte Abgeschlossenheit unmöglich macht und an dem die Körper – wie Rubens wusste – übrig bleiben, brut et nu, als sterblicher Rest.

5. Der Tod der Agrippina und so weiter
Abb. 11: Pittoni, Der Tod der Agrippina

Giambattista Pittoni um 1750: In den Gründerjahren des bürgerlichen Theaters erscheint im Zentrum der Szene der Körper einer toten Frau, ausgestellt für die Blicke der Bildbetrachter. Der nackte Körper, mit weit nach hinten fallendem Kopf, erscheint maximal geöffnet und wird von alten Männern in Debattierposen umgeben, die sich wechselseitig anschauen und ihre Blickbeziehungen jenseits des entblößten Frauenkörpers als in sich geschlossenes Blickband vorführen. Im Bild wird der nackte Frauenkörper zwanghaft als nicht angeschauter behauptet, um ihn desto schamloser den Blicken der Bildbetrachter auszusetzen. In dieser Struktur begründet das bürgerliche Theater den Zuschauer als Voyeur, während es den Schauspieler und in Sonderheit die Schauspielerin zur doppelten Entblößung zwingt: zur Veräußerung innerer Anlässe und seelischer Entblößung zum einen, zur Reduktion auf die körperbildliche Erscheinung und deren Veräußerung zum anderen. Die Geschlossenheit des Blicks im Bild (niedergeschlagene, verzückte, verdrehte Blicke) ist die Voraussetzung dafür, dass auf der anderen Seite der Zuschauerblick sich ermächtigt, ermannt und in die Produktion von Verführungs- oder Tötungsphantasien (oder beides in einem) einsteigt. Diderots berühmte Bildbeschreibung von Jeune fille qui pleure la mort de son oiseau von Jean-Baptiste Greuze kann hier als Modell gelten für den Ausschluss der Frau aus dem Zentrum (des dramatischen Konflikts, des öffentlichen Raumes), der sich gleichzeitig als Erhöhung und Apotheose der Frau durch eine (literarisch gespeiste) männliche Phantasie darstellt.

Im ersten Teil des Lessing-Triptychons liest der Schauspieler, der zu Lessing geschminkt wird: „Ich habe die Hölle der Frauen von unten gesehen“[19]. Im Traum wissen Lessings „Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war“[20] die Wahrheit. Was Emilia vernichtet, ebnet den Übergang zu keiner Figur und den Weg in die Maschinenform des Menschen. Nicht die alten Männer in Debattierposen als solche, nicht das Opfer der Frau als ein solches, nicht dass SPARTAKUS ein Fragment blieb, sondern dass dies alles – wie Heiner Müller in seiner Anmerkung zum Stück nahelegt – gleichzeitig[21] in die Gründung einer besseren Welt einging, macht diese unmöglich. Die Anachronismen sprengen die Kontinuität, ebnen den Weg für die apokalyptischen Szenarien Godards. „weekend usw. lesen“ notiert Müller auf einem seiner Manuskriptblätter: „Sprengung v. Theater (als Kontinuum)“[22].

Drei fragmentarische Thesen zum Abschluss

  1. Im Barock erscheinen der Raum des Textes und der des Bildes voneinander getrennt. Für den Text heißt dies, dass er sagt, was zu sehen ist, aber nicht gezeigt wird. Der visuell entwickelte Raum oder die bildstarke Verwandlung verbünden sich eher mit der Stimme als mit dem Text, der ihnen gleichwohl vorausgeht.
  2. Der zweite Teil des Lessing-Triptychons in Leben Gundlings führt vor, was der Text Bildbeschreibung von Heiner Müller vollendet: Die Bilder sind im Text aufgehoben. Die Sprache übernimmt, dank ihrer Beweglichkeit, die Funktion der Blicklenkung. Eine Bebilderung im visuellen Raum der Bühne ist dadurch ausgeschlossen. Der visuelle Raum und der Text in seiner Funktion als ‚Anordnung’ sind als Schauraum zu begreifen, als Medium, innerhalb dessen sich Blicke, Bilder und Sprache einstellen.
  3. Auf der Geschlossenheit des Bildes (exemplarisch: Poussin) beruht das Machtverhältnis zwischen Bild und Text im bürgerlichen Theater, der traditionellerweise zugunsten einer (vorgeblichen) Herrschaft des Bildes im „Schau-Spiel“ gelöst wird: Sprache wird zum Accessoire des Bühnenbildes. Der Wettstreit von Schrift und Bild ist jedoch der zweier Supplemente, der sich in einem progressus ad infinitum zu verlieren droht. Müllers Einspruch lautet: Die (barocke) Rückführung des Bildes in den Text. Die Häufung der Bilder im Text folgt dem Prinzip des „Blätterns“ (ein Blatt oder ein Bild über das andere), der Wiederholung und Übermalung. Der Rhythmus dieses „Blätterns“ verweist auf die unhintergehbare Materialität von Bildern, die Vorder- und Rückseiten aufweisen und in diesem Merkmal Körpern ähneln.

    [[16]]Vgl. Michel Foucault: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig (Reclam) 2002, S. 34-46, hier S. 45.[[16]]

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Archivnummer: 3392, „et in arcadia ego: die“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006).
  2. Meine Auflistung zitiert die auf diesem Blatt enthaltenen Angaben weder vollständig noch befolgt sie in jedem Detail die Schreibweise der korrekt vorgenommenen Transkription, in der fragwürdige und problematische Lesbarkeiten nach einem eigenen Schema ausgewiesen werden. Die hier verwendete Auflistung gibt somit nur die für mich eindeutig erkennbaren Angaben wieder. Für das Agrippinamotiv habe ich mich zudem an die in der Rotbuch-Ausgabe wiedergegebene Abbildung von Giambattista Pittoni gehalten, ohne damit behaupten zu wollen, die handschriftliche Notiz dieses Blattes beziehe sich ‚nachweislich’ auf Pittoni.
  3. In: Heiner Müller: Herzstück. Texte 7, Berlin (Rotbuch) 1983, S. 111.
  4. Heiner Müller: LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. Ein Gräuelmärchen. In ders.: Herzstück, a.a.O., S. 9-37, hier: S. 19. [Im folgenden zitiert als: Müller, Leben Gundlings.]
  5. Archivnummer: 3394, „Mo 2 G 9“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006.)
  6.  Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade .Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin (Akademie Verlag) 2004.
  7. Archivnummer: Vgl. Anmerkung 1.
  8. Archivnummer: 3394, „Kopf zuschnüren mit Armeln v. Uniform“. (Transkription: Christina Schmidt, 2006.
  9. Ebd.
  10. Ebd.
  11. Müller, Leben Gundlings, S. 36.
  12. Archivnummer wie Anmerkung 7.
  13. So die sachliche Benennung dieses Teils in der „Anmerkung“, die dem Stück in der Rotbuch-Ausgabe vorangestellt ist. Vgl. Müller, Leben Gundlings, S. 9.
  14. Müller, Leben Gundlings, S. 36 f.
  15. Unter * vermerkt eine Fußnote: „lat. ‚Auch ich war in Arkadien’ (Horaz). Müller, Leben Gundlings, S. 29.
  16. Müller, Leben Gundlings, S. 29.
  17. Müller, Leben Gundlings, S. 30.
  18. Müller, Leben Gundlings, S. 34.
  19. Ebd.
  20. „Die Teile des Lessing-Triptychons sollten nach Möglichkeit […] überlappend aufgebaut werden: während der Schauspieler zu Lessing geschminkt wird, wird der Autofriedhof aufgebaut; während Emilia Galottis und Nathans Rezitation schütten die Bühnenarbeiter (Theaterbesucher) über dem Spartakus-Torso den Sandhaufen auf.“ Ebd., S. 9.
  21. Archivnummer wie Anmerkung 7.

Spartakus Lessing

Heiner Müllers Kommentar zum Ur-sprung des deutschen Nationaltheaters

(1) Ein Stück über Begründung und Begrenzung des deutschen Nationaltheaters im 18. Jahrhundert [1]

Heiner Müllers Stück “Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei”[2] wurde 1976 fertiggestellt. Es erschien 1977 in der DDR und wurde 1979 in Frankfurt am Main uraufgeführt. Bis heute beschäftigt es Theater, Wissenschaft und Leser als ein formal wie thematisch ebenso eindrückliches wie rätselhaftes Stück, das schwer auf die Bühne zu bringen und über das nicht einfach zu reden ist[3] : Neun Szenen, vier thematische Blöcke, von denen drei im Titel angedeutet sind, jeweils markiert durch einen Namen – des Intellektuellen Gundling, Friedrichs – zuweilen „der Große“ genannt, Lessings – einer, Kleist, taucht nur im Text auf. Gemeinsames Thema auf den ersten Blick: Preußen, das in jeder Hinsicht mißliche Verhältnis des Staates und seines emblematisch betrachteten Herrschers zu den Intellektuellen und Künstlern. Man kann das Stück im Kontext der verschiedenen Ansätze in Müllers Arbeit sehen, die Wurzeln des DDR-Sozialismus auszugraben. Man kann es als Müllers spezifische Auseinandersetzung mit dem lesen, was in Anklang an Marx und Brecht als “deutsche Misere” bezeichnet wird – die lange Kette der mißglückten Revolten und Revolutionen in Deutschland, die von den Bauerkriegen über die ausgebliebene bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts bis zur gescheiterten 48er-Revolution reicht und sich dann im 20. Jahrhundert im Scheitern einer proletarischen Revolution in Deutschland fortsetzt. Zugleich steht es den zeitgleich unternommenen archäologischen Untersuchungen Michel Foucaults nahe, der Herstellung von Versuchsanordnungen, in denen sich Problemkomplexe konstruieren und in dieser Konstruktion lesen, analysieren und einer Bearbeitung öffnen lassen.[4] Es nimmt in mehrfacher Hinsicht das später im Mittelpunkt von “Quartett” anders erneut in Szene gesetzte Verhältnis von vermeintlich privater Sexualität und öffentlicher Politik auf – beleuchtet teils private, teils öffentliche Manifestationen von Sadomasochismus, verdrängter und sublimierter Homosexualität, unterdrückter Wunschbefriedigung und deren Kompensation durch die Wendung in den Haß auf das Glück der anderen. Nicht zuletzt, und dies betrifft in erster Linie die nachfolgend ausschließlich untersuchte letzte Szene des Stückes (34-37), ist “Leben Gundlings” ein Stück über Begründung und Begrenzung von Theater und Literatur in Deutschland im Zeitalter einer beschränkten, über sich selbst nur unzureichend aufgeklärten Aufklärung, für die hier, wie mir scheint, pars pro toto der Name Lessing steht.[5] Diese Begründung und Begrenzung wird dadurch zunächst einmal vorgestellt, daß das Modell Lessings durch Gesten, bzw. implizite Hinweise im Text mit anderen Theatermodellen, und in gewisser Hinsicht auch mit dem Anderen dieses Theatermodells in Kontrast gesetzt wird: Die Selbstvorstellung Lessings im Stile einer Figur des Brechtschen Lehrstückes (“Ich bin der Lehrer”…)[6] und die Rede vom “Einverständnis” (vgl. 34)[7] mit dem eigenen Sterben verweist auf den Brecht der späten 20er-Jahre, die Anrufung Lautreamonts, bzw. Maldorors (36) auf die Sürrealisten[8], das Pink Floyd-Zitat (35) auf die Popkultur der 70er-Jahre, die nachgestellte Spielanweisung auf Theaterpraktiken, die das Prinzip der Gleichzeitigkeit verfolgen. Diese Verweise auf andere Modelle blieben freilich eine unbefriedigende, weil äußerlich bleibende Form der Kritik, enthielte die Szene nicht den Versuch, die andere Aufklärung, den anderen Lessing, letztlich Lessing als anderen gegen den staatlich, akademisch und theaterpraktisch nobilitierten Klassiker und die sich von ihm herschreibende Tradition auszugraben, einen Versuch, den man vielleicht am besten mit Walter Benjamins Begriff einer rettenden Kritik charakterisieren könnte.[9] Ihr gilt im folgenden mein Interesse.

(2) „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“

Die Lessing-Szene ist innerhalb des Stückes in mehr als einer Hinsicht herausragend: Sie stellt gewissermaßen ein Stück im Stück dar, ist unterteilt in drei aufeinander bezogene, gleichwohl voneinander auch auf benennbare Weise getrennte Teile. Jeder dieser Teile beginnt mit einer als “Projektion” bezeichneten, in Versalien gesetzten Schrift, die sich vom folgenden wie ein Szenentitel oder wie jene dem Barock entliehenen umfangreichen Szenenbeschreibungen Brechts[10] einerseits deutlich abheben, andererseits aber davon auch eine Art von Vorahnung vermitteln.

Die in Versalien gesetzte Schrift deutet auf die auffälligste phänomenale Eigenheit der Szene: Sie ist eine Schichtung unterschiedlicher Erscheinungen des Textes: Er tritt uns entgegen als Projektion, Sprechen, Schrift, Schauspielerei, Zitat. Angelegt sind hier von Anfang an Konflikte zwischen Sehen und Hören, Schrift und Sprechen, Text und Spiel, Spiel und dessen Voraussetzung (Bühnenarbeiter), Spieler und Aufgabe des Spielers (der Schauspieler “liest”), Spieler, bzw. Leser und Rolle: Der Schauspieler liest “Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing” (34), stellt also die von ihm durch das Pronomen angenommene Identität als das in einem Lektüreakt zustandegekommene Resultat einer komplexen Operation dar, von der, was immer sich im folgenden entwickeln, was aus dem Entwickelten gefolgert werden wird, nicht abzukoppeln ist. Er tritt weder als Charakter, noch als Spieler auf, er trägt keinen Namen, bzw. er trägt ihn lediglich, stellt ihn vor, besitzt ihn aber nicht. Nicht Lessing also spricht hier, auch nicht ein Lessingdarsteller, vergleichbar dem “Hamletdarsteller”[11] der Hamletmaschine, sondern vielmehr einer, der den Text eines Lessingdarstellers liest und lesend vermutlich spricht. Die Distanz, die das brechtsche Theater zwischen dem Spielenden und seiner Rolle etablieren wollte, wird hier zu einer vielfältig ausgeweiteten Distanz der unterschiedlichen Elemente, die vielleicht am Ende zur Gestaltung einer Szene zusammentreten könnten – dabei aber in jedem Fall immer nur eine von vielen möglichen Realisationen dessen geben werden, was in der vielgestaltigen, oder besser vieldeutigen Textform angelegt ist.

Was das Reden oder Schreiben über Müllers Szene – wie über das ganze Stück – erschwert, ja geradezu unmöglich macht, ist die ungeheure, in der Tat barock anmutende Verselbständigung von Wort, Satz, Schrift und Szene in seinem Schreiben. Die Synthesen, die sich anbieten, werden im nächsten Moment wieder aufgelöst durch die lose Bindungsenergie, die sie zusammenhält: Man kann selbstverständlich das Zitat von Lessings rebellischem Zeitgenossen Leisewitz über dessen Traumlosigkeit als Szenenanweisung dieser wie der folgenden Szenen lesen, diese dann als Szenen über Schlaf, Traum und Schrei Lessings begreifen[12], doch ließen sich Schlaf Traum Schrei gerade so gut in jeder einzelnen der Szenen gewissermaßen als simultan angelegte Zustände begreifen. Wie an vielen Stellen ergibt sich aus Müllers “Surfdramaturgie”[13], seinem unvermittelten Übergang von Wellenkamm zu Wellenkamm – oder weniger poetisch gesprochen: von einem zum nächsten Endpunkt einer ausgelassenen Reihe – eine letztlich unbegrenzbare Vielzahl an Möglichkeiten zunächst der Lektüre, dann der Interpretation und des Spiels.

Müller selbst gibt für die drei Szenen einen Lektürevorschlag, wenn er in seiner “Anmerkung” zum Stück von einem “Triptychon” (9) spricht, also eigentlich von einem Flügelaltar aus drei Teilen, und zugleich Lessing 1, 2, 3 unterscheidet, also nahelegt, daß wir es nicht mit ein und derselben Person oder einem Charakter in drei Situationen zu tun haben, sondern eher mit dreien, in potentiellem Konflikt zueinander stehenden Instanzen, drei “Haltungen”, wie man mit Brechts Begriff sagen könnte, drei Bündeln von Gesten. Sie sind vergleichbar den verschiedenen Elementen der Allegorie – Inscriptio, Emblem, Subscriptio – die zusammen-, aber eben auch auseinandertreten können. Eine andere Assoziation, naheliegend durch die gewählten thematischen Komplexe, wäre auch, an die von Lacan dargestellte Spaltung und konfliktuöse Anordnung des Subjekts zu denken, das immer zugleich imaginär, symbolisch und real verfaßt ist, bzw. im Konflikt dieser Ebenen erscheint und verschwindet. Dabei könnte man vielleicht davon sprechen, daß wir zunächst eine vergleichsweise konventionelle Vorstellung Lessings in den – allerdings bearbeiteten, modifizierten – Topoi der zeitgenössischen Lessing-Forschung erhalten, die hier dem sich als Lessing bezeichnenden “ich” in den Mund gelegt werden, daran anschließend eine Szene, die Lessing als imaginäre Bühnenerscheinung (einen mit Namen auf dem Kostüm sichtbar als solchen ausgewiesenen Lessing) neben die Bühnenerscheinungen Nathan und Emilia stellt, schließlich eine Szene, die vom bekannten Lessing abrückt, um die Suche nach den Spuren eines anderen Lessings anzutreten, der sich nicht länger als Sprache oder Bild, sondern vielmehr als ein Fehlen von Sprache und Bild und zugleich als die Suche oder das Rufen nach ihnen manifestiert.

Gerade angesichts der vielfältigen Erschwerungen aller traditionellen Lektüreweisen – in gewisser Hinsicht könnte man Müllers Schreiben selbst als Revolution der Lektüre bezeichnen – erscheint es hilfreich und sinnvoll, zunächst danach zu fragen, was sich denn überhaupt in der gegebenen Anordnung lesen läßt: In der ersten der drei Szenen lassen sich hier mehrere Themenkomplexe unterscheiden, die im Rahmen der gelesenen Rede, die mit der Zuschreibung “Mein Name ist…” (34) beginnt, auftauchen:

Der Autor Lessing, der im dargestellten Augenblick so alt ist wie der darstellende Autor Heiner Müller im Jahr der Niederschrift: 47 Jahre alt. Diese Affinität, die schwerlich als Zufall bezeichnet werden kann, da es für sie keine weitere Motivation im Text gibt, weist auf eine Merkwürdigkeit des Textes hin, gerade wenn man ihn im Kontext Foucaults und der Zerreißung der Photographie des Autors in der ein Jahr später veröffentlichten, zeitgleich bereits konzipierten und geschriebenen „Hamletmaschine“ zu lesen versucht: Im Moment des proklamierten Tods des Autors, seines Verschwindens oder seiner Entlarvung als Ordnungsinstanz, Texteffekt, bzw. phantasmatisches oder metaphysisches “Dahinter”[14] fällt Müllers Blick in der Auseinandersetzung mit Lessing – und die Manuskripte verdeutlichen dies noch – weniger auf dessen Schreiben, die textimmanenten Fragen und Probleme, als vielmehr auf dessen Leben – die kurze Ehe und den lakonischen Kommentar zum Tod der Ehefrau, die Stieftochter, die ihm das Haus führt, die subalterne Tätigkeit als Bibliothekar, seinen traumlosen Schlaf. Das so zutage gebrachte Konglomerat von Anekdoten, aus denen sich, wie die Biographen suggerieren, eine Lebensgeschichte zusammensetzt, verschwindet dann jedoch gleichsam im Wechselspiel der Schriften und wird zudem unscharf durch die Überblendung mit Müllers phantasiertem Lessing, dessen Züge wiederum von Müllers eigener Lebensgeschichte überlagert sind.

Müllers Lebensgeschichte: Sie wird vor allem durch das Selbstzitat aus Müllers Text “Todesanzeige” (34)[15] ins Spiel gebracht, der wiederum den Freitod seiner ersten Frau Inge Müller umschreibt, doch erweist sich bei näherer Betrachtung eine ganze Reihe von Themen des Lessing-Monologes der ersten Szene als Spiegelung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen Müllers in solchen Lessings: Angefangen bei der Tätigkeit des dramatischen Schreibens über den Traum vom Theater in Deutschland, das öffentliche Nachdenken über die Erfahrung mit der Ankündigung neuer Zeitalter, die Müller im nationalsozialistischen Deutschland nach 33 und erneut in der DDR machte, bis hin zur Erfahrung der Erstickung durch Glorifikation – nicht zuletzt verweist die Lessing-Szene auf Müllers Ehrung mit dem Lessing-Preis 1977.

– Das Gegenbild Brecht durch die bereits erwähnten Motive der Selbstvorstellung, der Sterbelehre und des Einverständnisses, im übrigen aber auch durch eine Vielzahl brechtischer Gesten, die zu diesem Zeitpunkt schon so sehr zu Müllers eigenen geworden sind, daß sie nicht mehr als Verweise auffallen: Die Literarisierung des Theatertextes durch projizierte Titel, die Auslassungen, der Rückbezug auf barocke und andere vormoderne Schreibweisen und Theaterformen, speziell auf christliche Folien, die Anspielung auf die von Brecht als “Gruselmärchen”[16] bezeichneten Zwischenspiele des “Schweyk”, auf die Müller vielleicht mit der Bezeichnung “Greuelmärchen” (9) hindeutet, usw.

– Das 18. Jahrhundert: “Lessings” Aufzählung dessen, was sein Leben ausgemacht hat, versammelt eine Art von Querschnitt durch dieses Jahrhundert – das Jahrhundert, in dem in einer Art von “Sattelzeit” (Koselleck)[17] die Moderne, Deutschland und sein Nationaltheater, das “Projekt”, die mit einem Telos verbundene Idee einer Universalgeschichte etc. aufkamen, die hier von ihrem Ende her, mit Kälte und Mitleid gleichermaßen betrachtet werden.

An weiteren Punkten, die hier nicht weiter ausgeführt werden, seien erwähnt:

Das Leiden des Intellektuellen an einem erniedrigenden Beruf, die Frauen und die Nicht-Beziehung des Dramatikers zu ihnen, das Vergessen und die Debatte.

Der zweite Teil der Lessing-Szene erweitert diese Themenvielfalt durch den Konflikt der Welten und der Zeiten, die Simultaneität von Lessings 18. Jahrhundert und der USA einer Endzeit. Ähnlich wie in “Quartett” (laut vorangestellter Szenenanweisung) die Handlung in einen Salon vor der französischen Revolution und zugleich in einen Bunker nach dem 3. Weltkrieg verlegt wird[18], konstruiert Müller hier als Punkt der Begegnung zwischen dem “LETZTEN PRÄSIDENTEN DER USA” (35) und Lessing einen nirgendwo anders als in seiner fiktiven Szene gelegenen Ort und eine ebensolche Zeit. Wie die “Hamletmaschine” enthält auch diese Szene einen Verweis auf ein anderes Zeitalter, das nicht länger dasjenige des Menschen, sondern eher das der Maschine ist. Und allen drei – und noch einer ganzen Reihe von weiteren – Stücken ist eine gewissermaßen doppelte Zeitordnung gemein: Einer bekannten, wenngleich ihrerseits in vielerlei Hinsicht gebrochenen Zeitvorstellung, wie sie im 18. Jahrhundert entworfen worden ist und noch in der Gegenwart die alltägliche Vorstellungswelt bestimmt, wird die einer anderen Zeit oder eines anderen der Zeit entgegengesetzt, am deutlichsten in der aus Topoi montierten Schlußpassage dieser Szene.[19] Zwischen den zwei in Versalien gesetzten Passagen, mit denen die Szene anfängt und endet, stehen, eingerahmt von Szenenanweisungen, zwei Zitate – aus “Emilia Galotti” und “Nathan dem Weisen” (35/36) – die gleichzeitig “rezitiert” werden sollen: Die Bitte der Tochter um den Dolch sowie die Ermahnung Lessings zur Toleranz. Eingerahmt von einer mit jeder traditionellen Theatervorstellung unvereinbaren Inszenierung wird hier also der Theatertradition ein Platz eingeräumt: Als Zitat, das, einem Bild im Bild gleich, eine Vergangenheit vorführt. Wenn Müller seine Schreibweise den surrealistischen Collageromanen Max Ernsts vergleicht[20], so kann man dies an dieser Stelle besonders gut nachvollziehen: Inmitten eines mit keiner bekannten Theaterkonvention und -tradition faßbaren, spielbaren, inszenierbaren Textes taucht das Zitat der Anfänge einer im weiteren Sinne klassischen oder kanonischen deutschen Theatertradition auf, und es wirkt, aufgrund der Tatsache, daß, wie es zweimal heißt, rezitiert werden soll, in seinem Traditionalismus nicht weniger fremd als die Rahmung, in der es steht.

Diese Szene, bzw. dieser Teil der Szene, wird von Müller in besonders vielen Manuskripten untersucht, variiert, immer anders montiert. Dabei enthalten die Manuskripte einerseits weitergehende Kommentare, Ausführungen, Pointierungen – Nathan, als den “alten Narr, der Auschwitz nicht wahrhaben wollte”, “Nathan in Auschwitz”[21], Lessing an der Stelle Nathans als inzestuösen Vater, der mit seiner Tochter die Maske tauscht, kommentiert durch die Sätze “young girl (child) fucks old man destruction of future (represented by young ones)”[22]. Was dergestalt aber weiter ausgeführt wird, ist im Text des Stückes nicht, bzw. nicht mehr zu lesen. Es fehlt oder ist als mögliche – und bloß mögliche – Lektüre eingewandert in die parataktische Reihung der drei Verben “entkleiden umarmen töten” (36). – Zum anderen gibt es später verschwundene Motive wie dasjenige von Blumenkindern mit Maschinenpistole[23].

Man kann in dieser Szene entlang der Manuskripte Müller gleichsam beim Proben zusehen, mit ihm die verschiedenen Varianten eines Motivs durchgehen – des Maskentauschs und der damit verbundenen Handlung, des Geschlechtertauschs, des Inzests, der Vernichtung der Zukunft oder wie immer man auf den Begriff will, was hier eigentlich passiert. Und man kann konstatieren, daß er offensichtlich in diesen Varianten im Durchgang durch die immer wieder neu aufgeschriebene, leicht variierte Konstellation in einander weitgehend gleichenden Sätzen ganz allmählich zu jener Lakonie findet, die seinen Texten im Moment ihrer Publikation eignet: Zum Moment äußerster Verdichtung, höchster Potentialität. Diese Verdichtung soll hier pars pro toto in der Lektüre des folgenden dritten, kürzesten Teils der Szene nachvollzogen werden, der überschrieben ist AApotheose spartakus ein fragment@. Die Szene wird hier im Kontext einer Reihe von Handschriften aus dem Konvolut 3394 betrachtet.[24]

Exkurs: Zum Lesen von Müllers Manuskripten

An dieser Stelle sind einige Vorbemerkungen notwendig: Die Manuskripte stellen ganz offensichtlich Varianten der Szene dar, es findet sich immer wieder der Verweis auf den Schrei, auf Spartakus, auf die Apotheose, auf Lessing, dem im Sand eine Lessingbüste übergestülpt wird. Wie allgemein bei Müllers Manuskripten fällt die Datierung, gar eine Ordnung, die eine Textgenese verfolgbar machen würde, dagegen schwer. Vermutlich ist sie unmöglich. Vom Blick auf die Notizen könnte man sich wie von der Betrachtung der Skizzen und Detailzeichnungen, die ein Maler für ein bestimmtes Bild gemacht hat, die Lösung dessen versprechen, was im fertigen Text ungelöst, aporetisch, konfliktreich bleibt, oder auch nur einen Aufschluß darüber, wie bestimmte, emblematisch wirkende Worte oder Wendungen im veröffentlichten Stücktext zu verorten, zu erklären, zu kontextualisieren wären. Lesen wir etwa vom Adumpfen Schrei@ in der Szene, so finden wir in den Manuskripten verschiedene Angebote einer Präzisierung, bzw. einer Deutung: So legt ein Manuskript Müllers einerseits nahe, daß es sich um einen lautlosen Schrei handelt, ausgestoßen von einem, der geknebelt wurde, andererseits liest man dort: Athe dead cry / crying / on unfullfilled / promises of history etc.@[25], Es wird hier also ein gleichsam geschichtsphilosophisch grundierter Schrei der Toten gesetzt, derjenige, zu dem der Mund des Benjaminschen Engels der Geschichte geöffnet ist[26], auf den Müller bekanntlich immer wieder zurückkam – in Texten, im- und expliziten Verweisen, nicht zuletzt immer dann, wenn er von der Befreiung oder Auferstehung der Toten spricht, von Aliberation of the dead@[27]. Zugleich betont dabei die Nähe von Schreien und Weinen die Nähe von Wut, Trauer und Mitleid in diesem Schrei, entfaltet also gleichsam die Konnotationen des Schreiens. Auf einem anderen Manuskriptblatt wird der Schrei wie im Stücktext mit dem Attribut Adumpf@ versehen, wobei nun darauf verwiesen wird, daß dieser Schrei aus dem AInnern der Maske/Büste@ komme.[28]Dabei steht, mit etwas räumlichem Abstand, tiefer auf dem Blatt plaziert, Asounds like song@[29]. Aus dem Knebel ist hier also die Büste als Knebelung geworden – zugleich wird die Szene dabei als eine zunächst noch der zweiten eingeschriebene deutlich, wenn die Elemente, die den Text der dritten konstituieren werden, bruchlos übergehen in Motivketten, die später in der zweiten und/oder anderen Stücken, etwa in der AHamletmaschine@, auftauchen: Diejenige der Maschine, des Autofriedhofs, Charles Mansons und Lautréamonts. Wir können uns also hier vor Augen führen, daß sich im Schreibprozeß Müllers ein Text gleichsam aus dem anderen heraus entwickelt, in ihm in gewisser Hinsicht potentiell enthalten ist. Auf einem anderen Blatt erscheint ein Acry@ als derjenige von AG. Bruno@ und Lessing dabei im Kontext des Streits mit Goeze.[30]Der Schrei kann hier in Verbindung gebracht werden mit der dabei erwähnten ABeschimpfungstirade@, erscheint also als poetische Verdichtung der begnadeten Polemiken Lessings, von denen sich heutigen Lesern, die die Anlässe nicht mehr kennen, nur noch Witz und Furor der Reaktion Lesings mitteilen. Wieder auf einem anderen Blatt erscheint der Acry@ als Verweis in Klammern und wird dabei in den Kontext einer Zerstörung der Lessingmaske gestellt, wobei es danach heißt, Aweil sie angewachsen ist (no face under m.)@[31] – der Schrei erscheint also hier als eine Art von Korrelat zu einer Leere an der Stelle, an der man etwas wie das wahre Gesicht, den Ursprung, die Natur, die Authentizität, den echten Lessing, erwarten würde. – Alle diese Manuskriptblätter könnten also möglicherweise bewirken, daß man nach ihrer Lektüre Bescheid zu wissen glaubt. Doch dies ist eine Illusion, denn Fakt bleibt, daß Müller im Text, den er veröffentlicht, nichts anderes als den Adumpfen Schrei@ aus der Bronze erwähnt – ohne Motivierung, ohne Erklärung, ohne daß ein Rahmen oder eine weitere Aufladung die Potenzierung des Sinns eindämmte.

Was immer wir aus der Betrachtung des Schreibprozesses in die Lektüre und Interpretation des veröffentlichten Textes mitnehmen, es kann dort nicht mehr und nicht weniger als unterstüztendes Indiz einer Argumentation zum Text werden, die vom veröffentlichten Material ihren Ausgang nimmt. Alles andere käme einer Negierung dieses Materials in der Einzigartigkeit seiner Anordnung gleich, wäre ein hermeneutisch fragwürdiges Verfahren. Seine Fragwürdigkeit läge in der Entmündigung des Autors wie auch in der Enthistorisierung des Textes. Dieser wurde so – mit allen seinen Fehlern und kontingenten Elementen (man könnte dabei etwa an die zweifache Schreibweise des ASpartakus@ mit k und c denken) – an einem bestimmten Zeitpunkt veröffentlicht, so, und nicht anders. Aus diesem nicht weiter auflösbaren, kontingenten, aber nicht beliebigen Moment des Erscheinens ergeben sich die Aporien der Unendlichkeit des Lesens (das, nimmt man diesen Moment ernst, nicht länger von einer letzten Versicherung durch Autor, Intention, Kontext, usw. begrenzt wird) wie der Uneinholbarkeit des singulären, und bei aller Singularität doch nicht in einer Zeitleiste zu verortenden Moments der Autorisierung.

Wenn nun einerseits der Illusion des besseren Verstehens entgegenzutreten ist, so muß doch andererseits auch die ihr verschwisterte Haltung zurückgewiesen werden, man könne durch den Blick auf die Manuskripte keinerlei relevante Erkenntnis für die Lektüre des veröffentlichten Textes gewinnen. Diese Haltung wird nicht selten damit begründet, man könne doch auch ohne jede Voraussetzung zu lesen beginnen. Tatsächlich aber gibt es natürlich kein voraussetzungsloses Lesen. Immer wird irgendein Kontext gebildet und einer stillschweigend vorausgesetzt. Die Manuskripte, die den veröffentlichten Text nicht dort erläutern können, wo er bewußt lücken läßt, sind als Texte, die sich aus den selben Quellen, dem selben Interesse, dem selben Material speisen wie der veröffentlichte Text, Bausteine einer potentiell intensiveren Auseinandersetzung mit dem, was in Müllers veröffentlichten Texten zutagetritt. Ihre Nicht-Veröffentlichung zu Lebzeiten und ihre Nicht-Zerstörung zu Lebzeiten und danach sind gleichermaßen zu bedenken. Sie stoßen den Leser auf die Frage, was überhaupt lesen heißt, wo es beginnt, wo es endet.

(3) Der dritte Teil

Als dritten Teil der letzten Szene von Leben Gundlings findet man den folgenden Text:

Projektion
Apotheose spartakus ein fragment
Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt. Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind, schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen, während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befrein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei. Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern).[32]

Der von Müller veröffentlichte dritte Teil ist nach der Kleist-Szene die zweite stumme Szene des Stückes. Sie setzt sich lediglich aus drei Schriften zusammen: “Projektion” in Standardschrift, eine Regieanweisung für die stumme, gestische Szene in kursiver Schrift, dazwischen in Versalien “Apotheose Spartakus ein Fragment”. Im Titel wird hier ein bemerkenswertes Projekt Lessings aufgegriffen, dessen fragmentarisch gebliebener “Spartacus”, den er zunächst am 16. Dezember 1770 erwähnt und als “antityrannische() Tragödie” ankündigt, danach ein zweites Mal im Jahr 1771 – also noch bevor er sich der Ausarbeitung seiner Emilia Galotti zuwendet – mit dem Hinweis darauf, daß das Stück wohl noch fertig werde, bevor man ein Nationaltheater in Deutschland habe.[33]Einige Seiten der Überlegungen zum Stück und erste kurze Textpassagen, die Lessing zur Zeit der brieflichen Zeugnisse niedergeschrieben haben dürfte, werden erstmals 1786, in Lessings “Theatralischem Nachlaß” veröffentlicht.[34] Leisewitz spekuliert in eben dem Brief an Lichtenberg vom 25. Februar 1781, aus dem Müller zu Beginn des ersten Lessing-Teils das erstaunliche Zitat über Lessings traumlosen Schlaf zitiert, daß man unter den nachgelassenen Papieren Lessings “vielleicht etwas von einem Spartacus und Nero” finden werde.[35]

Was Müller an Lessings “Spartacus” interessiert haben dürfte, scheint auf den ersten Blick leicht zu beantworten: Der rebellische römische Sklave thrakischer Herkunft, der den 3. römischen Sklavenkrieg anführte und dabei mit seinen zuletzt vermutlich 60 000 Anhängern mehrere römische Heere in verschiedenen Teilen Italiens schlug, bevor ihn schließlich Crassus in Lukanien schlug, wurde ab dem 11. November 1918 Namenspatron des früheren äußersten linken Flügel der SPD, der am 1. Januar 1916 von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und dem “Lessing-Legenden”-Autor Franz Mehring gegen den Burgfrieden der SPD als “Gruppe Internationale” konstituiert worden war und zunächst durch illegal erscheinende “Spartakusbriefe” in Erscheinung trat. Das von Rosa Luxemburg verfaßte Spartakusprogramm entwarf im Gegensatz zur bolschewistischen Konzeption Lenins einen demokratischen Kommunismus. Als Spartakusaufstand wurden die Massendemonstrationen der Berliner Arbeiter am 5./6. Januar 1919 bezeichnet, die von Freikorps blutig niedergeschlagen wurden, wobei auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Mit diesem Mord, so Müller später häufig in Interviews, begann das Jahrhundert der Konterrevolution, die Tragödie einer nicht ausgeweiteten, bloß russischen Revolution, einer Revolution in einem noch nicht industrialisierten Land. Kaum denkbar, daß Müller nicht bei der Lektüre des Namens Spartakus sofort diesen Kontext, diese Assoziation oder diese Konnotation vor Augen hatte, eine andere Tradition des Kommunismus, die, hätte sie sich durchgesetzt, vielleicht einen anderen Verlauf der Geschichte ermöglicht, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindert hätte.

Um Müllers Geste in der letzten Szene Gundlings, die den Namen Spartakus evoziert, zu begreifen, ist es nützlich, sich vor Augen zu halten, wie Rolf Hochhuth die Tatsache bewertete, daß Lessing einen Spartacus schrieb. “(…) ein Spartacus sozusagen programmatisch als Gründungs-Drama unsrer Klassik”, so Hochhuth, „hätte schon zwei Jahrhunderte lang die Sicht unserer ganzen Nation auf die Geschichte und ihre Antreiber und Getriebenen radikal geändert.”[36] Diese Einordnung greift auf bezeichnende Weise zu kurz: Sie vergißt, daß die Herausbildung des klassischen deutschen Theaters und der klassischen Deutschen Literatur nicht abgelöst werden können von den mit ihr abgebrochenen anderen Traditionen, für die zum Teil dieselben Dichter stehen, zum Teil andere, wie Lenz, Klinger oder Leisewitz. Der Lessing, der sich nicht für die Emilia Galotti und den Nathan und damit gegen Spartacus entschieden hätte, wäre schwerlich jener Lessing geworden, der eine Nationaltheatertradition begründen konnte, die sich bis in die Gegenwart hinein gegen andere Ansätze des Theaters, der Nation und der Tradition behauptet. Dies, so meine Hypothese, die ich nun noch ausführen möchte, ist es, was Müller in der Schlußszene des Gundling-Stückes vor Augen führt.

Wer Lessings Notizen zum “Spartacus”-Stück liest, der stößt dort auf einige bekannte Züge von dessen Schreiben und Denken. Lessing stützt sich auf die klassischen lateinischen Quellen, interpretiert sie aber auf eine für das 18. Jahrhundert typische Weise neu, indem er mitbedenkt, was es heißt, daß diese Quellen von den siegreichen Römern verfaßt wurden, also von Vertretern jener Sklavenhaltergesellschaft, gegen die Spartakus ins Feld zog. Müller erwägt auf einem seiner Manuskripte folgerichtig, ob man nicht Lessings Verfahren als Befreiung der Toten in Benjamins Sinne begreifen könnte – als Trauerarbeit, die nach den Spuren der fragmentarischen Geschichte der Unterdrückten in der kontinuierlichen Geschichte der Unterdrücker sucht.[37]Lessing notiert, daß er aus seiner Quelle, der Erzählung des Florus, “wenig oder nichts brauchen” könne. Denn: “Er spricht mit einer Verachtung von meinem Helden, die fast lächerlich ist;”[38] Er wägt Satz für Satz ab, was Florus vorbringt, um seine Verachtung des Sklavenführers zu entfalten, und deutet die dabei überlieferten Fakten um. Für Lessing, so wird aus seinen Entwürfen deutlich, ist die in seiner Zeit ja immer noch geläufige Ansicht, daß Sklaven, wie er Florus paraphrasiert “eine zweite Gattung von Menschen, quasi secundum hominum genus” seien, undenkbar.[39] Lessing ist Spartakus wie etwa dem Autoren der frühesten Dramatisierung des Stoffes, Bernard Joseph Saurin (1760) Freiheitsheld, und dies in einem emphatischen Sinne, der weit über die politischen Verhältnisse der Zeit hinausweist: “Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen”, läßt er Spartacus fragen, “die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?”[40]

Betrachtet man genauer, wie Lessing in den wenigen überlieferten Textpassagen des Stückes Spartacus auftreten läßt, so wird deutlich, daß im Zentrum seiner Konstruktion des antiken Spartacus die Überzeugung steht, daß es sich dabei um das handelt, was er als natürlichen Menschen begreift:

Bei den Göttern – bei Gott! du bist
Ein außerordentlicher Mann! das bist du, Spartacus!
Spartacus: Da seht, wie weit ihr seid, ihr Römer! daß
Ihr einen schlichten, simplen Menschen müßt
Für einen außerordentlichen Mann erkennen.
Ich bin sehr stolz; und dennoch überzeugt,
Daß ich kein beßrer Mensch bin, als wie sie die Natur,
Zu Hunderten – täglich stündlich, aus den Händen wirft.[41]

Daß dieser “natürliche Mensch” tatsächlich eine historische Erscheinung des 18. Jahrhunderts ist[42], geht nicht zuletzt aus den Charakterzügen hervor, mit denen Lessing ihn und seinen Gegenspieler Crassus versieht: Wo Spartakus die universalistischen Ideale der Aufklärung vertritt und zeittypisch als bürgerlicher Held[43] den Platz einnimmt, der in früheren Tragödien und Trauerspielen dem Adel vorbehalten war, da erweist sich Crassus insofern als Aristokrat des 18. Jahrhunderts, als es Lessing nicht ausreicht, daß Crassus Sklavenhalter und Vertreter der römischen Staatlichkeit ist, er muß darüber hinaus auch noch als Wüstling, d.h. als im Sinne des Bürgertums verwerfliches, weil die bürgerliche Keimzelle der Familie[44]verratendes Subjekt gezeichnet werden: “Ich erdichte, daß Crassus ehedem eine Frau aus Lucanien gehabt, von der er sich aber scheiden lassen, um eine reichere zu heiraten. Die Geschiedne hat von ihm eine Tochter, welche in den Händen des Spartacus ist.”[45] Crassus wird im übrigen als Geizkragen gekennzeichnet, der sich nicht an Abmachungen hält. Die Sklavenhaltergesellschaft des Stückes ist mit anderen Worten die Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, Spartacus eine Variante Nathans oder Tellheims. Gleichwohl geht er darin nicht auf, es bleibt ein mit dem Universalismus des 18. Jahrhundert inkommensurabler Rest von Anti-Bürgerlichkeit, der sich etwa in seiner Ablehnung des “Philosophierens” erkennen läßt – “es macht mich lachen”[46] – oder eben in der zitierten Aussage zur Sklaverei. Er ist inmitten der Herausbildung des bürgerlichen Theaters und der bürgerlichen Literatur ein Wesensverwandter der in Lessings abgeschlossenen Stücken aus dem Rahmen fallenden Radikalen, etwa des Al Hafis aus “Nathan der Weise”.

Was sich im Spartacus-Fragment und in der skizzierten Figur des Spartacus demnach ankündigt, ist einerseits die Möglichkeit einer anderen Literatur- und Theatergeschichte, andererseits aber auch der verschüttete Anfang eines anderen jeder Geschichte, wo diese Geschichte sich in der Tradition der Überlieferung sieht, ein nicht länger zu einer geschlossenen Geschichte zusammensetzbares „Bruchstück“[47], eine unfüllbare Leerstelle, die auf die Stummheit der Sklaven aller Zeiten in der Überlieferung verweist. Daß Lessing diesen anderen Anfang weder ausführen, noch ihm zu einem Platz in klassischer Literatur und klassischem Theater verhelfen konnte, läßt einsichtig werden, weshalb Müller die auf einem Manuskriptblatt zu findende Zuordnung “liberation of the dead by L.”[48] mit einem Fragezeichen versieht, und Lessing zum Teil eines durch und durch ambivalenten Schlußtableaus, eines bewegten Bildes, macht.[49]

Dieses Bild zeigt Lessing als Ausgrabenden eines Torsos, von dem eine Hand, ein Arm zum Vorschein kommt, übersetzt also gewissermaßen Lessings die Überlieferung gegen den Strich bürstende Quellenlektüre in ein Graben im Sand. Dieses Graben wird durch Bühnenarbeiter, also durch das eintretende Personal des Theaters, das sich als Theaterpublikum ausgibt und das Ausgegrabene neuerlich zuschüttet, sowie durch Kellner, welche die Bühne zum Museum machen, das mit Büsten vollgestellt wird, unterbrochen, konterkariert, verhindert, abgebrochen. Keines der Manuskripte geht in der Deutung dieses Teils des Bildes sehr viel über den abgedruckten Text hinaus. Gleichwohl verrät ein verworfener Entwurf, demzufolge Spartakus mit “Guevara”-Maske ausgestattet sein sollte[50] wie auch die Einbettung der Szene in Überlegungen zu den Verbrecher- und Terroristenfiguren Charles Manson und Ulrike Meinhof, daß Müller Spartakus in dieser Nähe sah: Verbrecher, Terrorist, Revolutionär, also im Grunde mit den drei Attributen ausgezeichnet, die auch Fatzer und den asozialen Hooligans des Brechts der späten 20er-Jahre zukommen.[51] Fatzer taucht ebenfalls auf einem Gundling-Manuskript auf. Spartakus war in gewisser Hinsicht für Müller also eine Lessingsche Variante des Asozialen, bzw. desjenigen, dessen Asozialität die Asozialität der herrschenden Verhältnisse zum Vorschein bringt, andere Verhältnisse einklagt durch eine nicht weiter positivierbare Rebellion gegen die bestehenden. Um sich Figuren wie dieser zu entledigen, beruft sich jenes Theater, das durch den Lessing der “Emilia Galotti” und des “Nathans” begründet wurde, auf ein Publikum, das im Zweifelsfall tatsächlich immer bereits vom Apparat des Theaters selbst vertreten wird, das bekannt ist, bevormundet, repräsentiert wird. Über die Kommentierung einer der Müller interessierenden abgebrochenen Linien der deutschen Literatur, eines der geschichtsträchtigen Fragmente hinaus wird hier also ein autoreferentieller Kommentar zum Theater als einer Institution gegeben, über die Müller zur Zeit der “Gundling”-Niederschrift notiert: “In unseren alten (überkommenen, geerbten) + neuen Theatergebäuden muß man vielleicht noch spielen, weil sie so viel gekostet haben, schreiben (Wirklichkeit beschreiben) kann man für sie nicht mehr.”[52]

Ein letzter Aspekt des Bildes und des Titels erscheint mir erklärungsbedürftig – gerade im Vergleich zu weniger uneindeutigen Varianten in den Handschriften und Typoskripten zur Szene: Es wird hier letztlich nicht länger klar, wonach hier eigentlich gegraben wird: Nach dem Torso des Spartakus oder nach demjenigen Lessings? Und ebensowenig wird deutlich, ob wir es mit einem Fragment Müllers am Ende seines Stückes zu tun haben oder vielmehr mit dem Kommentar eines Fragments von Lessing. Beide Unklarheiten zusammen deuten nun aber, wie mir scheint, auf einen anderen, weder hier noch in irgendeinem der von mir studierten Manuskripte erwähnten Text, der eine Identifikation Lessings mit Spartacus vornimmt: Auf Herders Besprechung der ersten vollständigen Ausgabe von Lessings Schriften. Sie endet mit den Worten: “Noch sind mir, sagte er, in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgülitg gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten, aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewisen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte.” Seine erste Jugendrede (1743)”, so fährt Herder nach diesem Lessing-Zitat fort, “handelte von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern; in Ansehung seiner Erwartungen scheint er dieser Jugendphilosophie zeitlebens treu geblieben zu sein. Kurz, das Trauerspiel “Spartacus”, das er uns auf der Bühne nicht geben konnte, hat er uns durch seinen Lebenslauf gegeben.”[53]

Daß dieser “natürliche Mensch” tatsächlich eine historische Erscheinung des 18. Jahrhunderts ist[54], geht nicht zuletzt aus den Charakterzügen hervor, mit denen Lessing ihn und seinen Gegenspieler Crassus versieht: Wo Spartakus die universalistischen Ideale der Aufklärung vertritt und zeittypisch als bürgerlicher Held[55] den Platz einnimmt, der in früheren Tragödien und Trauerspielen dem Adel vorbehalten war, da erweist sich Crassus insofern als Aristokrat des 18. Jahrhunderts, als es Lessing nicht ausreicht, daß Crassus Sklavenhalter und Vertreter der römischen Staatlichkeit ist, er muß darüber hinaus auch noch als Wüstling, d.h. als im Sinne des Bürgertums verwerfliches, weil die bürgerliche Keimzelle der Familie[56]verratendes Subjekt gezeichnet werden: “Ich erdichte, daß Crassus ehedem eine Frau aus Lucanien gehabt, von der er sich aber scheiden lassen, um eine reichere zu heiraten. Die Geschiedne hat von ihm eine Tochter, welche in den Händen des Spartacus ist.”[57] Crassus wird im übrigen als Geizkragen gekennzeichnet, der sich nicht an Abmachungen hält. Die Sklavenhaltergesellschaft des Stückes ist mit anderen Worten die Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, Spartacus eine Variante Nathans oder Tellheims. Gleichwohl geht er darin nicht auf, es bleibt ein mit dem Universalismus des 18. Jahrhundert inkommensurabler Rest von Anti-Bürgerlichkeit, der sich etwa in seiner Ablehnung des “Philosophierens” erkennen läßt – “es macht mich lachen”[58] – oder eben in der zitierten Aussage zur Sklaverei. Er ist inmitten der Herausbildung des bürgerlichen Theaters und der bürgerlichen Literatur ein Wesensverwandter der in Lessings abgeschlossenen Stücken aus dem Rahmen fallenden Radikalen, etwa des Al Hafis aus “Nathan der Weise”.

Was sich im Spartacus-Fragment und in der skizzierten Figur des Spartacus demnach ankündigt, ist einerseits die Möglichkeit einer anderen Literatur- und Theatergeschichte, andererseits aber auch der verschüttete Anfang eines anderen jeder Geschichte, wo diese Geschichte sich in der Tradition der Überlieferung sieht, ein nicht länger zu einer geschlossenen Geschichte zusammensetzbares „Bruchstück“[59], eine unfüllbare Leerstelle, die auf die Stummheit der Sklaven aller Zeiten in der Überlieferung verweist. Daß Lessing diesen anderen Anfang weder ausführen, noch ihm zu einem Platz in klassischer Literatur und klassischem Theater verhelfen konnte, läßt einsichtig werden, weshalb Müller die auf einem Manuskriptblatt zu findende Zuordnung “liberation of the dead by L.”[60] mit einem Fragezeichen versieht, und Lessing zum Teil eines durch und durch ambivalenten Schlußtableaus, eines bewegten Bildes, macht.[61]

Dieses Bild zeigt Lessing als Ausgrabenden eines Torsos, von dem eine Hand, ein Arm zum Vorschein kommt, übersetzt also gewissermaßen Lessings die Überlieferung gegen den Strich bürstende Quellenlektüre in ein Graben im Sand. Dieses Graben wird durch Bühnenarbeiter, also durch das eintretende Personal des Theaters, das sich als Theaterpublikum ausgibt und das Ausgegrabene neuerlich zuschüttet, sowie durch Kellner, welche die Bühne zum Museum machen, das mit Büsten vollgestellt wird, unterbrochen, konterkariert, verhindert, abgebrochen. Keines der Manuskripte geht in der Deutung dieses Teils des Bildes sehr viel über den abgedruckten Text hinaus. Gleichwohl verrät ein verworfener Entwurf, demzufolge Spartakus mit “Guevara”-Maske ausgestattet sein sollte[62]wie auch die Einbettung der Szene in Überlegungen zu den Verbrecher- und Terroristenfiguren Charles Manson und Ulrike Meinhof, daß Müller Spartakus in dieser Nähe sah: Verbrecher, Terrorist, Revolutionär, also im Grunde mit den drei Attributen ausgezeichnet, die auch Fatzer und den asozialen Hooligans des Brechts der späten 20er-Jahre zukommen.[63]Fatzer taucht ebenfalls auf einem Gundling-Manuskript auf. Spartakus war in gewisser Hinsicht für Müller also eine Lessingsche Variante des Asozialen, bzw. desjenigen, dessen Asozialität die Asozialität der herrschenden Verhältnisse zum Vorschein bringt, andere Verhältnisse einklagt durch eine nicht weiter positivierbare Rebellion gegen die bestehenden. Um sich Figuren wie dieser zu entledigen, beruft sich jenes Theater, das durch den Lessing der “Emilia Galotti” und des “Nathans” begründet wurde, auf ein Publikum, das im Zweifelsfall tatsächlich immer bereits vom Apparat des Theaters selbst vertreten wird, das bekannt ist, bevormundet, repräsentiert wird. Über die Kommentierung einer der Müller interessierenden abgebrochenen Linien der deutschen Literatur, eines der geschichtsträchtigen Fragmente hinaus wird hier also ein autoreferentieller Kommentar zum Theater als einer Institution gegeben, über die Müller zur Zeit der “Gundling”-Niederschrift notiert: “In unseren alten (überkommenen, geerbten) + neuen Theatergebäuden muß man vielleicht noch spielen, weil sie so viel gekostet haben, schreiben (Wirklichkeit beschreiben) kann man für sie nicht mehr.”[64]

Ein letzter Aspekt des Bildes und des Titels erscheint mir erklärungsbedürftig – gerade im Vergleich zu weniger uneindeutigen Varianten in den Handschriften und Typoskripten zur Szene: Es wird hier letztlich nicht länger klar, wonach hier eigentlich gegraben wird: Nach dem Torso des Spartakus oder nach demjenigen Lessings? Und ebensowenig wird deutlich, ob wir es mit einem Fragment Müllers am Ende seines Stückes zu tun haben oder vielmehr mit dem Kommentar eines Fragments von Lessing. Beide Unklarheiten zusammen deuten nun aber, wie mir scheint, auf einen anderen, weder hier noch in irgendeinem der von mir studierten Manuskripte erwähnten Text, der eine Identifikation Lessings mit Spartacus vornimmt: Auf Herders Besprechung der ersten vollständigen Ausgabe von Lessings Schriften. Sie endet mit den Worten: “Noch sind mir, sagte er, in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgülitg gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten, aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewisen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte.” Seine erste Jugendrede (1743)”, so fährt Herder nach diesem Lessing-Zitat fort, “handelte von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern; in Ansehung seiner Erwartungen scheint er dieser Jugendphilosophie zeitlebens treu geblieben zu sein. Kurz, das Trauerspiel “Spartacus”, das er uns auf der Bühne nicht geben konnte, hat er uns durch seinen Lebenslauf gegeben.”[65]

Was Müller in seinem Schlußbild, in einer barocken Schauspielen entliehenen Schluß-Apotheose, letztlich zu zitieren scheint, ist diese Identifikation von Lessing und Spartacus: Lessing selbst, der andere Lessing, der nach Spartacus sucht, scheint für Müller gewesen zu sein, was Spartacus für Lessing war, eine zu rettende, gegen die siegreichen Gegner neu zu entdeckende, und dabei von dem her neu zu beleuchtende Figur, woran die herrschende Geschichte und Ideologie keinerlei Interesse haben konnte. Wenn vom Spartacusautor Lessing gleichwohl letztlich nicht mehr bleibt als ein Schrei, so vielleicht deshalb, weil der andere Lessing des Spartacus letzten Endes so stumm blieb wie Spartacus selbst, eine Figur, die nicht länger mit Worten, sondern nur mit einer im traditionellen Sprechtheater über dieses hinausweisenden Geste zu erfassen war, in der Gestalt eines Fragments, das in seiner fragmentarischen Form ein anderes Fragment evoziert, ohne es eloquent neuerlich zu verschütten. Der Verweis bleibt aber gebunden an eben jene Bühne, die mit ihm zugleich radikal infragegestellt wird. Er bleibt ein dumpfer Schrei aus der Büste.[66]

Daß dieser “natürliche Mensch” tatsächlich eine historische Erscheinung des 18. Jahrhunderts ist[67], geht nicht zuletzt aus den Charakterzügen hervor, mit denen Lessing ihn und seinen Gegenspieler Crassus versieht: Wo Spartakus die universalistischen Ideale der Aufklärung vertritt und zeittypisch als bürgerlicher Held[68] den Platz einnimmt, der in früheren Tragödien und Trauerspielen dem Adel vorbehalten war, da erweist sich Crassus insofern als Aristokrat des 18. Jahrhunderts, als es Lessing nicht ausreicht, daß Crassus Sklavenhalter und Vertreter der römischen Staatlichkeit ist, er muß darüber hinaus auch noch als Wüstling, d.h. als im Sinne des Bürgertums verwerfliches, weil die bürgerliche Keimzelle der Familie[69] verratendes Subjekt gezeichnet werden: “Ich erdichte, daß Crassus ehedem eine Frau aus Lucanien gehabt, von der er sich aber scheiden lassen, um eine reichere zu heiraten. Die Geschiedne hat von ihm eine Tochter, welche in den Händen des Spartacus ist.”[70] Crassus wird im übrigen als Geizkragen gekennzeichnet, der sich nicht an Abmachungen hält. Die Sklavenhaltergesellschaft des Stückes ist mit anderen Worten die Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, Spartacus eine Variante Nathans oder Tellheims. Gleichwohl geht er darin nicht auf, es bleibt ein mit dem Universalismus des 18. Jahrhundert inkommensurabler Rest von Anti-Bürgerlichkeit, der sich etwa in seiner Ablehnung des “Philosophierens” erkennen läßt – “es macht mich lachen”[71] – oder eben in der zitierten Aussage zur Sklaverei. Er ist inmitten der Herausbildung des bürgerlichen Theaters und der bürgerlichen Literatur ein Wesensverwandter der in Lessings abgeschlossenen Stücken aus dem Rahmen fallenden Radikalen, etwa des Al Hafis aus “Nathan der Weise”.

Was sich im Spartacus-Fragment und in der skizzierten Figur des Spartacus demnach ankündigt, ist einerseits die Möglichkeit einer anderen Literatur- und Theatergeschichte, andererseits aber auch der verschüttete Anfang eines anderen jeder Geschichte, wo diese Geschichte sich in der Tradition der Überlieferung sieht, ein nicht länger zu einer geschlossenen Geschichte zusammensetzbares „Bruchstück“[72], eine unfüllbare Leerstelle, die auf die Stummheit der Sklaven aller Zeiten in der Überlieferung verweist. Daß Lessing diesen anderen Anfang weder ausführen, noch ihm zu einem Platz in klassischer Literatur und klassischem Theater verhelfen konnte, läßt einsichtig werden, weshalb Müller die auf einem Manuskriptblatt zu findende Zuordnung “liberation of the dead by L.”[73] mit einem Fragezeichen versieht, und Lessing zum Teil eines durch und durch ambivalenten Schlußtableaus, eines bewegten Bildes, macht.[74]

Dieses Bild zeigt Lessing als Ausgrabenden eines Torsos, von dem eine Hand, ein Arm zum Vorschein kommt, übersetzt also gewissermaßen Lessings die Überlieferung gegen den Strich bürstende Quellenlektüre in ein Graben im Sand. Dieses Graben wird durch Bühnenarbeiter, also durch das eintretende Personal des Theaters, das sich als Theaterpublikum ausgibt und das Ausgegrabene neuerlich zuschüttet, sowie durch Kellner, welche die Bühne zum Museum machen, das mit Büsten vollgestellt wird, unterbrochen, konterkariert, verhindert, abgebrochen. Keines der Manuskripte geht in der Deutung dieses Teils des Bildes sehr viel über den abgedruckten Text hinaus. Gleichwohl verrät ein verworfener Entwurf, demzufolge Spartakus mit “Guevara”-Maske ausgestattet sein sollte[75] wie auch die Einbettung der Szene in Überlegungen zu den Verbrecher- und Terroristenfiguren Charles Manson und Ulrike Meinhof, daß Müller Spartakus in dieser Nähe sah: Verbrecher, Terrorist, Revolutionär, also im Grunde mit den drei Attributen ausgezeichnet, die auch Fatzer und den asozialen Hooligans des Brechts der späten 20er-Jahre zukommen.[76] Fatzer taucht ebenfalls auf einem Gundling-Manuskript auf. Spartakus war in gewisser Hinsicht für Müller also eine Lessingsche Variante des Asozialen, bzw. desjenigen, dessen Asozialität die Asozialität der herrschenden Verhältnisse zum Vorschein bringt, andere Verhältnisse einklagt durch eine nicht weiter positivierbare Rebellion gegen die bestehenden. Um sich Figuren wie dieser zu entledigen, beruft sich jenes Theater, das durch den Lessing der “Emilia Galotti” und des “Nathans” begründet wurde, auf ein Publikum, das im Zweifelsfall tatsächlich immer bereits vom Apparat des Theaters selbst vertreten wird, das bekannt ist, bevormundet, repräsentiert wird. Über die Kommentierung einer der Müller interessierenden abgebrochenen Linien der deutschen Literatur, eines der geschichtsträchtigen Fragmente hinaus wird hier also ein autoreferentieller Kommentar zum Theater als einer Institution gegeben, über die Müller zur Zeit der “Gundling”-Niederschrift notiert: “In unseren alten (überkommenen, geerbten) + neuen Theatergebäuden muß man vielleicht noch spielen, weil sie so viel gekostet haben, schreiben (Wirklichkeit beschreiben) kann man für sie nicht mehr.”[77]

Ein letzter Aspekt des Bildes und des Titels erscheint mir erklärungsbedürftig – gerade im Vergleich zu weniger uneindeutigen Varianten in den Handschriften und Typoskripten zur Szene: Es wird hier letztlich nicht länger klar, wonach hier eigentlich gegraben wird: Nach dem Torso des Spartakus oder nach demjenigen Lessings? Und ebensowenig wird deutlich, ob wir es mit einem Fragment Müllers am Ende seines Stückes zu tun haben oder vielmehr mit dem Kommentar eines Fragments von Lessing. Beide Unklarheiten zusammen deuten nun aber, wie mir scheint, auf einen anderen, weder hier noch in irgendeinem der von mir studierten Manuskripte erwähnten Text, der eine Identifikation Lessings mit Spartacus vornimmt: Auf Herders Besprechung der ersten vollständigen Ausgabe von Lessings Schriften. Sie endet mit den Worten: “Noch sind mir, sagte er, in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgülitg gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten, aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewisen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte.” Seine erste Jugendrede (1743)”, so fährt Herder nach diesem Lessing-Zitat fort, “handelte von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern; in Ansehung seiner Erwartungen scheint er dieser Jugendphilosophie zeitlebens treu geblieben zu sein. Kurz, das Trauerspiel “Spartacus”, das er uns auf der Bühne nicht geben konnte, hat er uns durch seinen Lebenslauf gegeben.”[78]

 

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Eine erste, kürzere Fassung dieses Beitrags erschien in: Sophia-Universität: Beiträge zur deutschen Literatur. Nummer 44, Tokyo 2007.
  2. Müller, Heiner: LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. EIN GREUELMÄRCHEN. In: Ders.: Herzstück. Berlin, Rotbuch, 1983, S. 9-40. In Klammern gesetzte Zahlen im Text verweisen nachfolgend auf diese Ausgabe. Vgl. zu den verschiedenen Ausgaben der Texte Heiner Müllers und der ihnen inhärenten Politik der Edition Barbara Hahn: Das Gesetz der Serie und das Gesetz des Werkes. Zu Heiner Müllers Projekt. In: Schulte, Christian und Brigitte Maria Mayer (Hg.): Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme. Frankfurt/M., Suhrkamp, 2004, S. 265-273.
  3. Vgl. zur Rezeption die Bibliographie in: Lehmann, Hans-Thies und Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, Metzler, 2005, S. 491 f.; außerdem Schmidt, Ingo und Florian Vaßen (Hg.): Bibliographie Heiner Müller. Bielefeld, Aisthesis, 1993 sowie Band II, Bielefeld, Aisthesis, 1996. Vgl. auch die zum Teil allerdings eher anekdotische Sammlung von Texten und Materialien zum Stück in: Storch, Wolfgang und Klaudia Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich. LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. EIN GREUELMÄRCHEN. Heiner Müller Werkbuch. Berlin, Theater der Zeit, 2007.
  4. Vgl. zu diesem häufig in der Literatur über Müller erwähnten Bezug mit Blick auf „Leben Gundlings“ insbesondere Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1992, S. 268-272, insb. S. 270-272. Vgl. auch die von Jean Jourdheuil herausgegebene Zeitschriftenausgabe: Travaux d’atelier. Foucault Mozart Müller. Théâtre/Public 176.
  5. Vgl. dazu auch Heiner Müllers Bemerkung: „Lessing hat im Kontext der Literatur- und Theatergeschichte so eine Funktion wie Brecht. Er steht am Ende einer Periode und entwirft eine neue. Er ist eine Art Wasserscheide, …“ Hier zit. nach Storch: Sire…, S. 288.
  6. Vgl. Brecht, Bertolt: Der Jasager. In: Ders.: Der Jasager und Der Neinsager. Vorlagen, Fassungen, Materialien. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Szondi. Frankfurt, Suhrkamp, 1966. Der Satz wird, wie dieser Ausgabe zu entnehmen ist, bei Brecht aus den Vorlagen übernommen, also aus Elisabeth Hauptmanns Übersetzung der englischen Übersetzung des japanischen No-Spiels „Taniko“.
  7. Vgl. zum vieldiskutierten Begriff „Einverständnis“ Verf.: „Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis“. Brecht zwischen Kafka und Carl Schmitt. In: MLN. Volume 119, No. 3, April 2004, S. 506-524.
  8. Müller dürfte auf Lautreamont und die sogenannten schwarzen Schriftsteller des Bürgertums nicht zuletzt vermittelt über Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem Sürrealismus gestoßen sein: Benjamin, Walter: Der Sürrealismus. In: Ders..: Gesammelte Schriften. Band II, 1, Frankfurt 1980, S. 295-310, insb. S. 304 f. Spuren der Lektüre dieses Textes finden sich nicht von ungefähr auch in den anderen Stücken, an denen Müller zeitgleich schreibt, etwa in „Der Auftrag“ oder in der „Hamletmaschine“.
  9. Vgl. zum Begriff der „rettenden Kritik“ Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 693-703. Vgl. dazu auch Habermas, Jürgen: Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins. In: Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1972, S. 173-224.
  10. Vgl. speziell die Paratexte, die sich in der ersten Variante der Mahagonny-Oper finden: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Oper in drei Akten von Brecht. Musik von Kurt Weill. Wien, Leipzig 1929.
  11. Vgl. Müller, Heiner: Die Hamletmaschine. In: Ders.: Mauser. Berlin, Rotbuch, 1978, S. 89-97.
  12. Eine entsprechende Deutung legt nicht zuletzt eine Notiz nahe, die sich in den Manuskripten zum Stück findet: “Lessings Schlaf – was in dem Schlaf für Träume kommen mögen”. (Vgl. das Manuskriptblatt 3394/5 im Heiner Müller-Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Manuskriptblätter aus diesem Archiv werden im folgenden nach dem Schema zitiert: HMA Archivnummer, Erste Zeile des Manuskriptblatts oben links.)
  13. Diese Kennzeichnung stammt von einem Studenten Müllers in San Diego. Vgl. Müller: Krieg ohne Schlacht, a.a.O., S. 286.
  14. Vgl. speziell Foucault, Michel: Qu’est-ce qu’un auteur? in: Bulletin de la Société française de Philosophie. Juillet-septembre 1969. Die deutsche Ausgabe des Textes erschien 1974.
  15. Vgl. Müller, Heiner: Todesanzeige. In: Ders.: Germania Tod in Berlin. Berlin, Rotbuch, 1977, S. 31-34.
  16. Vgl. Brecht, Bertolt: Schweyk (im zweiten Weltkrieg). In: Knust, Herbert (Hg.): Materialien zu Bertolt Brechts ASchweyk im zweiten Weltkrieg@. Frankfurt 1974, S. 171.
  17. Vgl. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Frankfurt/M., 6. Auflage, 1989.
  18. Heiner Müller: Quartett. In: Ders.: Herzstück, a.a.O., S. 71-90, hier S. 71.
  19. Vgl. zur Zeitvorstellung bei Heiner Müller Verf.: Gestensammlung und Panoptikum. Zur Messianizität in Heiner Müllers Bildbeschreibung. In: Haß, Ulrike (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin, Theater der Zeit, 2005, S. 144-157.
  20. Vgl. Müller: Krieg ohne Schlacht, a.a.O., S. 269.
  21. HMA 3394, Büsten der Klassiker.
  22. HMA 3394, Lessing + d. Inzest.
  23. HMA 3394, sex.
  24. Vgl. HMA 3394, Lessings Schl. / Tr. / Schr.; HMA 3394, (Lessgs) Apotheose; HMA3394 + old testament; HMA 3394, ‚engbrüstig‘ – halb erstickt; HMA 3394 in diesem stehenden Sumpf; HMA 3394, Apotheose Looks.
  25. Vgl. HMA 3394, Lessing Schl. / Tr. / Schr
  26. Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX, a.a.O., S. 697 f.
  27. Vgl. z.B. HMA 3394 (Lessgs) Apotheose; HMA 3394 Apotheose looks.
  28. Vgl. ebd.
  29. Ebd.
  30. Vgl. HMA 3394, ‚engbrüstig – halb erstickt‘.
  31. Vgl. HMA 3394, Kopf zuschnüren mit Ärmeln v. Uniform
  32. A.a.O., 36 f.
  33. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Spartacus. In: Ders.: Werke. Bd. 2, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971, S. 574-577 sowie den dazugehörigen Kommentar, dem ich hier folge. (Ebd. 788 f.) Müllers Kenntnis des Lessingschen Plans läßt sich einem Manuskriptblatt entnehmen (HMA 3394 Apotheose), auf dem zu lesen ist: „trying to finish Spart.“ und „this is Spartacus _ 1 Fragment“; vgl. auch HMA 3394 + old testament (Jakob), wo es heißt: „Lessg. arbeitend an Spartacus“;
  34. Vgl. ebd.
  35. Zit. nach Daunicht, Richard: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München, Fink, 1971, S. 563. Vgl. den Verweis auf dieses Buch auf HMA 3402, HiB + UM.
  36. Vgl. Hochhuth, Rolf: „…erst kommt das Fressen“! Postulate ans Drama zur Jahrtausendwende. Hier zit. nach: http://festspielfreunde.at/deutsch/dialoge2001/07_Hochhuth.pdf, abgerufen am 3. 10. 2007.
  37. Vgl. HMA 3394, Lessing Schl. / Tr. / Schr. und HMA 3394 Apotheose looks
  38. Lessing: Spartacus, a.a.O., S. 574.
  39. Vgl. ebd. Erst mit der Aufklärung entsteht im 18. Jahrhundert eine Anti-Sklavereibewegung. 1792 verbietet Dänemark, 1807 Großbrittannien die Sklaverei. 1815 wird ein gemeinsamer europäischer Beschluß erlassen. In den karibischen Besitzungen Frankreichs wurde 1794/1848 die Sklaverei abgeschafft, in den spanisch sprechenden Gebieten in der 1. Hälfte des 19. Jh., im brit. Kolonialreich ab 1833, in den dänischen Kolonien 1848, in den niederländischen Kolonien 1863 und in Brasilien 1888. (Vgl. Meyers großes Taschenlexikon. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, BI-Taschenbuchverlag, 5. Auflage 1995, Band 20, S. 213 f.) Nicht von ungefähr greift Müller die Frage der Sklaverei, die er hier und in den Gundlingmanuskripten nicht weiter berücksichtigt und verfolgt, wenig später in “Der Auftrag” auf, einem Stück, das er zur Zeit der Arbeit an „Gundling“, wie auf den Manuskripten zu findende Listen der avisierten Stücke verraten, bereits plant und vermutlich zum Teil auch schon bearbeitet. Vgl. Müller, Heiner: DER AUFTRAG ERINNERUNG AN EINE REVOLUTION. In: Ders.: Herzstück. A.a.O., S. 43-70
  40. Lessing: Spartacus. A.a.O., S. 576. Vgl. zur Geschichte der „Spartacus“-Varianten im 18. Jahrhundert auch Fick, Monika: Fragmente: Tragische Süjets. In: Dies.: Lessing-Handbuch. Stuttgart, Weimar 2000, S. 273-278, hier 278.
  41. Lessing: Spartacus. A.a.O., S. 576.
  42. Vgl. zum Phantasma des natürlichen Menschen im 18. Jahrhundert: Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris, Les èditions de Minuit, 1967. Außerdem Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. und Basel, Stroemfeld, 2000.
  43. Vgl. zur Figur des bürgerlichen Helden: Schlaffer, Heinz: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt/M., Suhrkamp, 3. Auflage 1981.
  44. Vgl. Aries, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien regime. Paris, Seuil, 1973. Kittler, Friedrich: Dichter Mutter Kind. München, Fink, 1991.
  45. Lessing: Spartacus. A.a.O., S. 575.
  46. Ebd. S. 576.
  47. Vgl. zur Definition des Bruchstückes in Absetzung vom romantischen Fragment, das aller Gebrochenheit zum trotz immer noch auf eine Totalität hin orientiert ist: Lacoue-Labarthe, Philippe und Jean-Luc Nancy: The literary absolute. The theory of literature in German Romanticism. New York, State University of New York Press, 1988, S. 57 f.
  48. HMA 3394, Apotheose looks.
  49. Die Bezeichnung „Bild“ verweist hier auf die für Müller wichtige Definition des „Bildes“ in Walter Benjamins fragmentarisch gebliebenen „Passagen-Werk“: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. (…) Nur dialektische Bilder sind echte (…) Bilder; und der Ort, an dem man sie antriftt, ist die Sprache.“ Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1982, S. 576 f.
  50. Vgl. HMA 3393 Freunde reden lautlos..
  51. Vgl. Brecht, Bertolt: Fatzer. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10, Frankfurt/M. und Berlin, Suhrkamp und Aufbau, 1997, S. 387-529. Ders.: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer. Bühnenfassung von Heiner Müller. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1994. Benjamin, Walter: Bert Brecht. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II, 2, a.a.O., S. 660-667, insb. S. 665. Müller, Heiner: Fatzer + Keuner. In: Ders.: Material. Hg. von Frank Hörnigk. Leipzig, Reclam, 1990, S. 30-36. Vgl. auch Verf.: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus’. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/M. und Basel 2002, S. 411-474.
  52. HMA 3392, LEBEN GUNDLINGS..
  53. Herder, J.G.: Von der vollständigen Ausgabe Lessingscher Schriften. Was ein Jüngling aus und an ihm zu lernen habe. In: Ders.: Briefe zur Beförderung der Humanität. Nr. 112. 9. Sammlung. 1797. http://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/forschung/litkritik/litkritik/start.htm?/institut/igerman/forschung/litkritik/litkritik/Rezensionen/AufEmpf/TbHerder2ko.htm, abgerufen am 4. 10. 2007.
  54. Vgl. zum Phantasma des natürlichen Menschen im 18. Jahrhundert: Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris, Les èditions de Minuit, 1967. Außerdem Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. und Basel, Stroemfeld, 2000.
  55. Vgl. zur Figur des bürgerlichen Helden: Schlaffer, Heinz: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt/M., Suhrkamp, 3. Auflage 1981.
  56. Vgl. Aries, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien regime. Paris, Seuil, 1973. Kittler, Friedrich: Dichter Mutter Kind. München, Fink, 1991.
  57. Lessing: Spartacus. A.a.O., S. 575.
  58. Ebd. S. 576.
  59. Vgl. zur Definition des Bruchstückes in Absetzung vom romantischen Fragment, das aller Gebrochenheit zum trotz immer noch auf eine Totalität hin orientiert ist: Lacoue-Labarthe, Philippe und Jean-Luc Nancy: The literary absolute. The theory of literature in German Romanticism. New York, State University of New York Press, 1988, S. 57 f.
  60. HMA 3394, Apotheose looks.
  61. Die Bezeichnung „Bild“ verweist hier auf die für Müller wichtige Definition des „Bildes“ in Walter Benjamins fragmentarisch gebliebenen „Passagen-Werk“: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. (…) Nur dialektische Bilder sind echte (…) Bilder; und der Ort, an dem man sie antriftt, ist die Sprache.“ Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1982, S. 576 f.
  62. Vgl. HMA 3393 Freunde reden lautlos..
  63. Vgl. Brecht, Bertolt: Fatzer. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10, Frankfurt/M. und Berlin, Suhrkamp und Aufbau, 1997, S. 387-529. Ders.: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer. Bühnenfassung von Heiner Müller. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1994. Benjamin, Walter: Bert Brecht. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II, 2, a.a.O., S. 660-667, insb. S. 665. Müller, Heiner: Fatzer + Keuner. In: Ders.: Material. Hg. von Frank Hörnigk. Leipzig, Reclam, 1990, S. 30-36. Vgl. auch Verf.: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus’. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/M. und Basel 2002, S. 411-474.
  64. HMA 3392, LEBEN GUNDLINGS..
  65. Herder, J.G.: Von der vollständigen Ausgabe Lessingscher Schriften. Was ein Jüngling aus und an ihm zu lernen habe. In: Ders.: Briefe zur Beförderung der Humanität. Nr. 112. 9. Sammlung. 1797. http://www.phf.uni-rostock.de/institut/i german/forschung/litkritik/litkritik/start.htm?/institut/igerman/forschung/litkritik/ litkritik/Rezensionen/AufEmpf/TbHerder2ko.htm, abgerufen am 4. 10. 2007.
  66. Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der zitierten Sätze aus den Manuskripten danke ich Brigitte Maria Mayer, der Akademie der Künste, Berlin, sowie dem Suhrkamp-Verlag.
  67. Vgl. zum Phantasma des natürlichen Menschen im 18. Jahrhundert: Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris, Les èditions de Minuit, 1967. Außerdem Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. und Basel, Stroemfeld, 2000.
  68. Vgl. zur Figur des bürgerlichen Helden: Schlaffer, Heinz: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt/M., Suhrkamp, 3. Auflage 1981.
  69. Vgl. Aries, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien regime. Paris, Seuil, 1973. Kittler, Friedrich: Dichter Mutter Kind. München, Fink, 1991.
  70. Lessing: Spartacus. A.a.O., S. 575.
  71. Ebd. S. 576.
  72. Vgl. zur Definition des Bruchstückes in Absetzung vom romantischen Fragment, das aller Gebrochenheit zum trotz immer noch auf eine Totalität hin orientiert ist: Lacoue-Labarthe, Philippe und Jean-Luc Nancy: The literary absolute. The theory of literature in German Romanticism. New York, State University of New York Press, 1988, S. 57 f.
  73. HMA 3394, Apotheose looks.
  74. Die Bezeichnung „Bild“ verweist hier auf die für Müller wichtige Definition des „Bildes“ in Walter Benjamins fragmentarisch gebliebenen „Passagen-Werk“: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. (…) Nur dialektische Bilder sind echte (…) Bilder; und der Ort, an dem man sie antriftt, ist die Sprache.“ Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1982, S. 576 f.
  75. Vgl. HMA 3393 Freunde reden lautlos..
  76. Vgl. Brecht, Bertolt: Fatzer. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10, Frankfurt/M. und Berlin, Suhrkamp und Aufbau, 1997, S. 387-529. Ders.: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer. Bühnenfassung von Heiner Müller. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1994. Benjamin, Walter: Bert Brecht. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II, 2, a.a.O., S. 660-667, insb. S. 665. Müller, Heiner: Fatzer + Keuner. In: Ders.: Material. Hg. von Frank Hörnigk. Leipzig, Reclam, 1990, S. 30-36. Vgl. auch Verf.: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus’. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/M. und Basel 2002, S. 411-474.
  77. HMA 3392, LEBEN GUNDLINGS..
  78. Herder, J.G.: Von der vollständigen Ausgabe Lessingscher Schriften. Was ein Jüngling aus und an ihm zu lernen habe. In: Ders.: Briefe zur Beförderung der Humanität. Nr. 112. 9. Sammlung. 1797. http://www.phf.uni-rostock.de/institut/ igerman/forschung/litkritik/litkritik /start.htm?/institut/igerman/forschung/litkritik/litkritik/Rezensionen/AufEmpf/TbHerder2ko.htm, abgerufen am 4. 10. 2007.